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Schorkopf Verfasste Freiheit

E-Book, Deutsch, Band 82, 523 Seiten

Reihe: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

ISBN: 978-3-11-077972-1
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Dieser Band enthält die Referate und Diskussionen der Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung in Bremen vom 5. bis 7. Oktober 2022: VERFASSTE FREIHEIT Ino Augsberg, Helen Keller, Josef Franz Lindner: Selbstbestimmung und Fremdbestimmung in der liberalen Demokratie Antje von Ungern-Sternberg, Andreas Funke: Zugehörigkeit und Partizipation Ulrich Hufeld, Peter Bußjäger: Individuen und Intermediäre
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Erster Beratungsgegenstand: Selbstbestimmung und Fremdbestimmung in der liberalen Demokratie
1. Theorie Referat von Ino Augsberg, Kiel* Inhalt I. Das Ausgangsproblem II. Ein erster Lösungsansatz: Selbstbestimmung und Fremdbestimmung in der liberalen Demokratie als verfasste Freiheit. 1. Die Spannung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. 2. Liberale Demokratie als verfasste Freiheit. 3. Zwischenfazit. III. Erste Komplikation: Selbst-Bestimmung. 1. Fragestellung. 2. Die Konstitution des Subjekts. a) Wie der Mensch zur Welt kommt. b) Sprache als Paradigma c) Von der Transzendentalität zur A-Transzendentalität. 3. Zwischenfazit. IV. Zweite Komplikation: Mit-Bestimmung 1. Fragestellung. 2. Die Neubestimmung des Mitseins a) Ontologischer Grundansatz. b) Konkretisierungsperspektiven c) Sich bestimmen lassen 3. Zwischenfazit V. Schlussfolgerungen: Selbst-Bestimmung und Mit-Bestimmung in der liberalen Demokratie als ver-fasste Freiheit. 1. Demokratische Selbst- und Mit-Bestimmung. 2. Liberale Selbst- und Mit-Bestimmung. 3. Ver-fasste Freiheit. I. Das Ausgangsproblem
Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung ist im Kontext moderner Gesellschaften kaum zu entgehen. Ob es etwa um Beihilfe zum Suizid, um die Eintragung der geschlechtlichen Identität in das Personenstandsregister oder um den Nachweis einer Impfung geht,1 ob die Grenzen des kirchlichen Arbeitsrechts oder die der Integration unserer nationalstaatlichen Verfassungsordnung in einen supranationalen „Staatenverbund“ zu bestimmen sind,2 ob Individuen, Institutionen, einzelne soziale Felder, gesellschaftliche Gruppen oder ganze Völker den Bezugspunkt bilden:3 In Frage steht stets die Abgrenzung von Selbst- und Fremdbestimmung oder, meist synonym verstanden, von Auto- und Heteronomie.4 Zugleich jedoch zeigt jede einfache Gesprächssituation, wie prekär diese Abgrenzung ist. Denn jede Kommunikation nimmt denjenigen, an den sie gerichtet ist, unmittelbar in Anspruch. Sie verlangt von ihm eine Reaktion, die der Angesprochene nicht verweigern kann, weil noch die Verweigerung selbst eine solche Reaktion bildet.5 Umgekehrt vollzieht jeder, der selbst eine Kommunikation beginnt, einen Akt im doppelten Wortsinn, nämlich eine Selbstexposition, mit der er sich dem fremden Blick, dem fremden Ohr, dem fremden Urteil aussetzt und überlässt.6 Wer spricht, stellt einen Anspruch. Aber er wird ebenso sehr selbst in Anspruch genommen.7 Jeder Sprechakt ist in diesem Sinn zumal eine Sprechpassion.8 Kein Beharren auf der Originalität der eigenen Rede kann daran etwas ändern. Im Gegenteil: Noch die Insistenz auf der Eigenständigkeit des Gesagten führt auf einen allgemeinen Befund zurück, der gerade den Anspruch auf Individualität als überindividuellen Topos bestimmt.9 Autonomie ist die maßgebliche Norm für das Individuum in der modernen Gesellschaft.10 Sie wird damit ihrerseits zu einem Anspruch, an dem sich das Individuum messen lassen muss, an dem es eben deshalb aber auch scheitern (und wegen dieses Scheiterns dann in die Depression abrutschen) kann.11 Vor diesem Hintergrund ist Autonomie nur noch als ein in sich widerspruchsvolles Konzept vorzustellen, das heißt als ein Konzept, das gegen sich selbst und dadurch zugleich gegen die Vorstellung eines in sich geschlossenen Selbst überhaupt Einspruch einlegt.12 Die so geläufige und scheinbar so sicher handhabbare Distinktion zwischen Selbst- und Fremdbestimmung lässt sich danach nicht länger halten. An die Stelle der vorgeblich klaren Differenz tritt eine eigentümliche Verflechtung. Statt um Auto- oder Heteronomie geht es um Auto-Hetero-Nomie.13 Doch was heißt das genauer? Wie lässt sich diese Lage näher erklären? Und was folgt aus ihr für die Idee einer liberalen Demokratie? II. Ein erster Lösungsansatz: Selbstbestimmung und Fremdbestimmung in der liberalen Demokratie als verfasste Freiheit
