Rutz | Über Deutschland | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Rutz Über Deutschland

Abstieg oder Aufbruch?

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-451-81645-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Über Deutschland gibt es viel zu sagen und zu diskutieren. Was ist deutsch? Worauf fußt ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl? Was ist die tiefer liegende Identität der Menschen in Deutschland? Was vermittelt die Muttersprache dem Menschen? Welche Rolle muss die Wirtschaft ausfüllen? Dieser Band versammelt die unterschiedlichen Perspektiven auf unser Land und so kommen der Historiker, der ausländische Freund und ehemalige Botschafter, der Christ, die Literatin und der Manager zu Wort. Sie alle haben ihre eigene Sicht der Dinge, es eint sie die Verbundenheit mit Deutschland und die Sorge um dieses Land und seine Zukunft.

Mit Beiträgen von Ulla Hahn, Christian Kullmann, Johann-Michael Möller, Herfried Münkler, Avi Primor, Michael Rutz, Thomas Sternberg und Rüdiger von Voss.
Rutz Über Deutschland jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Herfried Münkler

Deutschland – die zerrissene Mitte Europas
Eine politische, geografische und kulturelle Erkundung
»So kam ich unter die Deutschen«, beginnt der Briefschreiber in Friedrich Hölderlins Hyperion seine Klage über das Land in der Mitte Europas, das von ihm mit den Augen eines Fremden in gleichsam ethnografischer Distanz beschrieben wird. »Ich kann kein Volk mir denken«, so seine Beobachtung, »das zerrißener wäre, wie die Deutschen«.1 Legt man die Konstellationen des späten 18. Jahrhunderts zugrunde, als Hölderlins Briefroman entstand, so könnte die Vermutung naheliegen, dass der Schreiber damit die politischen Konstellationen im Zentrum des politisch in den letzten Zügen liegenden Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation gemeint hat: Die in den Revolutionskriegen noch einmal geschwächte kaiserliche Zentralgewalt, die diversen Staaten im Reich, die eine weitgehend selbständige Politik gegenüber den Mächten außerhalb des Reichs betrieben; den sich verschärfenden Gegensatz zwischen Anhängern und Gegnern der aus Frankreich nach Deutschland übergreifenden Revolution, der die einen zu Freunden und die anderen zu Feinden Frankreichs werden ließ – kurzum all das, was Hölderlins Tübinger Stiftsgenosse Georg Wilhelm Friedrich Hegel einige Jahre später zu der dezidierten Feststellung kommen ließ, Deutschland sei »kein Staat mehr«.2 Politische Kämpfe und idealisierende Überhöhungen
Doch von all dem ist im Bericht des Hölderlinschen Briefschreibers nicht die Rede. In einer überraschenden Wendung beschäftigt sich Hyperion mit der berufsständischen Ordnung in Deutschland, die, so seine Beobachtung, alle Energie und Aufmerksamkeit der Menschen binde und sie davon abhalte, an der Ausbildung ihres Menschseins zu arbeiten. »Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinanderliegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?«3 Nicht machtpolitische Fragen, so Hölderlins Vorstellung, sind von der Revolution in Frankreich auf die politische Tagesordnung der Deutschen gesetzt worden, sondern es geht um die Verwirklichung bürgerschaftlicher Humanität und humaner Bürgerschaftlichkeit, eines Ideals, wie es die drei Tübinger Freunde Hölderlin, Hegel und Schelling einige Jahre zuvor in ihrem Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus in die Welt der antiken Sittlichkeit zurückprojiziert hatten.4 Es war dies eine Welt, in der nicht privater Reichtum, sondern das Gemeinwohl aller im Mittelpunkt menschlichen Tuns stand, und insofern war die Verwirklichung des Menschseins gleichbedeutend mit