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E-Book, Deutsch, Band 10, 279 Seiten

Reihe: Religion und Moderne

Schuppert Governance of Diversity

Zum Umgang mit kultureller und religiöser Pluralität in säkularen Gesellschaften

E-Book, Deutsch, Band 10, 279 Seiten

Reihe: Religion und Moderne

ISBN: 978-3-593-43732-3
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Moderne Gesellschaften sind durch einen hohen Grad kultureller und religiöser Pluralität gekennzeichnet. Globalisierung und transnationale Migration steigern diese Vielfalt noch. Man kann daher heute den Umgang mit kulturellen und religiösen Minderheiten als das zentrale Governance-Problem säkularer Gesellschaften bezeichnen. Dieses Buch zeigt auf, welche Strategien für einen säkularen Verfassungsstaat dafür in Betracht kommen und welche Teile der Religionsverfassung einer pluralistischen Gesellschaft unverzichtbar sind.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Einleitung 15

Erstes Kapitel: Pluralität als Kennzeichen moderner Gesellschaften

A. Pluralität von Lebensentwürfen, Wertvorstellungen und Weltanschauungen als Charakteristikum moderner Gesellschaften 23
I. Welche Begriffe im Folgenden wie verwendet werden 23
1. Pluralität als soziale Tatsache oder Pluralismus als Wert 23
2. Pluralismus als Wert: Die Europäische Union als normatives Projekt 25
3. Zur Angemessenheit eines weiten Pluralitätsbegriffs 27
4. Religiöse Pluralität als Erscheinungsform normativer Pluralität 28
II. Zur zunehmenden Pluralisierung moderner Gesellschaften als Faktum 29
III. Vier Erklärungsangebote im Überblick 31
1. Modernisierung 31
2. Funktionale Differenzierung 35
3. Säkularisierung 38
4. Zum Dreiklang von Globalisierung, Migration und kollektiver Identitätsbildung 39
5. Eine kurze Zwischenbilanz 43

B. Eine brennglasartige Verdeutlichung: Umgang mit Diversität als zentrales Governanceproblem moderner Stadtgesellschaften 46
I. Leben in der Stadt heißt "living with diversity" 47
1. Klassische Vielfaltsprobleme 47
2. The New Diversity: Zur Deterritorialisierung kollektiver Identität 49
II. Was man aus der Milieuforschung lernen kann 51
1. Was sind soziale Milieus? 52
2. Zur Prägekraft von Milieus: Das Beispiel der Einstellung zu Migranten und Pluralität 59
3. Exkurs: Einstellung politischer Jugendorganisationen zum Islam 63

C. Eine kurze Zwischenbilanz 64


Zweites Kapitel: Ausgewählte Beispiele für den Umgang mit Pluralität: "lessons to learn"

A. Worum es in diesem Kapitel geht 67

B. Sieben ausgewählte Pluralitätsfelder: Eine Inspektion 69
I. Zum Umgang mit pluralen Gemeinwohlvorstellungen 69
II. Zum Umgang mit konfligierenden Grundrechten und Rechtsgütern mit Verfassungsrang 73
III. Umgang mit religiösem Binnenpluralismus oder der verhängnisvolle Zwang zur Wahrheit 75
1. Glaubenseinheit als Governanceproblem 75
2. Drei prozedurale und institutionelle Antworten auf Einheitsgefährdungen von Glaube und Kirche 76
IV. Zum Umgang mit einer Pluralität von Konfessionen 79
1. Von der Einheit zur Vielfalt, von der Universalität zur Partikularität 79
2. Aufgabe und Konstruktion des Augsburger Religionsfriedens 81
3. Eine kleine Zwischenbilanz 82
V. Zum Umgang mit "legal pluralism" 84
1. Das Kollisionsmodell 85
2. Das Diskursmodell 86
3. Das prozedural-institutionelle Modell 87
VI. Zum Umgang mit ethnischer Pluralität 90
VII. Zum Umgang von Imperien mit religiöser Pluralität: Das Beispiel des British Empire 92
1. Imperien als multiethnische und multireligiöse Gebilde 92
2. Nichteinmischung als imperiale Strategie 93

