Salzborn | Sozialwissenschaften zur Einführung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: zur Einführung

Salzborn Sozialwissenschaften zur Einführung

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: zur Einführung

ISBN: 978-3-96060-020-6
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der Sammelbegriff Sozialwissenschaften umfasst eine Reihe von Einzeldisziplinen, wie Politikwissenschaft und Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaft, Ethnologie, Cultural Studies und Geschlechterforschung. Sie sind verbunden durch ihren Gegenstand: das Soziale. Aber was genau ist „das Soziale"? Der Band diskutiert diese Frage unter erkenntnistheoretischen und methodologischen Gesichtspunkten – was verbinden, was trennt die Sozialwissenschaften? Dabei werden die großen wissenschaftstheoretischen Debatten (Werturteilsstreit, Methodendiskussion, Positivismusstreit) dargestellt, alle wesentlichen Schulen der Sozialwissenschaften (vom Universalismus bis zum Poststrukturalismus, von der Kritischen Theorie bis zur Systemtheorie, vom Konstruktivismus bis zum Kritischen Rationalismus, von den Handlungstheorien bis zum Postkolonialismus) vorgestellt und entlang von Schlüsselbegriffen (Macht/Herrschaft, Staat/Gesellschaft, Interesse/Konflikt, Sozialisation/Geschlecht, Religion/Kultur) die zentralen Kontroversen der Sozialwissenschaften diskutiert.
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Inhalt:

Einleitung: Was sind Sozialwissenschaften?

I. Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften: Historische Entwicklungen
1. Die Entstehung der Sozialwissenschaften
2. Sozialwissenschaften in der Selbstfindung: Politisch, neutral, wertfrei, intervenierend?
3. Kultur, Sprache, Geschlecht: Revisionen scheinbarer Gewissheiten
4. Quantifizieren, qualifizieren, theoretisieren? Die Rückkehr der Methodologie

II. Sozialwissenschaftliche Metatheorien: Die Systematik
5. Normative Ansätze
6. Empirische Ansätze
7. Kritische Ansätze

III.Sozialwissenschaftliche Grundbegriffe in der Diskussion
8. Macht und Herrschaft
9. Staat und Gesellschaft
10. Interesse und Konflikt
11. Sozialisation und Geschlecht
12. Religion und Kultur