der Betätigung als Bürger. So jedenfalls stellten es sich die drei Tübinger vor. Sie nahmen an, mit dem Ausbruch der Revolution in Frankreich habe das große Vorhaben einer Wiedergewinnung dieser antiken Sittlichkeit begonnen. Die Kämpfe in Frankreich waren für sie keine Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Ständen und Schichten der französischen Gesellschaft, in denen es darum ging, wer welchen Einfluss auf die Ausgestaltung der politischen Verhältnisse hatte, sondern ein Projekt der Zurücknahme, jedenfalls Unbedeutsammachung gesellschaftlicher Unterschiede und Gegensätze sowie der Schaffung einer Gemeinschaft freier Bürger, die als Ermöglicher einer ungehemmten Entwicklung des Menschen dienen sollte. Aus diesem Blickwinkel heraus waren die Verhältnisse in Deutschland mit ihren ausgeprägt berufsständischen Ordnungen, in denen die Zugehörigkeit zu einer Schicht und einer Berufsgruppe darüber entschied, wer man war, das Gegenteil dessen, was die Revolution in Frankreich in der Sicht der drei Tübinger zu verwirklichen versprach. Wohl kaum eine Gruppe hat in die Französische Revolution und ihre Ergebnisse größere Erwartungen gesetzt als die Intellektuellen in Deutschland, nicht nur die Tübinger Stiftler Hegel, Hölderlin und Schelling, sondern auch die Brüder Schlegel, dazu Schiller und Fichte sowie viele andere. Selbst nicht in die politischen Kämpfe verwickelt, sondern sie von außen beobachtend und kommentierend, luden sie die Revolution mit Vorstellungen auf, wie sie die Praktiker des revolutionären Kampfes in Paris wohl kaum zu denken wagten. Zwar spielte auch bei einigen von ihnen, namentlich bei Robespierre und St. Just, die Antike eine gewisse Rolle, insbesondere die Idee der Bürgertugend als Voraussetzung einer stabilen Republik,5 doch so weitreichende Vorstellungen, wie die vom Verschwinden des Staates als Zwangsanstalt infolge einer Versittlichung der Menschen, lag außerhalb ihrer politischen Vorstellungen. Gänzlich involviert in die politischen Kämpfe, in denen sie ihre Ziele und Interessen zur Geltung bringen wollten und dafür Sorge tragen mussten, dass sie dabei nicht selbst unter die von ihnen in Betrieb genommene Guillotine gerieten, hatten sie weder den Sinn dafür noch die Gelegenheit dazu, ihrem Tun eine Perspektive zu verleihen. Diese lief auf die Überwindung von Arbeitsteilung und eine in jeder Hinsicht freie Entwicklung des Menschen hinaus, also auf das Ende jeder gesellschaftlichen Zerrissenheit, nicht nur der politischen, sondern auch der sozialen. Das Gefühl der Zerrissenheit Deutschlands kam bei den deutschen Intellektuellen nicht so sehr durch die Beobachtung der Nachbarn auf, sondern war vor allem eine Folge dessen, dass sie dort nach Ansätzen für die Verwirklichung von Idealen Ausschau hielten, an denen sie anschließend die deutschen Verhältnisse maßen und an denen orientiert sie die deutschen Verhältnisse umgestalten wollten. Aber völlig abgehoben und idealistisch im Sinne von weltfremd waren die Verfasser des Ältesten Systemprogramms auch nicht, denn sie hatten einen klaren Blick dafür, dass die Ordnung der überkommenen societas civilis in Deutschland an einer berufsständischen Struktur hing, bei der über die Tätigkeit der Betreffenden die gesellschaftliche Ungleichheit festgeschrieben wurde; und sie hatten erkannt, dass die Revolution in Frankreich im Begriff stand, das zu ändern. Dieses Projekt hat Hölderlin im Hyperion aufgenommen, aber er hat es nicht auf die Herstellung bürgerlicher Gleichheit durch die Überwindung ständischer Schranken begrenzt wissen wollen, sondern es mit der Realisierung eines Ideals verbunden, mit dem ein grundlegend neues Kapitel der Menschheitsgeschichte