C. Versuch der Entwicklung einer Typologie von Umgangsstrategien mit (normativer) Pluralität 95


Drittes Kapitel: Was heißt religiöse Pluralität? Zur Anatomie und Analyse des weltanschaulichen Feldes

A. Warum weltanschauliches Feld? - Zur Notwendigkeit
der Verwendung eines Weitwinkelobjektivs 101
I. Die verfassungsrechtliche Perspektive: Religions- und Weltanschauungsfreiheit als einheitliches Grundrecht 101
II. Die kulturwissenschaftliche Perspektive: Religion als Weltdeutung 103
III. Die religionssoziologische Perspektive I: Zur Dynamik
des religiös-weltanschaulichen Feldes 105
1. Politische Religionen als Quasi-Religionen? 106
2. Neue Formen von Religiosität 107
IV. Die religionssoziologische Perspektive II: Die plurale
Welt der/des Nicht-Religiösen 112
1. Zum Phänomen zunehmender Konfessionslosigkeit 112
2. Das "religionsbezogene Feld" - Eine Inspektion 113
3. Vielfältige Säkularitäten 115

B. Versuch einer Skizze des weltanschaulichen Feldes: Binnenpluralität und Dynamik 118
I. Die religionsgeschichtliche Perspektive 119
II. Die Vermessungsperspektive und ihre Grenzen 120
III. Zur Binnenpluralität von Religionen und Religionsgemeinschaften 122
1. Den Protestantismus gibt es nicht 122
2. Islam ist Plural 124


Viertes Kapitel: Umgang mit Religion und Religionsgemeinschaften als Governanceproblem

A. Religion als "public religion" 131
I. Religion als kollektives Phänomen 131
1. Religionszugehörigkeit und Religionsausübung als eine Form von Vergemeinschaftung 131
2. Zur Religionsgemeinschaften innewohnenden
Kapazität kollektiven Handelns 134
II. Zur irreführenden Entgegensetzung von Religion als
"public religion" und Religion als Privatsache 136

B. Die Öffentlichkeitsdimension von Religion etwas näher betrachtet 141
I. Kirche und Öffentlichkeit: Religionsgemeinschaften und
ihre Trabanten als typische "Bewohner" des Bereichs des Öffentlichen 141
II. Religion und Zivilgesellschaft 144
1. Der Dritte Sektor zwischen Markt und Staat 145
2. Religion als zivilgesellschaftliche Ressource 147
II. A Public Voice for Public Religions: Religionsfreiheit als Kommunikationsfreiheit 154

C. Religion und kollektive Identität oder Religion als
Gehäuse der Zugehörigkeit 159
I. Zur Aktualität des Problems 159
II. Was meint kollektive, insbesondere religiöse Identität? 160
1. Begriff und Bedeutung kollektiver Identität 160
2. Binnenstabilisierung kollektiver religiöser Identität
durch Verdichtung ihres normativen Kerns 162
3. Zur institutionellen Dimension kollektiver Identität
von Religionsgemeinschaften 164
4. Zur Aus- und Abgrenzungsfunktion von kollektiver Identitätsbildung 166
5. Umgang mit religiösen Kollektiven als Umgang mit kollektiven religiösen Identitäten 167
D. Versuch einer Zwischenbilanz: Religionsgemeinschaften
als Goverancekollektive 168
I. Was sind eigentlich Governancekollektive? 168
II. Religionsgemeinschaften als Governancekollektive: Vier Perspektiven 172
1. Religionsgemeinschaften als Rechtsgemeinschaften 172
2. Religionsgemeinschaften als Institutionen 173
3. Religionsgemeinschaften als Identitätsgemeinschaften 180
4. Religionsgemeinschaften als Kommunikationsgemeinschaften 180
5. Umgang mit Religion und Religionsgemeinschaften als Governanceproblem: Einige sich aufdrängende Schlussfolgerungen 183


Fünftes Kapitel: Individualrechtliches oder institutionelles Verständnis der Religionsfreiheit

