Schmitt | Bildung auf Augenhöhe (E-Book) | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Reihe: Preselect

Schmitt Bildung auf Augenhöhe (E-Book)

Streitschrift für eine Erneuerung des Gymnasiums

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Reihe: Preselect

ISBN: 978-3-03905-961-4
Verlag: hep verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Die Rede von der 'Bulimie-Pädagogik' spiegelt Erfahrungen ganzer Schülergenerationen wider: Stoff auswendig lernen um ihn bei der Prüfung wieder herauszuwürgen. So betreiben Gymnasien ihr Geschäft bis heute. Aber Bildung ist etwas anderes und geht auch anders. Christoph Schmitt zeigt auf, warum sich diese Unkultur so hartnäckig hält und welche Lösungen es dafür gibt.
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Kapitel 2:
Der blinde Fleck der gymnasialen Bildung
Ein Blick in den gymnasialen Alltag
Der Kultursektor »Bildung« ist so gut untersucht wie kaum ein anderer. Nicht zuletzt aufgrund der letzten Reform der Reform seiner Reform. Und obwohl eigentlich alles gesagt und analysiert ist, funktioniert es nicht wirklich mit der Bildung. Wo ist der blinde Fleck? Die Lernenden wollen einfach nicht selbstständiger werden, sie können noch immer nicht zufriedenstellend mit Texten umgehen, haben noch immer nicht hinreichend gelernt, ihr Lernen zu organisieren und zu regulieren, und vor allem: Sie lernen auch bezüglich der Inhalte nicht wirklich nachhaltig. Das meiste, was sie sich in mühevoller Arbeit und auf Prüfungen hin in den Kopf quetschen, macht Tage später bereits neuen Informationsmassen Platz, in jedem Fach aufs Neue. Die Frage, was ihnen das alles für ihr Leben bringt, bleibt sehr vielen nach eigenen Aussagen schleierhaft. Lernende lernen am Gymnasium nach wie vor zu selten und zu wenig, was es mit dem Phänomen der Bedeutung auf sich hat. Sie lernen am Gymnasium vor allem sogenannte Fakten. Lernende lernen am Gymnasium nicht, eigene Entscheidungen zu treffen bezüglich möglicher Bedeutungen, die sich in dem unendlichen Kosmos an Informationen verbergen. Sie lernen nicht, Zusammenhänge und Bedeutungen zu entdecken oder herzustellen und damit notwendige Hierarchien zu generieren anhand der schier unerschöpflichen Möglichkeiten, was heute gewusst werden kann. Selbst in den Fächern, in denen es vor allem um Zusammenhänge geht, werden Lernende sehr selten auf den Weg geschickt, um diese Zusammenhänge zu entdecken. Vielmehr bleiben ihnen diese in den meisten Fällen verschlossen und schleierhaft. Stattdessen werden »Inhalte« als ganze Informationspakete »gelernt« und wiedergegeben. Für »das andere«, das Entdecken und Versuchen, für Trial and Error, haben Schülerinnen und Schüler keine Zeit, weil das System des Gymnasiums ihnen diese Zeit nicht gibt. In der Folge lernen die Jugendlichen auch nicht, wie sie sich zum Kosmos des Wissens in Beziehung setzen können oder gar wollen. Das müssen sie auch gar nicht, denn das, was – aus welchen Gründen auch immer – »wichtig« ist und zusammengehört, ist innerhalb des Gymnasiums längst entschieden durch den Unterrichtskontext, und der wird durch die Lehrpersonen autoritativ repräsentiert. In diesem System lernen Jugendliche vor allem eines nicht: »sich bei der Frage auszukennen, worin Wissen und Verstehen bestehen und wie weit sie reichen« (Bieri 2007). Sie werden nicht darin gefördert, Belege für ihre Überzeugungen anzubringen oder über die Verlässlichkeit der Prinzipien nachzudenken, mit denen man von den Belegen zu den Behauptungen kommt, denn für ihre Lehrpersonen ist es einfach zu mühsam, jedes Schuljahr aufs Neue die Zeugen zu spielen, wenn ihre Schülerinnen und Schüler sich anschicken, das Rad neu zu erfinden. Aber genau das wäre eine ihrer Hauptaufgaben. Die Lernenden werden auch nicht auf die Suche geschickt nach dem