aufgeschlagen wurde. Die Franzosen haben eine Revolution gemacht, mit deren Folgen sie sich noch lange beschäftigen sollten – nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, ob sich das politische Experiment der Revolution für sie gelohnt hatte oder ob es vielleicht besser gewesen wäre, darauf zu verzichten und dem Gang der Geschichte seinen Lauf zu lassen.6 Alexis de Tocqueville etwa ist in Der alte Staat und die Revolution zu dem Ergebnis gelangt, die Revolution habe nur Entwicklungen beschleunigt, die ohnehin in Gang waren, und insofern habe sie sich nicht gelohnt.7 Die Deutschen hingegen – wenn es denn erlaubt ist, die hier genannten Intellektuellen stellvertretend für die Nation zu nehmen – haben der von ihnen beobachteten Revolution einen weltpolitischen Sinn verliehen, an dem gemessen sich die tatsächlichen politischen Ereignisse schon bald als klein und unbedeutend erweisen sollten: An der ihr zugewiesenen welthistorischen Aufgabe konnte die reale Revolution nur scheitern bzw. mit einer bitteren Enttäuschung enden. Die Verarbeitung dieser Enttäuschung wiederum führte bei den anfänglich revolutionsbegeisterten Intellektuellen zu Spaltungslinien, in denen sich die beklagte Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft bis ins Lager der Intellektuellen hinein verlängerte. Auf der einen Seite standen die, denen die französischen Ereignisse nur der Anfang einer unaufhaltsamen weltgeschichtlichen Veränderung waren, so dass Revolution auf Revolution folgen werde, bis das große welthistorische Ziel endlich erreicht sei. Karl Marx und Friedrich Engels sind die bekanntesten und bedeutendsten von denen, für die die Revolution zum Signum der Epoche wurde. Und auf der anderen Seite stehen jene, denen die Revolution und deren Ergebnisse ein unwiderleglicher Beweis dafür waren, dass alle revolutionären Bestrebungen mit äußerster Entschlossenheit unterbunden werden mussten und nichts wichtiger war als die Errichtung einer Ordnung, die gegen revolutionäre Veränderungen immun war. Sie wurden zu Vordenkern des Konservativen bis Reaktionären. Dazwischen lassen sich eine Fülle von Vermittlungsideen ausmachen, unter anderem die Hegels, wonach die Geschichte mit der Französischen Revolution und ihrer Bändigung durch Napoleon bzw. den durch sie erzwungenen preußischen Reformen an ihr Ende gekommen sei, dass es nichts wesentlich Neues und Umstürzendes mehr geben werde und es also darauf ankomme, das Erreichte in eine gute und stabile Form zu bringen.8 Francis Fukuyama hat diese Idee nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Blick auf die liberale Demokratie wieder aufgenommen und zu einiger Prominenz gebracht.9 Man kann die deutschen Reaktionen auf das Ereignis der Französischen Revolution noch weiter differenzieren, dabei davon ausgehend, dass die Beschäftigung mit diesem Ereignis mehr zum deutschen Selbstverständnis beigetragen hat als die...


Michael Rutz, geb. 1951, ist politischer Journalist und war u.a. Chefredakteur des Fernsehsenders SAT.1 und der Wochenzeitung Rheinischer Merkur. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Fernsehfilme.

Herfried Münkler, Politikwissenschaftler, Lehrstuhl für Theorie der Politik an der Humbold-Universität zu Berlin.
Thomas Sternberg, geb. 1952, Dr., Dr., Direktor des Franz-Hitze-Hauses in Münster, Lehrbeauftragter für Kunst und Liturgie an der Universität Münster. Er ist Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

Dr. phil., Schriftstellerin und Lyrikerin, Hamburg; soeben wurde sie mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis 2018 der Hamburger Autorenvereinigung ausgezeichnet.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.