Anhang: Anmerkungen; Literatur; Personenregister; Über den Autor


1. Die Entstehung der Sozialwissenschaften
Die Vorgeschichte der Entstehung der Sozialwissenschaften lässt sich eingrenzen auf die Makroepoche der Frühen Neuzeit von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, die ihren Ausgangspunkt in etwa im Augsburger Religionsfrieden von 1555 und ihren Endpunkt in der Französischen Revolution von 1789 hatte (vgl. Schwan 1991: 157). Geistesgeschichtlich ist diese Zeit geprägt durch den Humanismus und die Aufklärung, politisch durch ein langsames Bröckeln absolutistischer Ordnungssysteme und einen Wandel von ihrer höfischen zu einer aufgeklärten Organisation, religiös durch die Reformation und damit die Spaltung des Christentums. Es handelte sich um eine Zeit epochaler Umbrüche in Europa, in der die christliche Religion ihre Rolle als geistiger Rahmen für die philosophische Interpretation der Welt einbüßte, ohne damit allerdings den Glauben aus der Welt verschwinden zu lassen. Politisch lässt sich dies auf den Begriff der Säkularisierung bringen, (religions-)philosophisch auf den des Deismus. Das »Monopol auf Heilsvermittlung« (Korte 2006: 18) fiel, die christliche Religion verlor mit der Französischen Revolution, in den Worten von Alexander Schwan (1991: 158), ihre »offizielle, bis dahin noch immer privilegierte Stellung als geistig-politische Legitimations- und Sanktionsmacht für das staatliche Leben; sie wird mit den alten politischen Mächten entthront.« An ihre Stelle trat, erkenntnistheoretisch, ein auf Erfahrungen, Skeptizismus und Wahrscheinlichkeitsannahmen gegründetes Wissenschaftsverständnis, für das die Namen Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei, Johannes Kepler und Isaac Newton stehen und welches das mittelalterliche Weltbild im unmittelbarsten Sinn aus den Angeln hob, indem es scholastische und neoaristotelische Annahmen mit einem neuen, vor allem naturwissenschaftlich begründeten Rationalismus konfrontierte (vgl. Cohen 1994; Crombie 1995). Aber die naturwissenschaftlichen Vorstellungen, besonders der Physik (Mechanik) und der Biologie (Anatomie), hatten auch unmittelbaren Einfluss auf die Bilder der politischen Welt, die in der Frühen Neuzeit entstanden und sinnbildlich etwa in der Körpermetaphorik des Leviathan von Thomas Hobbes (1651) und der Metapher von der »unsichtbaren Hand« bei Adam Smith (1776) oder den natur(rechts)philosophischen Legitimierungen menschlichen Handelns bei David Hume (1739/40) oder Samuel Pufendorf (1672) ihren Niederschlag fanden. Entscheidend war die Entstehung eines Bewusstseins von der Subjekthaftigkeit des Menschen, die ihn im Prozess der Aufklärung zu einem sozialen und politischen Akteur machte. Besonders René Descartes (1641) forcierte mit seiner Betonung des Zweifels als methodischem Erkenntnisprinzip auf der Suche nach dem Fundament der Wahrheit menschlichen Seins eine erkenntnistheoretische Reflexion des Subjekts, die es durch Denken und Begreifen (ego cogito) in die Lage des Erkennens seiner sebst als Subjekt versetzt: »Die Wahrheit der Welt wird jetzt nicht mehr verstanden als Unverborgenheit des Kosmos (Antike) oder als gegründet in der Offenbarung Gottes (biblisches Christentum) – also als Geschehen, die der Mensch empfängt, sofern er für sie aufnahmebereit ist. Sondern Wahrheit ist seit Descartes die Gewißheit, die sich der Mensch selbst von einer Sache, den Dingen und der Welt im Ganzen verschafft.« (Schwan 1991: 159) Damit wurde zwar Gott (noch) nicht im Sinne des Atheismus infrage, aber eben doch in Abrede gestellt, dass Gott unmittelbar und fortwährend Einfluss auf das menschliche Leben, die Entwicklungen der menschlichen Geschichte oder überhaupt auf die Beziehungen der Menschen untereinander nimmt. Die philosophischen Überlegungen, die auf Descartes aufbauten (wie jene Baruch de Spinozas, Gottfried Wilhelm Leibniz’ oder Immanuel Kants), zogen zwar die Existenz Gottes und seine Rolle als Schöpfer der Welt und der Menschen nicht in Zweifel, hinterfragten aber seine Beweisbarkeit und leiteten aus diesem Skeptizismus die erkenntnistheoretische Konsequenz ab, dass – ganz gleich, ob Gott existiert oder nicht – seine Funktion lediglich in der Schöpfung und der aus ihr resultierenden Logik gesehen werden könne. Weil Gott ebenso wenig unmittelbaren Einfluss auf das Leben und Handeln des Menschen habe wie auf die konkrete Konstituierung menschlicher Vernunft und damit den Menschen als in Denken und Handeln autonomes Subjekt (vgl. Schwan 1991: 161 f.), ergebe sich daraus aber keinerlei Konsequenz für das Leben der Menschen im Diesseits. Der methodologische Blick auf das menschliche Zusammenleben, der hier