1. Die Spannung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung
Allzu kompliziert scheinen die Dinge näher betrachtet allerdings gar nicht zu liegen. Selbst- und Fremdbestimmung benennen offensichtlich einen Gegensatz, bei dem die Gegensätzlichkeit aus der unterschiedlichen Rolle des jeweils eingesetzten Herrschaftssubjekts resultiert. Während in der einen Konzeption Herrschaftssubjekt und -objekt zusammenfallen, sind sie in der anderen dissoziiert. Herrschaft wird in diesem zweiten Fall von dem der Herrschaft unterworfenen Einzelnen als etwas ihm gegenüber Fremdes, Äußeres, und deswegen als Belastung empfunden. Dementsprechend besitzt das Begriffspaar dem üblichen Verständnis zufolge nicht nur einen rein deskriptiven Gehalt, der jene strukturelle Differenz als solche notiert. Wenigstens implizit steckt in der Gegenüberstellung vielmehr auch eine Wertung und damit verbunden eine Teleologie: Die als problematisch angesehene Fremdbestimmung soll sukzessive durch die positiver bewertete Selbstbestimmung ersetzt werden.14 Der Wandel von der Fremdzur Selbstbestimmung ist demzufolge gleichbedeutend mit einem Akt der Emanzipation des Subjekts. Indem das Subjekt sich aus überkommenen, namentlich religiösen Vorstellungswelten, Bindungen an klassische, typischerweise paternale Autoritätsfiguren und alten Vorurteilen löst,15 erstarkt es endlich vom unmündigen zum mündigen Subjekt.16 Der Übergang von der Fremd- zur Selbstbestimmung fällt danach zusammen mit der Fähigkeit des Subjekts, den eigenen Kräften zu vertrauen. Der traditionelle Name dieses Prozesses lautet Aufklärung.17 Dabei ist jedoch klar, dass diese Aufklärung nicht ohne ihre eigene Dialektik zu haben ist.18 Die vollendete Emanzipation droht in ihr Gegenteil umzuschlagen, das scheinbar nur noch sich selbst gehorchende, keinem fremden Befehl mehr unterstellte Subjekt zum pathologisch narzisstischen Individuum zu depravieren.19 Geboten erscheint daher eine bestimmte Strategie der Mäßigung, die das Individuum wieder in seine soziale Umwelt einbettet und es aus dieser heraus und mit Bezug auf sie versteht, so wie umgekehrt diese soziale Umwelt die Individuen als solche berücksichtigen muss, sie also nicht von vornherein nur als Mitglieder der Gemeinschaft verstehen darf. Nach beiden Seiten hin – der Selbst- wie der Fremdbestimmung – muss also eine Verabsolutierung vermieden, ein goldener Mittelweg gefunden werden.20 2. Liberale Demokratie als verfasste Freiheit
Ein solcher Weg liegt offenbar jedenfalls für den politisch-juridischen Bereich vor: in Gestalt der Konzeption einer liberalen Demokratie im Allgemeinen und ihrer Ausgestaltung durch die grundgesetzliche Konzeption im Besonderen.21 Das demokratische Verfahren bezeichnet danach ein Ineinandergreifen von Fremd- und Selbstbestimmung: Es gewährleistet eine kollektive Selbstbestimmung, die für den Einzelnen die Möglichkeit zur Mitsprache in politischen Angelegenheiten bedeutet.22 Die Individuen zahlen für ihre Teilnahme an dieser kollektiven Selbstbestimmung aber den Preis einer erforderlichen Unterwerfung unter den in jenen Prozessen schließlich zustande gekommenen Mehrheitswillen.23 Der liberale Charakter des Gesamtgeschehens gleicht diese Spannung dann wieder etwas aus; er sorgt dafür, dass die Ausübung des Mehrheitswillens den Schutz der individuellen Selbstbestimmung nie ganz aus dem Blick lassen darf, sondern immer auf ihn orientiert bleibt.24 Die das Zusammenspiel von Fremd- und Selbstbestimmung ermöglichende, den materiellen Gedanken der liberalen Demokratie umsetzende Struktur lässt sich in diesem Sinn als „verfasste Freiheit“ bezeichnen.25 Sie verweist auf ein Modell, in dem auf der einen Seite Selbstbestimmung nicht Selbstherrlichkeit meint und Freiheit nicht Willkür heißt, weil sie an der Freiheit des Anderen, des Mitmenschen, ihre Grenze findet,26 in dem auf der anderen Seite aber ebenso wenig Fremdbestimmung bedeutet, dass das Individuum nur als herrschaftsunterworfenes Subjekt (also als buchstäbliches sub-iectum27) in Erscheinung tritt. Den Individuen ist vielmehr die Beteiligung an jener Herrschaft garantiert.28 3. Zwischenfazit
Rechtsstaat und Demokratie, einmal in ihrer kongenialen „Gleichursprünglichkeit“ erkannt,29 benennen danach nicht länger nur...


Prof. Dr. Frank Schorkopf ist Universitätsprofessor am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht der Universität Göttingen. Seit 2016 ist er ordentliches Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Für die Amtszeit 2022 bis 2024 ist er Mitglied im Vorstand der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer.


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