Scherer | Nagasaki | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Scherer Nagasaki

Der Mythos der entscheidenden Bombe

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-446-25023-9
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Im August 1945 detonierten über Hiroshima und Nagasaki die beiden einzigen Atombomben der Kriegsgeschichte. Die erste, so hieß es damals, habe Japan beeindruckt, doch erst die zweite ließ es kapitulieren. Beide Bomben seien nötig gewesen, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden. Doch waren sie wirklich entscheidend? Klaus Scherers Zweifel an dieser Darstellung begannen mit der Frage nach dem Sinn des Massakers von Nagasaki. Gestützt auf neue historische Forschung, Filmdokumente und ergreifende Interviews mit Zeitzeugen zeichnet er ein anderes Bild: das eines kalkulierten, vermeidbaren Verbrechens. Von Beginn an ging es darum, die Bomben zu testen. Japan, militärisch längst geschlagen, lieferte dazu die Gelegenheit.
Scherer Nagasaki jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


EINLEITUNG   MENSCHENGESCHICHTE     Auf Landkarten erscheint Tinian, wenn überhaupt, meist nur als Punkt. Die Pazifikinsel, die zu den Nördlichen Marianen zählt, ist am Ende des Zweiten Weltkrieges die Basis der US-Langstreckenbomber. In diese weltabgewandten Weiten des Ozeans kehrt am 9. August, drei Tage nach der ersten Atomexplosion der Kriegsgeschichte, die über 100.000 Bewohner Hiroshimas das Leben gekostet hat, auch die Besatzung der zweiten Mission zurück. Hinter ihr liegen 17 Flugstunden. »Unser eigentliches Ziel konnten wir in drei Anläufen nicht orten«, gibt Pilot Charles Sweeney zu Protokoll. »Deshalb berieten wir uns und entschieden, das Ersatzziel anzusteuern.« Das war Nagasaki. Der wissenschaftlich Verantwortliche an Bord pries die Crew. »Sie leistete hervorragende Arbeit. Wir waren alle erleichtert, als wir unter uns den Blitz sahen. Wir hatten dem Feind die zweite Atombombe geliefert.« Siebzig Jahre lang blieb das die Perspektive, aus der Amerika, wenn nicht die ganze Welt, auf diese Bomben blickte: Wie aus dem Flugzeugfenster, auf einen immer höher aufquellenden Wolkenpilz, faszinierend im Detail, wenn auch schrecklich für jene dort unten, im alles vernichtenden Radius von Gluthitze und Druckwelle. Allein schon weil es keine anderen Aufnahmen gab, blieb das Bild der Bombe die Draufsicht. Die Ansicht aus der Distanz. Auch die opportune Deutung dazu hatte die US-Propaganda bald mitgeliefert. »Japan war bereit, einen endlosen Krieg zu führen«, hieß es in bildgewaltigen Rückblicken der Wochenschau am ersten Jahrestag des »Victory Day« – bis Amerikas erster Schlag das Industriezentrum Hiroshima ausgelöscht habe. Die »Japse« habe das beeindruckt, doch noch immer hätten sie nicht aufgegeben. Drei Tage später sei deshalb die zweite Bombe gefolgt. »Das war der finale Schlag«, lernte die Nachwelt. »Sie kapitulierten.« Dabei war das schon der geschönte Rückblick. Unmittelbar nach Kriegsende, also ein Jahr zuvor, hatte die gleiche Wochenschau noch eine ganz andere Wahrheit verbreitet. Japans Städte seien dem Erdboden gleich, die Streitkräfte aufgerieben, die Industrien zerstört, und das »schon lange bevor« die Atombomben gefallen seien, lautete da der Kommentar zu den ersten Bildern, die Militärfotografen gerade aus dem unterlegenen Land lieferten. Wie konnte sich die offizielle Wahrnehmung des Kriegsendes derart umkehren? Warum wurde den Atombomben im Allgemeinen und der Nagasaki-Bombe im Besonderen binnen eines Jahres eine so alleinentscheidende Wirkung zugeschrieben, obwohl die Erkenntnisse unmittelbar nach Kriegsende eher gegenteilig waren? Das ist eine der Fragen, denen dieses Buch nachgeht. Allein in der Hölle