philosophisch vom scholastischen Postulat emanzipiert wurde, fand in der empirischen Wende des Blicks auf das Politische durch Niccolò Machiavelli (1513; 1531) auch eine handlungspraktische Revision, die in der funktionalen Orientierung auf Macht und Erfolg (und nicht auf Ethik und Moral) bestand. Im Prozess der Zurückdrängung des allumfassenden Erklärungsanspruchs der Religion durch die Philosophie der Aufklärung nahmen die Naturwissenschaften den Platz von göttlicher Vorsehung und göttlichen Gesetzen ein. Der Glaube wurde durch das empirisch Mess- und Beobachtbare ersetzt. Die vor allem im 18. Jahrhundert zu erheblicher Bedeutung gelangten Berichte von überseeischen Reisen, die Darstellungen und Systematisierung der Erfahrungen in der »Neuen Welt« und die Konfrontation mit »anderen« Lebensrealitäten prägten aber zugleich auch ein Bild einer in »quasi-natürliche Entitäten« (Lentz 1995: 58) differenzierten Menschheit. Denn die wahrnehmbaren Differenzen in der Entwicklung der Gesellschaften wurden nicht etwa historisch erklärt, sondern »unter Rückgriff auf natürliche Gesetzmäßigkeiten« (ebd.) begriffen. Es entstand ein Bild des Andersseins von Menschen, das zudem zu Klassifizierungen und Hierarchisierungen führte: »Die traditionelle Auffassung, daß es sich in der Aufklärung um eine Phase westlicher Geschichte gehandelt habe, in der humanistische und universalistische Verhaltensdoktrien entwickelt wurden, ist durchaus gerechtfertigt, aber Humanismus und Universalismus galten explizit oder implizit nur für weiße, wohlhabende und gebildete Männer.« (Ebd.: 61) Die Ausprägung und Fortentwicklung der modernen (Natur-) Wissenschaften war als »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno 1947) zudem mit der Fundierung von Ordnungssystemen ethnologischen und rassistischen Zuschnitts verknüpft: »Während das Gleichheitspostulat als universelles formuliert, jedoch nur zögerlich und partiell umgesetzt worden ist, wurden auf der ideologischen Ebene gleichzeitig auch Argumentationsmuster entwickelt, die der Legitimation von Ungleichheit dienten.« (Hentges 1999: 281) Mit der trotz dieser Ambivalenzen und Widersprüche vollzogenen erkenntnistheoretischen Wende im Menschenbild wurde der Mensch vom Objekt der Politik zu deren Subjekt, die Aufklärung begründete – in den Worten Immanuel Kants (1784: 53) – den »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«. Tradierte Denk- und Herrschaftsformen wurden kritisiert und durch eine vom Postulat der Vernunft inspirierte Weltsicht infrage gestellt. Auf der Basis von empirisch und naturwissenschaftlich motivierten Weltbetrachtungen entstand eine Kritik an Metaphysik, Religion und Aberglaube, die die mittelalterliche Herrschaft situiert hatten und nun am Vernunft- und Gleichheitspostulat gemessen wurden. Karl Marx (1844: 378) schrieb später, die Kritik der Religion, die sich im Zeitalter der Aufklärung keineswegs radikal im Sinne eines atheistischen Postulats, wohl aber nachhaltig im Sinne einer deistischen Herrschaftskritik artikuliert habe, sei die »Voraussetzung aller Kritik«. Eine politische Emanzipation der Herrschaftsverhältnisse wurde denkbar, weil die wesentlichen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen geschaffen waren. Für die Konstituierung eines »sozialen Raumes« (Bourdieu 1994) spielte dabei die Herausbildung einer modernen Vorstellung von Zeit während der Aufklärung eine zentrale Rolle. Denn die Zeit – genauer: die menschliche Herstellung einer technischen Messbarkeit der Zeit – ist die Voraussetzung für die Annahme von sozialen Differenzen, die über das Konkrete, das erreichbare und wahrnehmbare (Nah-)Umfeld, hinausgehen. Ein Nebeneffekt der Nutzung von Zeit zur einheitlichen Messung von Arbeitsquanta (vgl. Marx 1859: 15 ff.) war die Möglichkeit zu einem über die konkrete Lebensumgebung der Individuen hinausgehenden räumlichen Vergleich. Entgegen der vorkapitalistischen, religiös dominierten Zeitauffassung (»messianische Zeit«), in der Vergangenheit und Zukunft in einer unmittelbaren Gegenwart zusammenfielen, entstand im Gefolge der Aufklärung eine Vorstellung von »homogener und leerer Zeit« (Benjamin 1977: 258), die nicht durch Präfiguration und Erfüllung gekennzeichnet war, sondern durch eine mittels Uhr und Kalender messbare zeitliche Deckung und die »Vorstellung eines sozialen Organismus, der sich bestimmbar durch eine homogene und leere Zeit bewegt« (Anderson 1996: 33). Die damit entstehende Vorstellung von historischer Zeit schuf die Wahrnehmung von verschiedenen Ereignissen, die zum...


Samuel Salzborn ist Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen.


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