Wesen guter Argumente und nach dem, was diese von der trügerischen Sophisterei unterscheidet, denn das steht entweder dem Lehrer schon ins Gesicht geschrieben, oder es steht im Lehrplan. Sie müssen nicht lernen zu argumentieren (das wäre ja auch viel zu zeitintensiv), sie müssen »wissen«, welche Formen der Argumentation es gibt und wer die erfunden hat. Und erst recht müssen sie nicht untersuchen, welche Formen des Verstehens es überhaupt gibt und was die typischen Hindernisse auf den verschlungenen Wegen des Verstehens sind. Außerdem erleben sie über eine ganze Gymnasialkarriere hinweg als das größte Hindernis immer noch sich selbst und ihre Begrenztheit im Nachfahren vorgestanzten Denkens – im Angesicht von Lehrpersonen, die anscheinend so viel mehr und besser wissen, als sie je wissen werden können (oder wollen?). Auch werden sie nicht dazu angeleitet, »zwischen bloß rhetorischen Fassaden und echten Gedanken zu unterscheiden« (Bieri 2007), weil ihnen diese Unterscheidungen ja als immer schon getroffene lediglich zur nachahmenden Einübung vorgelegt werden. »Draußen in der Welt« geht es anders zu und her. Dort stehen die Bedeutungen im freien Wettbewerb um menschliche Ressourcen wie Aufmerksamkeit und Geld. Jungen Menschen wird in ihrer perfekt durchmedialisierten Lebenswelt pausenlos gezeigt und erzählt, wie sie zu sein haben und was sie zu haben wollen. Dieser unreflektierte Bilder- und Erzählstrom transportiert pausenlos Welt- und Menschenbilder, Vorstellungen vom »guten Leben« und davon, was es heißt, ein richtiger Mann und eine richtige Frau zu sein und wie Menschen miteinander umzugehen haben und wie nicht. »Draußen« werden also auf hochprofessionelle Weise Bilder und Vorstellungen »richtigen Lebens« verabreicht, die die Kompetenz der Unterscheidung, der Beurteilung und der Bedeutungsfindung mehr denn je einfordern und sie deshalb zu einem zentralen Bestandteil gymnasialer Bildung werden lassen müssten, damit junge Menschen lernen, sich als mündige und aufgeklärte Menschen selbstständig darin zu bewegen. Stattdessen beschränkt sich das Gymnasium »drinnen« auf das Vermitteln von Informationen zum Zwecke des Aufrechterhaltens überholter Vorstellungen von Bildung und von Macht. Es geht nämlich im Gymnasium gegen alle Bekenntnisse nicht um die Bildung junger Menschen, sondern vor allem um den (Selbst-)Erhalt eines Systems. Natürlich geht es (in) jedem System zuerst einmal um den Selbsterhalt. Auch Familien, Aktiengesellschaften und Landesregierungen handeln in erster Linie aus dem Motiv des Selbsterhalts heraus. Die Qualität dessen, was dabei herauskommt, hängt allerdings maßgeblich davon ab, ob sich ein System dieser Zusammenhänge bewusst werden kann. Gibt es innerhalb des »Systems Gymnasium« einen Mindestgrad an Selbstreflexion und die Bereitschaft zum Umgang mit kreativen Störungen, sprich: Ist das Gymnasium offen genug, um sich der Automatismen bewusst zu werden, die mit dem funktionalen Selbsterhalt verbunden sind? Gelingt es ihm, aus dieser Offenheit heraus eine gewisse Reflexivität zu entwickeln und diese wiederum für Selbstlerneffekte zu nutzen? Oder werden sämtliche Ressourcen dafür verbraucht, die bestehenden Abläufe zu sichern? Die Frage lautet also: Ist das jeweilige (Schul-)System in der Lage, sein eigenes Handeln auf seine Chancen und Risiken hin zu durchschauen und sich diesbezüglich zukunftsoffen und lebendig zu gestalten? Sind Gymnasien Orte, an denen Zukunft ermöglicht wird – oder kommt die sowieso und trotz der Schule? Oft höre ich nämlich bis heute den Satz: Egal, was die Schule tut und was nicht, hängen geblieben ist immer irgendwas. Aus den jungen Leuten ist noch immer etwas geworden. Also warum regen wir uns auf? Vielleicht deshalb, weil Gymnasien nach wie vor resistent sind gegenüber Formen von Entwicklung, die