Sweeney und seine übermüdete Besatzung gingen nach ihrer Rückkehr rasch zu Bett. Es gab weder Orden noch eine Zeremonie wie für die Hiroshima-Mannschaft. In Wahrheit blieb Nagasaki immer zweitrangig. »Die erste Bombe war nun mal die erste Bombe, es war wie die Goldmedaille«, sagt mir der US-Historiker Martin Sherwin, der sich so intensiv mit der Geschichte der Atombombe befasst hat wie kein anderer. »Und die zweite war nur die zweite, die zudem noch von Pannen überschattet war.« Kaum einer fragte nach, warum diese Bombe tatsächlich noch fiel. Und kaum einer suchte nach der zweiten Perspektive, dem Blick von unten, dem Schock der Opfer. Verklärung lag näher. »Es sollte unser guter Krieg bleiben«, erklärt mir Sherwin. »Wir hatten erfolgreich gegen den Faschismus in Europa und gegen den Militarismus in Fernost gekämpft. Amerika hätte nicht ertragen, das alles am Ende noch negativ einzufärben.« Das Städtchen Los Alamos im US-Bundesstaat New Mexico, wo Physiker und Militärs im Geheimauftrag die Atombomben bauten, rühmt sich denn auch bis heute als Ort, »der Entdeckungen macht«. Wie ein technisches Versuchsresultat zeigt ein Wandfoto in der Gedenkstätte das verwüstete Stück Erde, das einmal Hiroshima war. Kein einziges Bombenopfer ist dort zu sehen. Kein Kind, das traumatisiert überlebte, erzählt seine Geschichte. Und kein Foto zeigt Nagasaki. Stattdessen hält der Eingangsshop Ohrschmuck in der Form beider Bomben bereit. Eine Menschheitskatastrophe, verniedlicht zu perfidem Klimbim. Dabei gibt es die Kinder von damals noch. »Das Flugzeug war kaum zu sehen«, schildern sie uns, als sei alles nur ein paar Tage her. »Keine formierte Jägerstaffel wie sonst, kein bedrohlicher Lärm. Die Flugabwehr hatte sogar den Luftalarm aufgehoben, weil die letzten Jagdflieger längst weg waren.« Sakue Shimohira heißt eine der Überlebenden, die beim Erzählen bis heute nur mühsam die Tränen zurückhält. »Viele krochen schon wieder aus dem Schutzbunker«, sagt sie. »Erst als sie dieser fürchterliche Blitz blendete, ahnten sie, dass es eine Bombe war.« Zehn Jahre war sie damals alt. Nun sitzt sie mir im schattigen Museumshof in Nagasaki gegenüber, achtzigjährig und zeitlebens krank. Leiser Wind weht durch Bambusbüschel. Ein sonnenwarmer Tag. Es war der Ort ihrer Wahl, auch wenn ihr jeder Schritt hierher schwerfiel. Aber sie hat immer kämpfen müssen. Und es scheint, als blicke aus diesen alten, friedvollen Gesichtszügen noch immer das Mädchen Sakue. Was es erlebt hat, als Sweeneys Besatzung den Blick auf den wachsenden Atompilz genoss, ist unfassbar. Seit Jahrzehnten höre ich als Reporter Menschen zu. Nie hat mich eine Kindheitsgeschichte mehr aufgewühlt als die Sakues. Noch als ich später der Abschrift erste Randnotizen hinzufügen will, lege ich bald den Stift aus der Hand und lese sie kopfschüttelnd und mit feuchten Augen zu Ende. Es gab zuletzt Erfolgsromane, die mit solchen Szenarien begannen. Düstere, apokalyptische Plots von einsam umherirrenden Helden auf einem zerstörten Planeten. Von Vater und Sohn, die sich ohne jede Aussicht auf Rettung durch die Asche amerikanischer Großstadtruinen schlugen. Auf die Idee, dass Menschen eine solche Hölle tatsächlich erlebt haben, bin ich nie gekommen. Sakue hat sie durchlitten. Und an ihrer Seite war lange nur ihre kleinere Schwester. »Ich war damals in der vierten Klasse, die Schule hatte man wegen des Krieges schon geschlossen«, erzählt sie uns. »Der nächste Bunkereingang lag am Fuß eines Berges. Hörten wir den Alarm, eilten wir hinein. Gab es Entwarnung, gingen wir wieder hinaus. Meist suchten wir in der Umgebung nach halbwegs essbaren Kräutern, denn der Krieg ließ uns hungern. Das war unser Alltag.