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E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: BALANCE Erfahrungen

Samstag Wahnsinn um drei Ecken

Eine Familiengeschichte

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: BALANCE Erfahrungen

ISBN: 978-3-86739-908-1
Verlag: BALANCE Buch + Medien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Mutter eines psychisch erkrankten Sohnes und seine Schwester erzählen gemeinsam von den Erschütterungen durch die psychischen Krisen ihres Sohns beziehungsweise Bruders. In Briefwechseln und kurzen Texten erfahren wir vom Gefühl, selbst verloren zu gehen, vom Sichkümmern, vom Herumsitzen auf psychiatrischen Stationen, von unterschwelligen Vorwürfen der Pflegekräfte, vom Schrecken und der Sprachlosigkeit angesichts der Suizidgefahr. Ein ganzes Familiengefüge bricht auseinander und wird doch wieder eins. Ein literarischer, ehrlicher Einblick in das seelische Erleben von Angehörigen.
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Zielgruppe


Empfehlenswert für Angehörige von Psychoseerkrankten: Eltern und insbesondere Geschwisterkinder, im Hilfesystem Tätige, interessierte Leser und Leserinnen.

Weitere Infos & Material


Erstes Kapitel: Schock und Ohnmacht
Verschwunden sein [Schwester]
Die größte und schlimmste Belastung kam nicht von meinem Bruder. Nicht, was er gesagt oder nicht gesagt, getan oder nicht getan hat, war so schwer auszuhalten. Auch nicht das Stigma der Krankheit oder etwa Sorge um die Reaktion »der Leute« waren mir unerträglich. Am schlimmsten war, dass ich selbst verschwand. Beim Telefonieren mit meiner Freundin klaffte in meiner Brust ein riesiges Loch. Es roch wie vermodert. Meine Mitte war schon verschwunden. Ich redete mit ihr über meine Angst. Die Selbstmordgedanken meines Bruders – zu wissen, er hatte Selbstmordgedanken – waren für mich nicht auszuhalten. Beim Atmen musste ich nach Luft schnappen. Es war, als würde die Luft in einen leeren Raum hineingesogen, der den Sauerstoff nicht halten und nicht aufnehmen konnte. In einem dunklen, leeren Loch verschwand alles, was mir Freude oder Kraft hätte geben können. Bald würde ich ganz verschwunden sein. Im Auto lehnte ich mich kraftlos gegen die Scheibe. Wenn ich hier regungslos verharrte, könnte ich das Ganze vielleicht überstehen. Ich versuchte, meine Gedanken anzuhalten. Nicht meine Uni, nicht meine Hausarbeiten, nicht meine Zukunft, nicht meine Pläne für den Abend, nicht mein Besuch bei meinen Freundinnen, nicht den Anruf bei meinem Freund, nicht meine Lieblingsmusik, keine Freude, kein Vergnügen, keinen Schmerz gab es für mich. Nur diesen Blick aus dem Auto. Ich saß auf dem Rücksitz, meine Handflächen aneinandergepresst und zwischen die Beine geklemmt. Mein Bruder, der Beifahrer, hatte seine Kopfhörer in den Ohren und sah wortlos aus dem Fenster. Meine Mutter saß am Steuer. Station [Mutter]
Ich glaube, er hieß Schulz. Als er mich das erste Mal auf der geschlossenen Station sah, kam er auf mich zu und gab mir die Hand, ohne mich anzuschauen, mit gesenktem Blick. So, wie man eine höher gestellte Person begrüßt. Vermutlich hielt er mich für eine Ärztin. Ich reagierte freundlich, und er setzte schnell seinen Weg durch den halbdunklen Flur fort. Er war etwas kleiner als ich, hatte ein rundes Gesicht, wirkte weich und harmlos. Beim Rauchen auf dem vergitterten Balkon begegneten wir ihm wieder und ich hörte ihm zu. Er sprach wie ein Wasserfall, fast ohne Luft zu holen, leise und wie eine aufgezogene Spieluhr, die Worte produziert statt Töne. Es waren lustige Aussagen dabei. Dass der Papst wie Donald Duck sei. Man brauche ihn nur anzuschauen bzw. ihm in die Augen zu sehen. Dann sehe man es: Er sei wie Donald Duck. Wann dieser Papst schon jemals einem Menschen geholfen habe, der leide. Man sehe es in seinen Augen, er sei nicht echt. Er hat diese Sätze oft wiederholt, bis meine Zigarette und die meines Sohnes zu Ende