Schmidt | Der letzte Turm vor dem Niemandsland | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 325 Seiten

Schmidt Der letzte Turm vor dem Niemandsland

E-Book, Deutsch, 325 Seiten

ISBN: 978-3-95765-952-1
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Fantasyguide – das Crossoverzine – steht für Abwechslung. Die dritte Anthologie bietet sechzehn Geschichten aus sechs Genres. Ob humorvoll oder spannend, düster oder sozialkritisch, in jedem Fall unterhaltsam.
Nur die Geschichte zählt.

Herausgeber und Verleger haben sich gemeinschaftlich entschieden, die Veröffentlichung dieser Anthologie dem Gedenken an Christian Weis (1966–2017), der mit einer seiner letzten Geschichtenveröffentlichungen vertreten ist, zu widmen.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Die Geschichten:
Uwe Hermann: Der letzte Turm vor dem Niemandsland
Andreas Fieberg: Ein begründeter Verdacht
Susanne Schnitzler: Unkenrufe
Ralf Steinberg: Verführerische Düfte. Eine Saramee-Geschichte
Lisanne Surborg: Die Puppe mit dem blauen Kleid
Achim Hildebrand: Froschzauber
Diane Dirt: Meister Shini
Andreas Flögel: Im Dienst des Wardens
Christel Scheja: Der Mitternachtsstern
Xander Morus: Das Grab am Canyon
Christian Weis: Neu-Eden
Ellen Norten: Der Sieg der Couch-Potatos
Torsten Scheib: Erntezeit
Michael Schmidt: Aton
Sven Klöpping: Der Mehrwert der Erinnerungen
Karin Reddemann: Marthe stirbt nicht

Das Titelbild stammt von Detlef Klewer.