A. Vom korporatistischen Staatskirchenrecht zum pluralistischen Religionsverfassungsrecht 197

B. Zur Mehrdimensionalität des Grundrechts der Religionsfreiheit 201
I. Zur institutionentheoretischen Kontextualisierung
religiöser Vergemeinschaftung 202
1. Organisationen als emergente Phänomene 202
2. Die institutionellen Ordnungen der Moderne 204
II. Religiöse Pluralität als institutionelle Pluralität 205
III. Zur institutionellen Einbettung und Ausformung von Wandlungsprozessen des religiös-anschaulichen Feldes 210
IV. Zur Notwendigkeit einer institutionellen Antwort auf das Faktum kultureller und religiöser Pluralität 212

C. Ein kleiner, aber nicht ganz unwichtiger Exkurs: Wie
viel an organisatorischer Verdichtung ist für Religion
a) hilfreich und nötig, b) bekömmlich? 214
I. Das organisationstheoretische Dilemma 214
II. Das Beispiel der christlichen Großkirchen 215


Sechstes Kapitel: Konturen einer Religionsverfassung des säkularen Verfassungsstaates

A. Religionsverfassung als verrechtlichter "modus vivendi" und "modus procedendi" 225

B. Religionsverfassung als Koexistenzordnung 229
I. Koexistenzordnung als ausgehandelte Ordnung 231
II. Aushandlungsarenen und Aushandlungsmodi 233
1. Die genuin politische Aushandlungsarena: Gesetzge-
bung und Staatsverträge 235
2. Gerichte als Arenen religiöser Anerkennungskämpfe 239
3. Zivilgesellschaft als Aushandlungsarena 240
4. Neuaushandlung des öffentlichen Raums 242

C. Religionsverfassung als Ordnung wechselseitiger Anerkennung 245
I. Theoretische Annäherungen 245
1. Das Konzept der "twin tolerations" 245
2. Die Koalitionsfreiheit als doppelt gestufte Gegenseitigkeitsordnung 247
II. Zu den Anerkennungsleistungen einer als Gegenseitig-
keitsordnung verstandenen Religionsverfassung 250
1. Anerkennungsleistungen der staatlichen Seite 250
2. Notwendige Anerkennungsleistungen der Religionsgemeinschaften 255