geraucht waren und wir wieder rastlos durch den Flur wanderten. Den Gang hinunter, rechts und links, vorbei an Zwei-, Drei- oder Vierbettzimmern hinter geschlossenen Türen, zwei Toiletten, zwei Arztzimmern, vorbei an der verglasten Pforte gleich beim Eingang links. Die Pfleger und Schwestern hinter der Glaswand der Pforte beachteten uns nicht. Ich bemühte mich, so zu gehen, als sei alles normal, als könne ich meine Glieder locker bewegen. Als könnte ich meinem Sohn neben mir damit signalisieren, dass das Umherwandern ein Spaziergang sei, der mir nichts ausmachte. Ich wollte nicht, dass man mir meine innere Anspannung anmerkte. Wir bogen wieder links ab, den Gang entlang zurück, rechts und links die Zimmertüren, zwei Toiletten und das Arztzimmer. Und wieder links herum, an der Wachstation, einem Zimmer mit Wachpersonal, vorbei. Und vielleicht war dann, nach zwei Runden, schon wieder Zeit, auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen, einen Schluck Wasser im Vierbettzimmer meines Sohnes zu nehmen oder eine weitere Runde zu drehen. Ich besuchte meinen Sohn täglich, er schien das zu brauchen wie ein Ertrinkender. Ein paar Tage später war Herr Schulz durch Medikamente »ruhiggestellt«. Die Notwendigkeit dazu sah ich ein, er hatte sich beim Reden aufgeregt und schien es nicht mehr steuern zu können. Er saß jetzt auf einem Stuhl auf dem Balkon und starrte vor sich hin. Es schien kaum Leben in ihm zu sein. Ich konnte ihn nicht mehr anschauen, habe weggeschaut und ihn ausgeblendet, so als wäre er nicht da. Es hätte mir sonst wehgetan. Als mein Sohn nach einigen Tagen unter Beobachtung in ein Zweibettzimmer verlegt wurde, spielte der Bettnachbar, ein kräftiger Mann, mit seiner Frau auf dem Bett sitzend Karten. Es war eine fremde Welt, in der ich mich hier bewegte. Ich war vorsichtig. »Ich werde morgen verlegt, denn Alkoholiker gehören nicht auf diese Station«, verkündete er laut und fröhlich. Ich nickte mechanisch und wusste nicht, wie ich das einordnen sollte. Draußen auf dem Flur waren plötzlich laute, aggressive Schreie zu hören. Ich erschrak und mein Inneres zog sich zusammen. Diese Schreie drangen in mich ein, ich war ihnen ausgeliefert und konnte sie nicht aushalten. Als hätte ich nichts mehr, das ich diesen lauten, verzweifelten Schreien entgegensetzen konnte. Als ob sie mich erfassten und in einen Abgrund stießen. Und was machte er, der fröhliche Alkoholiker? Er lachte. Wie man über einen guten Witz lacht, ganz entspannt. Ich sah in sein Gesicht und staunte. Wie war das möglich? Darauf wäre ich nie gekommen, dass man sich in ein Lachen retten konnte! Ich war dankbar für seine Reaktion, die mir wie eine Erlösung vorkam, atmete auf und lachte einfach mit. Station [Schwester]
Ich sehe ihn an. »Bitte«, flehe ich, »lass mich hier nicht allein!« Der Satz kommt mir überzogen vor, wie aus einem Film. Doch was, wenn es entscheidend ist, ihn jetzt auszusprechen? »Ich will nicht ohne dich leben.« Dann weine ich. Andere Patienten betreten den Aufenthaltsraum, ich starre meinem Bruder noch immer in die Augen. Er wechselt das Thema und wir verlassen den Raum. Ich bin froh, dass ich es ihm gesagt habe. Ich weiß nur eine Möglichkeit, um meine Empfindungen auszudrücken: schreien. Haltloses und lautes Schreien, so lange, dass die Lungenflügel davon entlüftet würden. Aber wo soll ich schreien? Meine Mitbewohner reden über Partys und meine Kommilitonen erzählen von ihren Hausarbeiten. Das alles interessiert mich nicht mehr. Was soll ich dazu sagen? Sie sind anders als ich. Ich habe mich verändert und ich kenne keinen Weg zu ihnen zurück. Wie soll ich auch über diese Themen reden, jetzt, wo noch gar nicht alles überwunden ist? Und wie sollte ich es später, wenn ich doch weiß, dass so etwas in jedem Moment wieder passieren kann? Viel rede ich nicht mehr, aber ich lese und höre Musik. Hier gibt es Menschen, die mich verstehen. Meine Brüder und Schwestern aus vorangegangenen Zeiten sind als Vorbilder und Freunde um mich versammelt. Einige pflichten mir bei, wenn ich zweifle, andere muntern mich auf, wenn ich einsam bin. Bisweilen scheinen sie nicht greifbar, dann wieder sind sie ganz nah. Die meisten von ihnen verstehen mich und allmählich verstehe ich auch sie. Die vier Musiker meiner Lieblingsband haben mir gestern erzählt, dass auch sie dem Tod gegenüberstanden. Dass diese Erfahrung sie bereichert hat. Und dass sie nur dadurch diese Musik schreiben konnten. Profis 1 [Mutter]