Andreas Fieberg: Ein begründeter Verdacht
    Dermann starrte mit leerem Blick vor sich hin, bevor er das Diktiergerät anschaltete und zu sprechen begann: »Sie sind unter uns! Einen habe ich vorige Woche entdeckt. Es besteht kein Zweifel.« Selbst hier, in der Sicherheit der eigenen vier Wände, hatte Dermann die Stimme konspirativ gesenkt, das Diktiergerät hielt er sich dicht vor den Mund und sprach hinein, als wäre es ein Mikrofon an seinem Kragen und er ein geheimer Beschatter. Er räusperte sich und fuhr fort: »Er verfolgt mich. Vielleicht fürchtet er, dass ich ihn enttarne, und will mir ans Leben. Falls mir etwas zustößt, dies ist für die Nachwelt, als Warnung.« Er schaltete das Gerät aus, verstaute es in der Schublade seines Schreibtisches und schloss sie sorgfältig ab. Den Schlüssel, der an einer Schnur um seinen Hals hing, steckte er sich unters Hemd. Erst gestern war ihm der andere wieder in der U-Bahn begegnet, wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit. Er war wie Dermann ein Fahrgast, einer von denen, die der Berufsverkehr unbeabsichtigt zu Begleitern gemacht hatte, ein vertrautes Gesicht, ein alter Bekannter. »Für einen Roboter ist dies die perfekte Tarnung«, hatte Dermann seinem Diktiergerät anvertraut. »Unterzutauchen im Strom der Berufstätigen, unauffällig mitzuschwimmen. Es erregt keinen Verdacht, wenn man anderen immer und immer wieder über den Weg läuft, bis sie einen gar nicht mehr wahrnehmen. Sie werden zum Hintergrundrauschen, das man erst bemerkt, wenn es aufhört.« So einer war er. Aber in Wirklichkeit folgte er ihm wie ein Schatten, es war längst kein Zufall mehr, wenn sie sich begegneten. Identifiziert als Roboter oder Androiden oder wie immer man ihn nennen mochte, hatte Dermann ihn anhand von Kleinigkeiten. Als Erstes war ihm die mechanische Eleganz aufgefallen, mit der er sich bewegte, die abgezirkelten Bewegungen, das Gehen wie auf Schienen, die Effizienz der Gesten, ihre Sparsamkeit und ihr kalkulierter Einsatz – hier gab es keinen Deut zu viel oder zu wenig. Da war die Präzision, mit der er sich durch die Menschenmenge bewegte, ohne je mit jemandem zusammenzustoßen, während Dermann dauernd angerempelt wurde, wenn er nicht aufpasste. Die Sicherheit, mit der er auf dem Bahnsteig ein Papierknäuel in den drei Meter entfernt stehenden Abfallkübel beförderte, bevor er sich auf der Plastikschale des Sitzes niederließ. Dort harrte er aus, bis die Bahn einfuhr, gerade aufgerichtet und starr. Sein Körpereinsatz war durch und durch ökonomisch, es gab kein gedankenverlorenes Kopfkratzen, kein müßiges Umherschauen, kein ruheloses Auf- und Abwandern, mit dem sich andere Wartende die Zeit vertreiben mochten. Er hatte die Geduld einer Maschine, die bis zum nächsten Einsatz auf Stand-by schaltete. Wenn er aber unterwegs war, verblüffte er Dermann durch seine Reaktionsschnelle. Als einmal hinter ihm auf der Rolltreppe eine ältere Dame ins Straucheln geriet, drehte er sich blitzschnell um und verhinderte den Sturz mit einem beherzten Griff unter ihren Arm. Die verdutzte Alte schwebte einen Moment mit baumelnden Füßen über der Stahlstufe, bevor der Kerl sie behutsam absetzte. Hatte er auch hinten Augen? Dermann korrigierte sich: Es musste sich selbstverständlich um optische Sensoren handeln. Außerdem offenbarte der Zwischenfall eine beunruhigende Körperkraft. Als stärksten Beweis wertete Dermann die Beobachtung, dass der Kerl »mit anderen seiner Art« kommunizierte. Automatische Schiebetüren öffneten sich für den Roboter, lange bevor er in ihre Nähe kam, einfach auf ein geheimes Signal hin, das er aussandte. Und einmal hatte Dermann neben einem Fahrkartenautomaten herumgelungert, als wartete er darauf, nach dem Roboter an die Reihe zu kommen. Er musste schon haarscharf hinschauen, um überhaupt mitzukriegen, was da passierte – jedem anderen, da war Dermann sicher, wären die verräterischen Aktionen entgangen. Der Roboter stand unbeweglich vor dem Automaten und starrte auf das Display. Ohne dass er einen Finger rührte, leuchteten die verschiedenen Optionen auf, als er mittels drahtloser Verständigung durch die Menüs navigierte. Er fand die richtige Preiskategorie und hob die Hand zum Geldeinwurf oder dem Schlitz für die Kreditkarte, wo sie für den Bruchteil einer Sekunde verharrte. Dermann blinzelte. Die Hand sank herab. Der Roboter hatte weder Münzen noch Karte benutzt, im Inneren seines Blechkumpels hatte es lediglich bestätigend geklickt, und eine Fahrkarte wurde gedruckt und landete im Auswurfschacht. »Bargeldloser Transfer mittels RFID«, notierte Dermann. Gegen seinen Willen war er beeindruckt. Der andere wandte sich zum Gehen, und fast hätte Dermann sich verraten. Ihm wurde erst bewusst, dass er den Roboter anstarrte, als ihn unsichtbare Augen hinter einer schwarzen Brille mit Röntgenblick taxierten. Informationen wurden lautlos verarbeitet, Verhalten analysiert, Statistiken geprüft, Wahrscheinlichkeiten gegeneinander