D. Zur Ergänzungsfunktion eines "modus procedendi" 258

Danksagung 259
Grafiken und Tabellen 261
Grafiken 261
Tabellen 261
Literatur 262


Einleitung

Wie es beim Schachspiel klassische Eröffnungszüge gibt, finden sich auch in den Einleitungen zu Büchern, die einem bestimmten Thema gewidmet sind, nahezu standardisierte Eröffnungssätze, mit denen das präsentierte Buch sich in den unvermeidlichen Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit behaupten will. Fast unverzichtbar ist in einem solchen Einleitungsrepertoire der Hinweis auf die brennende Aktualität des Themas; dazu braucht hier nichts gesagt zu werden: die Fernsehbilder von dem nicht abreißenden Flüchtlingsstrom auf der sogenannten Balkanroute dürften jedem Leser noch gegenwärtig sein.
Der Hinweis auf die unübersehbare Aktualität des Themas wird häufig durch Erläuterungen dazu ergänzt, dass das zugrunde liegende Problem eine große Herausforderung darstelle, eine Herausforderung, der man sich zu stellen habe und für die Antworten gefunden werden müssten. Auch dafür ließen sich zahllose Beispiele finden; wir beschränken uns auf ein einziges Zitat, das in dem Einleitungsabsatz zu dem 2007 erschienenen Buch "Democracy and the New Religious Pluralism" entnommen ist und wie folgt lautet: "A new religious pluralism is taking up Atlantic democracies".
Aber in der gegenwärtigen Situation geht es nicht nur um Aktualität und eine positiv aufzunehmende Herausforderung, sondern auch um Befürchtungen und Ängste, die - so diffus sie auch vielfach sein mögen - von der Politik - so der übliche "Politsprech" - "ernst genommen" werden müssten.
Es ist nicht das Ziel dieses Buches, sich an der gegenwärtigen "Flüchtlingsdebatte" zu beteiligen; worum es uns geht, ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie in säkularen Gesellschaften mit dem Problem einer durch den Flüchtlingsstrom unübersehbar gewordenen zunehmenden kulturellen und insbesondere religiösen Pluralisierung umgegangen werden kann und umgegangen werden sollte. Wir verstehen das Phänomen einer an Intensität zunehmenden kulturellen und religiösen Pluralisierung, wofür wir zur Kennzeichnung dieses Befundes den Begriff der normativen Pluralität vorschlagen - nicht nur als Herausforderung der politischen Theorie , sondern als Aufforderung, mit einem multidisziplinären Ansatz so etwas wie Konturen einer "Theorie des Umgangs mit Pluralität" bzw. - anders formuliert - von "Governance of Diversity" zu zeichnen.
Dabei gehen wir in sechs Schritten vor: Im ersten Schritt geht es um Pluralität als Kennzeichen moderner Gesellschaften und die Frage, welche Ursachen für diesen eigentlich unstreitigen Befund einer zunehmenden Pluralisierung identifiziert werden können; dabei wird ein kurzer Blick auf die "üblichen Verdächtigen" geworfen, also auf Modernisierung, Säkularisierung, soziale Differenzierung, Globalisierung und - immer wichtiger werdend - Migration. In brennglasartiger Verdeutlichung lassen sich die an Intensität zunehmenden Pluralisierungsprozesse in modernen Stadtgesellschaften beobachten, für die sich der Umgang mit Diversität als ihr zentrales Governanceproblem beschreiben lässt. Aber es geht nicht nur um "Pluralismusimporte" durch Zuwanderung, sondern auch um die häufig vernachlässigte Pluralität der sogenannten Aufnahmegesellschaften, die - wie man ebenfalls besonders gut am Beispiel von Großstädten studieren kann - sich in zahlreichen Milieus ausdifferenzieren; darauf einen Blick zu werfen, erweist sich deshalb als geboten, weil gerade die Einstellung zur zuwanderungsbedingten Pluralität ganz entscheidend von der jeweiligen Milieuzugehörigkeit geprägt wird.
Wenn kulturelle, religiöse und ethnische Pluralität für moderne Gesellschaften kennzeichnend ist, dann steht zu vermuten, dass sie für den Umgang mit solcher Pluralität Strategien entwickelt und ausprobiert haben. Diese Vermutung hat uns auf die Idee gebracht, in einem zweiten Schritt einen etwas näheren Blick auf insgesamt sieben ausgewählte Pluralitätsfelder zu werfen, und zwar in der Hoffnung, zum Schluss dieser Inspektionsreise so etwas wie eine Typologie von Strategien des Umgangs mit Pluralität erstellen zu können. Bei diesen Pluralitätsfeldern geht es um
-den Umgang mit der Pluralität von Gemeinwohlbelangen
-den Umgang mit konfligierenden Grundrechten und Rechtsgütern mit Verfassungsrang
-den Umgang mit religiösem Binnenpluralismus
-den Umgang mit einer Pluralität von Konfessionen
-den Umgang mit "legal pluralism"
-den Umgang mit ethnischer Pluralität sowie
-den Umgang von Imperien mit religiöser Pluralität.

