Schulz | Skandinavisches Viertel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Schulz Skandinavisches Viertel

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-608-11014-2
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Nach Jahren im Ausland kehrt Matthias Weber ins Skandinavische Viertel zurück. Schon als Zwölfjähriger kannte er jede Straße in diesem Teil Ostberlins an der Mauer. Heute stemmt er sich als selbsternannter Anti-Gentrifizierungs-Makler gegen eine Entwicklung, die er nicht aufhalten kann. Das Skandinavische Viertel in Ostberlin kennt niemand so gut wie Matthias Weber. Als Kind unternimmt er hier in den siebziger Jahren Streifzüge, beflügelt von seiner reichen Phantasie, zugleich auf der Flucht vor inneren Dämonen. Vater, Onkel, Großmutter: nette Leute, und doch jeder auf seine Weise in Schuld verstrickt. Nur sehr langsam durchdringt der Junge das Geflecht aus Geheimnis und Verrat in seiner Familie. Jahre später kehrt Matthias in sein Revier zurück, das sich seit dem Fall der Mauer im Umbruch befindet. Er wird Wohnungsmakler, und da sich der umgängliche Grübler nicht zum Haifisch eignet, macht er es sich zur Aufgabe, Neureiche und Großkotze aus seinem Viertel fernzuhalten. Zwischen Geld und Moral, vergänglichen Amouren und existentieller Einsamkeit führt er einen letztlich aussichtslosen Kampf. Eine Geschichte um Verlust, Trauer und Wut, in der sich die Abgründe des eigenen Lebens offenbaren.

Torsten Schulz, geboren 1959 in Ostberlin, ist Autor preisgekrönter Spielfilme. Sein Debütroman 'Boxhagener Platz' wurde in mehrere Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt. Torsten Schulz lebt bei Berlin.
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Wenn Matthias schnell geht, ist er in zehn Minuten in Skandinavien. Er muss nur die Mühlenstraße hinunter in die Schönhauser Allee und von dort in die Bornholmer. Erst hier wird sein Schritt langsamer. Dann und wann bleibt er stehen, hält sein Gesicht in den Sprühregen. Er stellt sich vor, auf einem Kontrollgang oder in einer Geheimmission unterwegs zu sein, biegt links in die Seelower, dann rechts in die Dänenstraße, überquert die Brücke über die S-Bahn-Gleise und landet in der Kopenhagener. Von dort geht er weiter in die Ystader und Korsörer. Er liebt den Klang dieser Namen: Ystad, Korsör. Ystad liegt, wie er aus dem Weltatlas weiß, in der Provinz Schonen an der schwedischen Südküste, Korsör ist eine Hafenstadt am Großen Belt auf der dänischen Insel Seeland. Am Ende der Korsörer stehen zwei Grenzposten. Wer im Grenzgebiet wohnt und seinen Ausweis vorzeigt, darf passieren. Den Ausweis bekommt man mit vierzehn, bis dahin darf jeder ins Grenzgebiet. Er ist erst zwölf. Doch er hat keine Lust, dorthin zu gehen. Flügel müsste man haben, denkt er, um über die Grenze fliegen zu können. Die beiden Posten kennt er nicht. Kein Wunder, die Wachleute wechseln alle paar Tage, weil sie sich nicht an die Straßen und die Bewohner gewöhnen sollen. Sie sind zumeist nicht älter als achtzehn oder zwanzig Jahre und kommen von weiter her, aus Thüringen oder Sachsen oder Mecklenburg. Einen der beiden, den offenkundig Freundlicheren, dem seine Uniform zu groß ist und die Kalaschnikow nachlässig über der Schulter hängt, lächelt er an. Der Mann lächelt zurück, kommt näher an ihn heran. »Na, Kleiner, suchst du wen?