« Am Tag, als die Atombombe fiel, blieb sie mit ihrer jüngeren Schwester länger als die anderen im Schutzraum. Das rettete ihr das Leben. Doch es blieb eines, das nur noch von Tod und Sterben umgeben war. Schon in der Angst und Enge des Bunkeralltags seien Müttern ihre Babys weggestorben, erinnert sie sich. Dann, nach Blitz und Schockwelle, tasteten sich erste Brandopfer herein, um Wasser bettelnd oder gar um den Gnadentod. Und draußen wartete nichts außer den verkohlten Resten einer Stadt, die Tausende Grad Hitze hinterlassen hatten – einschließlich der Gerippe der Nachbarn, die zu Staub zerfielen, sobald man sie berührte. Auch Michiaki Ikeda überlebte durch Zufall. »Ich war sechs Jahre alt«, erzählt er uns. »Auf dem Dach des Krankenhauses, wo meine Mutter arbeitete, hatte ich nach dem Ende des Luftalarms mit meinem Freund nach Bombensplittern gesucht. Wir hatten gewettet, wer von uns beiden die größeren Metallteile fände. Wir nahmen den Aufzug nach unten, doch als sich die Tür öffnete, war es plötzlich so hell, dass ich ohnmächtig wurde.« Als der Brandgeruch ihn aufweckt, glaubt der Junge zunächst, er sei erblindet, denn um ihn her ist es finster. Doch er ist nur geblendet. Das Gebäude liegt in Trümmern. Entstellte Tote überall. Das ist es, was Michiaki sieht, als sein Augenlicht wiederkehrt. »Diejenigen, die noch lebten, flohen wie Geister in Richtung der Berge. Die Arme hielten sie vor Schmerzen von sich gestreckt. Vom ganzen Körper hingen ihnen wie verbrannte Tücher die Hautfetzen herab.« Rütteln am Rückblick
Warum, frage ich mich zunächst, soll ich das aufschreiben? Siebzig Jahre nach dem Schrecken, den die Atombombe über die Menschheit brachte. Ein Schrecken, der immerhin verhindert hat, dass weitere davon auf Kriegsziele fielen. Wer soll es lesen, in Zeiten, da täglich zeitgemäßere Gräueltaten unsere Nachrichten füllen? Tatsächlich gibt es mehrere Antworten. Schon der Respekt vor den Opfern, dass wir ihre ganze Geschichte kennen. Die Letzten der Überlebenden sind nunmehr in einem Alter, das nicht mehr viele Gespräche mit ihnen zulässt. Ein kleiner Kreis von ihnen trifft sich gelegentlich noch in Nagasakis Museum, um zu beratschlagen, wer wohl nach ihnen noch die Erinnerung wachhalten könne. Eine Antwort fanden sie bisher nicht. Es waren vor allem die Details ihrer Schilderungen, die mich schockierten. Dass es die Bomben und ihre Opfer gab, die Jahreszahlen und die verschobenen Grenzverläufe, all das lernten wir in den Geschichtsstunden unserer eigenen Schulzeit. Wie sich jedoch Tod und Überleben unter dem Atomblitz anfühlten, lernten wir nicht, obwohl erst das Geschichte begreifbar macht. Je weiter man sich indes auf Details einlässt, die Historiker über das Kriegsende im Pazifik noch immer zutage fördern, desto mehr drängt sich ein zweiter Grund für das Buch auf. Bis heute wurde Generationen von Schulabgängern vermittelt, es sei zuallererst die Atombombe gewesen, die den Weltkrieg beendet habe – um so beiden Ländern eine noch größere Zahl von Opfern zu ersparen, die ein Endkampf um Japan unweigerlich gefordert hätte. Diese Sichtweise half der Nachwelt, den Schrecken zu rechtfertigen....


Scherer, Klaus
Klaus Scherer, 1961 geboren, ist Sonderreporter beim NDR in Hamburg, wo er mit seiner Familie lebt. Zuvor arbeitete er als ARD-Korrespondent in Japan und den USA. Er wurde u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.