Dieses reiche Anschauungsmaterial lässt in der Tat einen ersten Systematisierungsversuch zu. Bei dem Versuch, daraus eine Typologie zu erstellen, haben wir eine wichtige Beobachtung machen können; bei den von uns so genannten Umgangsstrategien überwiegen eindeutig prozedurale und institutionelle Umgangsformen, die zudem durch einen hohen Kommunikations- und Verrechtlichungsbedarf gekennzeichnet sind. Dies führt zudem - im Fortgang dieses Buches sich erhärtenden - "Anfangsverdacht", dass für das uns besonders interessierende Problem der religiösen Pluralität auch vornehmlich nach einer prozeduralen und institutionellen Lösung gesucht werden muss.
In einem dritten Schritt geht es darum, herauszufinden, was eigentlich genau unter religiöser Pluralität zu verstehen ist. Dieses Vorhaben hat uns dazu veranlasst, erneut ein Weitwinkelobjektiv zu benutzen und das weite religiös-weltanschauliche Feld etwas genauer zu vermessen. Dafür erwies es sich als hilfreich, dieses Feld aus verschiedenen Perspektiven in Augenschein zu nehmen, nämlich aus verfassungsrechtlicher Perspektive - Religions- und Weltanschauungsfreiheit als einheitliches Grundrecht -, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive - Religion als Weltdeutung - und vor allem aber aus religionssoziologischer Perspektive. Diese religionssoziologische Perspektive lässt zwei Phänomene in den Blick geraten, nämlich einmal die erhebliche Dynamik des religions-weltanschaulichen Feldes, insbesondere die Herausbildung neuer Formen von Religiosität, zum anderen die plurale Welt des Nicht-Religiösen. Dieses nur auf den ersten Blick nicht-religiöse Terrain erweist sich aber - weil der Bezugspunkt immer die abgelehnte oder relativierte Religiosität bleibt - als ein "religionsbezogenes Feld", das aus der Vermessung des religiös-weltanschaulichen Feldes nicht exkludiert werden darf. Zum Schluss dieses dritten Kapitels präsentieren wir daher den Versuch einer Skizze des religiös-weltanschaulichen Feldes, mit der insbesondere die Dynamik und Binnenpluralität dieses Feldes eingefangen werden soll.
In einem vierten Schritt widmen wir uns der Frage, warum sich über-haupt der Umgang mit Religion und Religionsgemeinschaften als ein zentrales Governanceproblem moderner Staatlichkeit darstellt. Man könnte auf den ersten Blick ja meinen, dass sich durch die immer wieder behauptete zunehmende Säkularisierung der Welt und die damit einhergehende zunehmende Individualisierung und Privatisierung des Religiösen das Religionsthema sich sozusagen in Luft aufgelöst habe. Das Gegenteil ist der Fall. Dieser inzwischen wohl unstreitige Befund zwingt zum Nachdenken, was es denn nun eigentlich mit Religion und Religionsausübung auf sich hat, dass der Umgang mit Religion zunehmend als ein wichtiges Governanceproblem wahrgenommen wird. Im Verlaufe dieses Nachdenkens haben wir einige Einsichten gewonnen, die sich zu einem stimmigen Bild zusammenfügen lassen. Erstens die Einsicht, dass die Entgegensetzung von Religion als "public religion" und Religion als Privatsache irreführend ist. Zweitens die Einsicht, dass Religion und Religionsausübung niemals etwas rein Privates sind, denn Religion ist ein kollektives Phänomen und Religionsgemeinschaften verfügen über eine beachtliche Kapazität kollektiven Handelns. Drittens die Einsicht, dass Religion wesenhaft eine genuine Öffentlichkeitsdimension aufweist, da Glaube auch öffentlich bekannt werden will und die uns vor Augen stehenden monotheistischen Religionen für sich eine Verantwortlichkeit für die Zustände in dieser Welt reklamieren. Ferner die Einsicht, dass Religion als wichtige zivilgesellschaftliche Ressource fungiert und auch von daher einen zentralen Bestandteil demokratischer Öffentlichkeit bildet. Fünftens schließlich die Einsicht, dass Religionsgemeinschaften eine intensive kollektive Identität ausbilden und dass diese kollektiven Identitäten zu institutioneller Verdichtung neigen, wobei beide Faktoren zusammengenommen Aus- und Abgrenzungseffekte zur Folge haben.
Will man all diese Einsichten zusammenfassen, so kann man von Religionsgemeinschaften als Governancekollektiven sprechen, die uns in vierfacher Gestalt gegenübertreten, nämlich
-als regelungsintensive Rechtsgemeinschaften
-als organisatorisch verfestigte Gemeinschaften, also als Institutionen
-als Identitätsgemeinschaften und - last but not least -
-als Kommunikationsgemeinschaften.