bei der Qualität der Lern- und Bildungsprozesse ansetzen. Schülerinnen und Schüler beschreiben in ihren Feedbacks regelmäßig, dass es schon nützlich sei, ein Semester lang ganz »anders« zu arbeiten, zum selbstständigen Denken und Organisieren herausgefordert zu werden, als Arbeitsgruppe Projekt­arbeiten vom Anfang bis zum Ende durchführen zu müssen, sich der Herausforderung anspruchsvoller Präsentations-Situationen zu stellen: »Die selbstständige Arbeit war für mich positiv wie auch neu und herausfordernd. In keinem anderen Fach mussten wir so viel selbstständig arbeiten.« »Wir konnten sehr frei arbeiten. Wir mussten Selbstverantwortung übernehmen. Dies war einerseits eine große Herausforderung, jedoch fand ich dies sehr gut. Wir mussten sehr selbstständig arbeiten und selber die Zeit einteilen usw. Dies war eine neue Erfahrung, die ich machen konnte.« (Stimmen aus zwei unterschiedlichen Klassen der achten Klassenstufe) Die Jugendlichen schreiben in ihren Reflexionen aber auch, wie schwer es für sie ist, sich auf diese Prozesse einzulassen, weil das Gymnasium im »Normalfall« ganz anders mit ihnen verfährt: »Ihre Arbeitsform ist für uns Schüler sehr fördernd und anspruchsvoll, denn wir müssen, wenn wir in den Unterricht kommen, völlig umschalten. Und wenn wir aus dem Schulzimmer gehen, kommt gerade der extremste Frontalunterricht, welcher jegliches eigene Selberdenken übergeht. Das Problem ist einfach, wie oft gesagt, dass wir in einem täglichen Trott stecken, und ich persönlich finde nicht, dass wir die Möglichkeit haben, etwas zu verändern. Andere Lehrpersonen sind nicht offen für den Dialog, geschweige denn, Änderungsvorschläge zu akzeptieren bzw. umzusetzen. Und solange dies nicht geschieht, bleibt ihre ›neue‹ Arbeitsform schwer für mich, denn Sie fordern das Denken an den Prüfungen meist in einem größeren Rahmen. In Ihrem Unterricht beginne ich, zuerst in meiner eigenen Welt zu denken, und beziehe es noch nicht auf die Meinung von anderen. Alles in allem gesehen, bin ich eigentlich gerne in den Unterricht gekommen, weil es etwas anderes ist und auch weil es herausfordernd ist.« (Klassenstufe 11) »Weiter gebracht hat mich das Arbeiten. In Gruppen zu arbeiten, bringt einem viel, um zu sehen, wie die anderen es meistern würden. Man wird geschickter bei einzelnen Fragen, und man geht mehr in die Tiefe. Mich haben vor allem die Tests herausgefordert, weil man sich nicht daran gewöhnt war, solche kreativen Tests zu schreiben. Mit kreativ meine ich: Man füllt nicht nur etwas aus oder beantwortet Fragen, sondern man gestaltet es selber. Mir sind eben die Tests am Anfang schwergefallen. Ich habe es gemeistert.« (Klassenstufe 7) »Bei den Tests hatte ich am Anfang ein bisschen Mühe, weil sie so anders waren. Da war ich ein bisschen...


Schmitt, Christoph
Christoph Schmitt steht seit rund 20 Jahren im Dienste der Bildung. Er hat auf allen Schulstufen und in allen (Hoch-)Schularten unterrichtet und bildet ebenso lange Lehrkräfte aus und weiter, aktuell an der Universität Luzern. Christoph Schmitt hat in theologischer Ethik promoviert und führt als ausgebildeter Coach und Supervisor (MAS ZHAW) eine Praxis, in der er Menschen, Teams und Organisationen berät. Mehr zur Person finden Sie unter www.christoph-schmitt.ch.

Christoph Schmitt steht seit rund 20 Jahren im Dienste der Bildung. Er hat auf allen Schulstufen und in allen (Hoch-)Schularten unterrichtet und bildet ebenso lange Lehrkräfte aus und weiter, aktuell an der Universität Luzern. Christoph Schmitt hat in theologischer Ethik promoviert und führt als ausgebildeter Coach und Supervisor (MAS ZHAW) eine Praxis, in der er Menschen, Teams und Organisationen berät. Mehr zur Person finden Sie unter www.christoph-schmitt.ch.


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