Er isst nicht. Mein Sohn befindet sich auf einer geschlossenen Station. Ich bin mit ihm nachmittags im Auto unterwegs, weil ihn das ablenkt und ihm guttut. Ich mache mir Sorgen, weil er seit ein paar Tagen nichts mehr gegessen hat. Da die zuständige Ärztin gerade Sprechzeit hat, rufe ich sie spontan an. Mein Ziel ist es, sie als Stationsärztin darüber zu informieren, dass mein Sohn seit Tagen nichts isst, und zu erwirken, dass er möglichst bald Astronautennahrung bekommt. Er ist dünn und sieht nicht so aus, als hätte er körperliche Reserven. »Grüß Gott, Frau Dr. W., gut, dass ich Sie erreiche! Ich bin gerade mit meinem Sohn unterwegs, er isst seit ein paar Tagen nichts, auch heute nicht! Ich habe alles versucht, aber es ist nichts zu machen!« »Dann kaufen Sie ihm etwas, das er mag«, höre ich ihre Stimme am anderen Ende. »Das habe ich schon versucht! Aber er ...« Doch ich werde von ihr unterbrochen: »Dann holen Sie ihm doch etwas von McDonald‘s!« »Er isst sonst vieles von McDonald‘s – normalerweise. Wir waren gerade eben dort, aber er isst einfach nichts!« Meine Stimme klingt jetzt wie ein Flehen. Wie kann ich ihr verständlich machen, dass ich keinen Einfluss darauf habe, dass mein Sohn etwas isst, dass ich machtlos bin? »Dann versuchen Sie etwas, das er mag.« Ich kann es nicht fassen. Hat sie gehört, was ich gesagt habe? Es kommt nicht bei ihr an, dass ich bereits alles versucht habe. Sie meint, etwas müsse doch zu machen sein, ich solle mir etwas einfallen lassen, etwas Schmackhaftes müsse doch zu finden sein. Was kann ich ihr noch sagen, damit sie meine Ohnmacht und die Dringlichkeit zu handeln versteht? »Das funktioniert nicht!« Ich merke, dass ich lauter werde. Ihr wird es nun zu viel. Meine Hilflosigkeit kann sie nicht nachvollziehen. Vermutlich hat sie den Eindruck, dass ich übertreibe. Mütter reagieren leicht hysterisch, das kennt man ja. Sie ist nicht bereit, auf mich einzugehen. Als läge das außerhalb ihres ärztlichen Reaktionsschemas. Sie weiß, wie man als Psychiaterin Schizophrene behandelt. Aber was kann sie schon machen, wenn eine besorgte Mutter sich an sie wendet? Jetzt will sie sich nicht weiter mit der Sache befassen und das unnütze Gespräch beenden, es führt ja zu nichts. »Ich habe jetzt keine Zeit mehr, auf Wiederhören!« Ich höre das Klicken, als sie den Hörer...


Samstag, Friederike
Friederike Samstag, Philosophin, befasst sich in ihrer Doktorarbeit mit Inszenierungs- und Vollzugsformen von intellektueller und mystischer Erfahrung in philosophischen Texten des Mittelalters. Die Erkrankung ihres Bruders erlebte sie während ihrer Studienzeit.

Samstag, Kerstin
Kerstin Samstag ist alleinerziehende Mutter zweier mittlerweile erwachsener Kinder, sie ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet in München mit traumatisierten Menschen.

Kerstin Samstag ist alleinerziehende Mutter zweier mittlerweile erwachsener Kinder, sie ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet in München mit traumatisierten Menschen.
Friederike Samstag, Philosophin, befasst sich in ihrer Doktorarbeit mit Inszenierungs- und Vollzugsformen von intellektueller und mystischer Erfahrung in philosophischen Texten des Mittelalters. Die Erkrankung ihres Bruders erlebte sie während ihrer Studienzeit.
Zum Schutz ihres Angehörigen veröffentlichen beide unter einem Pseudonym.


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