« Am liebsten würde er sofort entgegnen, dass er nicht Kleiner genannt werden will. Aber besser, er gibt auf bestimmte Art zu verstehen, dass es ein Fehler ist, ihn zu unterschätzen. »Nein«, antwortet er betont ruhig, »ich suche niemanden.« Und dann eröffnet er das Spiel. Sein Spiel. »Ich möchte mal wissen, warum die Straßen hier eigentlich heißen wie Städte oder Länder in Skandinavien.« »Keine Ahnung«, erwidert der Mann und zuckt mit den Schultern. Der andere kommt jetzt ebenfalls näher, ein großer, dicker mit leicht schaukelndem Gang. »Wen interessiert das?«, mischt er sich ein. Während der erste in einem Hochdeutsch gesprochen hat, das keinen Dialekt erkennen ließ, redet der zweite in breitem Sächsisch, das gemütlich klingt, zugleich drohend. »Ist doch egal«, setzt er nach, »wie die Straßen heißen. Absolut egal.« Es hört sich an wie eine Aufforderung, schleunigst zu verschwinden. Aber wann er geht, möchte er schon selbst entscheiden. Er neigt den Kopf zur Seite und hebt die Augenbrauen. Diesen unschuldigen Ausdruck hat er sich antrainiert. Der erlaubt ihm, so zu antworten, wie er es sonst nicht wagen würde. »Mich«, sagt er. »Mich interessiert das. Und überhaupt, warum soll es denn egal sein? Es hat vielleicht einen Sinn. Bestimmt hat es einen Sinn. Einen ganz besonderen.« Er kostet die Verblüffung der beiden Grenzposten aus. »Ich hatte gedacht, Sie würden mir das erklären können.« Der erste Posten ist nicht weit davon entfernt, sich zu entschuldigen. »Junge, ich würde es dir gerne erklären, wenn ich’s selber wüsste.« Das haben, so oder ähnlich, die meisten Posten gesagt, die Matthias in den letzten Monaten gefragt hat, seitdem er hier unterwegs ist. Oder sie haben behauptet, das wäre einfach so und basta. Oder sie sagten freiheraus, dass er mal schleunigst nach Hause solle, andernfalls müssten sie ihn festnehmen. »Meine Güte, was heißt hier Skandinavien?«, mischt sich der Sachse wieder ein. »Seelow liegt in Richtung Polen, Rhinow im Havelland, Schönfließ sogar in der Nähe von Berlin. Und Bornholm« – er sagt es, als ziehe er nun seinen größten Trumpf – »liegt zwar in Skandinavien, ist aber weder Stadt noch Land, sondern eine Insel. Da staunst du, was?« »Warum soll ich da staunen?«, erwidert Matthias und weiß, dass er spätestens jetzt so altklug erscheint, wie es ihm selbst schon unangenehm ist. Doch es muss sein, es ist Teil seines Spiels. »Ueckermünde liegt in Mecklenburg an der Ostsee. Paul Robeson ist ein amerikanischer Freiheitssänger, Willi Bredel Spanienkämpfer und proletarisch-revolutionärer Schriftsteller …« »Guck mal an«, unterbricht ihn der Sachse. »Bist ja ein ganz Schlauer. Fleißig gelernt, was? Und nun mach, dass du wegkommst. Hau ab!« »Ja«, hält er dagegen und weicht keinen Zentimeter, »hab ich fleißig gelernt. Alle Straßennamen in diesem Viertel. Alle, auswendig. Eine heißt sogar nach einem Volkspolizisten, der an der Grenze erschossen wurde. Vom Klassenfeind. Hier gleich um die Ecke. Helmut Just. Schon mal gehört von dem?« Der Sachse schaut wie überfordert von einer unerwarteten Dreistigkeit. Der andere grinst, er freut sich über das Erstaunen seines Kompagnons; plötzlich aber packt er Matthias am Arm. »So, Schluss jetzt mit dem Hokuspokus, du Würstchen. Hast gehört, was der Genosse gesagt hat. Mach, dass du wegkommst. Sonst nehmen wir dich fest und übergeben dich der Polizei.