In einem fünften Schritt befassen wir uns - diesen Gedankengang fortführend - mit drei Aspekten. Einmal werfen wir einen Blick auf den Befund, dass moderne Gesellschaften Organisationsgesellschaften sind und fragen im Anschluss daran, welche Rolle Religionsgemeinschaften im Ensemble der diese Organisationsgesellschaften "bevölkernden" Assoziationen spielen. Diese Frage weiter verfolgend und verfassungstheoretisch vertiefend, steht zu überlegen, ob es nicht - wenn der Befund, das moderne Gesellschaften Assoziationsgesellschaften sind, richtig ist - der Entwicklung einer Assoziationsverfassungstheorie bedürfte, was einmal eine institutionen- wie verfassungstheoretische Kontextualisierung von Religionsgemeinschaften ermöglichen und zum anderen dazu einladen würde, das Spezifische von Religionsgemeinschaften im Vergleich zu anderen Assoziationstypen klarer herauszuarbeiten. Der zweite Aspekt, der uns in diesem Zusammenhang interessiert, ist die beobachtbare Renaissance institutionellen Rechtsdenkens, in der bezeichnenderweise die Religionsfreiheit als Element kollektiver Ordnung eine wichtige Rolle spielt. Diese beiden Überlegungsstränge führen uns - dies ist der dritte Punkt - zu der These, dass die Entgegensetzung eines individualrechtlichen und eines institutionellen Verständnisses der Religionsfreiheit in die Irre führt. Das Grundrecht der Religionsfreiheit ist vielmehr als ein mehrdimensionales Grundrecht zu verstehen, mit einer individualrechtlichen und einer institutionellen Dimension als zwei Seiten einer Medaille.
In dem sechsten und letzten Schritt geht es darum, die in den ersten fünf Kapiteln angestellten Überlegungen so zu bündeln, dass sich aus ihnen die Konturen einer Religionsverfassung moderner säkularer Gesellschaften ergeben. Für diese Konturierungsaufgabe schlagen wir vor, zwei Begriffe in den Mittelpunkt zu stellen, nämlich einmal den der Koexistenzordnung, zum anderen den der gegenseitigen Anerkennungs-ordnung. Unseres Erachtens kann unter den Bedingungen einer multireligiösen Gesellschaft eine wie auch immer im Detail auszugestaltende Religionsverfassung nur als eine Koexistenzordnung verstanden werden, und zwar als eine ausgehandelte Koexistenzordnung, die das Ergebnis von Aushandlungsprozessen dokumentiert und daher tendenziell immer auch als revisibel gedacht werden muss. Wir schlagen vor, insoweit vier Aushandlungsarenen zu unterscheiden, in denen diese Aushandlungsprozesse stattfinden, nämlich
-die genuin politische Aushandlungsarena: Gesetzgebung und Staatsverträge
-Gerichte als Arenen religiöser Anerkennungskämpfe
-Zivilgesellschaft als Aushandlungsarena sowie
-die Neuaushandlung des öffentlichen Raums.

Ist die Koexistenzordnung der eine konstruktive Pfeiler der Religionsverfassung des säkularen Staates, so ist der zweite Pfeiler die Konzeptualisierung der Religionsverfassung als eine Ordnung wechselseitiger Anerkennung, und zwar nicht nur im Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften, sondern - was genauso wichtig ist - im Verhältnis der Religionsgemeinschaften untereinander. Es geht insoweit um die verfassungstheoretische und vor allem auch verfassungsrechtliche Umsetzung des reziproken Prinzips der "twin tolerations", ein Prinzip, das in Anerkennungsleistungen aller Beteiligten ihre Konkretisierung erfahren muss.
In der Hoffnung, dass die skizzierte Komplexität unseres Vorhabens den Leser nicht schon jetzt das Buch resigniert zur Seite legen lässt, wollen wir nunmehr das erste unserer sechs Kapitel beherzt in Angriff nehmen.


Gunnar Folke Schuppert war Professor für neue Formen von Governance am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und ist aktuell Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt.


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