abgewägt. Hastig senkte Dermann den Kopf und machte sich an dem Fahrkartenautomaten zu schaffen. Als er vorsichtig zur Seite blickte, war der Roboter verschwunden. Als hätte all das nicht gereicht, Dermann von der nichtmenschlichen Natur des Kerls zu überzeugen, gab es eine Beobachtung, die letzte Zweifel beseitigte: das Surren von Elektromotoren allerwinzigster Bauart, die in seinen Gelenken verborgen waren, die Pumpen antrieben und seine Hydraulikmuskeln spannten und zusammenzogen. Man hörte es nur, wenn man dem Kerl extrem nahekam, etwa im Gedränge einer überfüllten U-Bahn, wenn die Fahrgäste, mit einer Hand in der Halteschlaufe, wie dicht gepackte Schaufensterpuppen ruckelten und aneinanderstießen. Der Ursprung des Geräusches ließ sich nicht genau lokalisieren, es schien richtungslos umherzuschwirren wie Mückensirren, aber nachdem es Dermann einmal aufgefallen war, war es nicht mehr zu überhören. »Das haben sie noch nicht hinbekommen, das ist eine Kleinigkeit, die noch fehlt, bevor die Täuschung perfekt ist«, informierte er sein Diktiergerät. Dieses Surren. Die Bahn hielt, und der Roboter stieg aus. Surr, surr. Dermann folgte ihm. Surr, surr. Der Roboter stieg eine Treppe hoch. Surr, surr, surr. Oben angekommen verschwand der Roboter hinter einer Biegung des Ganges. Das Surren verklang. Dermann ließ ihn ziehen, er musste woanders hin. »Selbst wenn der Kerl nicht zu sehen ist«, ergänzte Dermann, »habe ich dieses Geräusch ständig im Ohr.« In solchem Falle versteckte sich der Roboter bestimmt hinter einer Hecke oder verbarg sich hinter einer Tür oder entzog sich hinter einem Grüppchen arglos plaudernder Passanten seinem Blick. Auch das lautlose Klicken seiner Schaltkreise hatte er Dermann in den Kopf gepflanzt. Er dachte über Dermann nach, bewertete sein Verhalten, berechnete seine Schritte. Ob er ihm schon auf die Schliche gekommen war? Ob er wusste, was Dermann bereits wusste? Die Kamera im Schädel des Roboters machte Fotos von ihm, dokumentierte seine Unsicherheit. Der Schweiß brach Dermann aus, und auf einem Wärmebild war die rot glühende Aura seiner Angst zu erkennen. Richtig schlimm wurde es, als Dermann ihn das erste Mal außerhalb der U-Bahn traf, in einem Café. Seit diesem Tag wusste er sicher, dass er verfolgt wurde. Der Roboter saß am Nebentisch, wieder mit der auffälligen Sonnenbrille, obwohl es ein bedeckter Tag war. Und natürlich nahm er nichts zu sich, kein Getränk, nichts zu essen, sondern begnügte sich damit, in der Zeitung zu blättern, und ließ den bestellten Kaffee in der Tasse neben seinem Ellbogen erkalten. Die Zigarette, die unangetastet im Aschenbecher verglühte, diente sicher auch nur der Tarnung. Die Lektüre der Zeitung war ein mechanisches Unterfangen, bei dem der Roboter die Seite gründlich, aber hastig überflog, abrupt umblätterte und sich die nächste Seite vornahm, die er gleichfalls scannte. Er tat so, als bemerkte er Dermann nicht. Dass der Roboter bereits hier seine Spur aufgenommen hatte, versetzte Dermann in Panik. Irgendwann stand der Kerl auf, zahlte und entschwand. Dermann sah ihn in der folgenden Nacht wieder. Der Roboter wartete in einem Hauseingang gegenüber, die Augen unsichtbar hinter der Sonnenbrille. Entsetzt zog sich Dermann vom Fenster zurück. Als er erneut hinausspähte, war der andere verschwunden. Da reifte in ihm der Entschluss, den Roboter auszuschalten. »Ich habe es mit einem übermächtigen Gegner zu tun«, wisperte er ins Diktiergerät. »Ein Baseballschläger wird nicht ausreichen, ich brauche eine Waffe mit Durchschlagskraft. Wahrscheinlich habe ich nur einen Versuch, da darf ich kein Risiko eingehen.«   Sich eine Pistole zu besorgen, erwies sich als nicht halb so schwierig, wie Dermann befürchtet hatte. Irgendjemand kannte immer jemanden, der jemanden kannte, der wusste, wohin man sich mit einem speziellen Wunsch zu wenden hatte. Es war wie im Film. Er trat als rückhaltloser Spieler auf, der auch hohe Einsätze nicht scheute, und verschaffte sich so Zugang zu einer nächtlichen Pokerrunde, erwarb das Vertrauen der schweren Jungs und ließ sich mit seinem Anliegen weiterreichen, bis er auf einem düsteren Hinterhof das Gewünschte erhielt. Morgens liefen sie sich wie immer über den Weg, aber den Roboter im Gewühl des Berufsverkehrs anzugreifen, erschien Dermann als zu gewagt. So wartete er in den Nächten darauf, dass der Roboter sich wieder vor seinem Haus postierte, doch nichts geschah, die Straße blieb leer. Als Dermann schon aufgeben und einen...


Michael Schmidt wurde 1970 in Koblenz geboren. Er veröffentlichte bisher über sechzig Kurzgeschichten, die sich zumeist mit der dunklen Seite der Menschen beschäftigen. Als Herausgeber zeichnete er schon für diverse Anthologien verantwortlich. Zwielicht gewann dabei dreimal in Folge den Vincent Preis. Seine Sammlungen Teutonic Horror und Silbermond sind bei CreateSpace Publishing erschienen.


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