« Dass der freundliche Posten so reagiert, damit hat er nicht gerechnet. Aber gut, es zeigt nur, dass man auf alles vorbereitet sein muss. Matthias schaut ihm fest in die Augen, spannt die Muskeln an. Bloß nicht zittern. »Ach ja? Ich soll machen, dass ich wegkomme?« Seine Stimme ist brüchig. Dagegen weiß er im Moment kein Mittel. Egal. »Ich kann ja nicht weg. Ihr lasst mich nicht. Habt euch schon viel zu lange mit mir unterhalten, von euerm Dienst ablenken lassen. Ihr dürft das nicht, das weiß ich von meinem Onkel. Der ist als Funktionär für die Grenztruppe zuständig. So, und jetzt lass mich los, sonst erzähl ich ihm alles und euch blüht was, das ihr noch nie erlebt habt.« Der Posten löst die Hand von Matthias’ Arm. Wie der große, dicke Sachse scheint er nun nach Worten zu suchen, die sich versteckt halten und nicht gefunden werden wollen. »Wenn euch euer Vorgesetzter zu sich befiehlt, dann wisst ihr, warum.« Seine Stimme ist nicht mehr brüchig. Was für ein Siegesgefühl! Er wartet noch kurz, als wolle er den beiden die Chance geben, etwas zu erwidern, dann dreht er sich langsam um und geht die Korsörer zurück, um daraufhin in die Ystader einzubiegen und den Rückweg nach Hause zu nehmen. Es war das erste Mal, dass er auf die Androhung von Festnahme nicht wegrannte, sondern seinen Onkel ins Feld führte, ihn sogar zum Funktionär machte. Einfach so. Wie Zauberei ist das und zugleich ganz einfach. Es ist ein berauschendes Gefühl, sich mit einem Funktionärsonkel wehren und Angst einjagen zu können. Der Sprühregen hat nachgelassen; Wind ist aufgekommen und kündigt einen kalten Herbstabend an. Er atmet tief ein und aus und legt einen Schritt zu. Zu Hause erzählt Matthias nichts davon, dass er im Skandinavischen Viertel war, geschweige denn wie er seinen Onkel zum Funktionär gemacht hat. Er weiß, dass der Vater über seinen Bruder nicht reden will. Ein Säufer, ein Parasit, ein Lügner, das ist der Onkel in den Augen des Vaters. Dass er ein Säufer ist, steht außer Zweifel, und da er noch im Elternhaus wohnt, bei Oma Lisbeth und Opa Paul, und nicht mal Kostgeld zahlt, ist er vielleicht sogar ein Parasit. Aber ein Lügner? »Wo warst du bloß wieder so lange?«, fragt die Mutter. Sie lächelt müde und legt die Hand an ihre Stirn wie um zu prüfen, ob sie Fieber hat. »Ich war noch in der Schule«, sagt er. »Wir haben geübt, Mathezirkel. Für die Klassenarbeit. Morgen, dritte Stunde.« Er weiß, dass eine Lüge umso überzeugender klingt, je genauer die Angaben dazu sind. Den Onkel hat er, sofern es stimmt, was der Vater behauptet, noch nie beim Lügen ertappt. Matthias geht in sein Zimmer, nimmt den Weltatlas zur Hand und schlägt die Skandinavien-Seite auf. Die wichtigsten Städte, Seen und Flüsse kennt er auswendig. Oulujärvi, Vänern, Skagern, Bolmen, Haldenvassdraget, Oslo, Odense, Aarhus, Stockholm, Göteborg, Uppsala, Reykjavik, Helsinki, Turku … Er beschließt, die Straßen, die noch keine skandinavischen Namen haben, umzubenennen. Jetzt, sofort. Aus der Seelower wird die Göteborger, aus der Ueckermünder die Aarhuser, aus der Schönfließer die Odenser Straße. Er nimmt seinen Stadtplan und...


Torsten Schulz, geboren 1959 in Ostberlin, ist Autor preisgekrönter Spielfilme. Sein Debütroman "Boxhagener Platz" wurde in mehrere Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt. Torsten Schulz lebt bei Berlin.


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