Schwarz / Sitter-Liver / Holderegger | Religion, Liberalität und Rechtsstaat | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 300 Seiten, Gewicht: 1 g

Schwarz / Sitter-Liver / Holderegger Religion, Liberalität und Rechtsstaat

Ein offenes Spannungsverhältnis

E-Book, Deutsch, 300 Seiten, Gewicht: 1 g

ISBN: 978-3-03810-118-5
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Angesichts der zunehmenden Pluralisierung unserer Gesellschaften wandelt sich der Status der Religionen. Das Verhältnis zwischen religiösen Überzeugungen – nicht zuletzt aufgrund ihrer 'neuen Sichtbarkeit' – und säkularen Staaten muss daher neu bedacht werden. Zwischen den verschiedenen Religionen oder Konfessionen einerseits und dem demokratischen Rechtsstaat sowie einer Öffentlichkeit, die sich als liberal versteht, andererseits besteht ein latentes oder sogar offenes Spannungsverhältnis. Die institutionellen Regelungen des Verhältnisses zwischen Staat und Religionen, die in den westlichen Gesellschaften sehr unterschiedliche Gestalt angenommen haben (z.B. französischer Laizismus versus amerikanischen Säkularismus), stehen neu und dringend auf dem Prüfstand.
Beiträge von Jörg Baumberger, Christoph Bochinger, Ernst- Wolfgang Böckenförde, Gérard Bökenkamp, José Casanova, Friedrich-Wilhelm Graf, Jürgen Habermas, Marianne Heimbach- Steins, Adrian Holderegger, Harold James, Hans Joas, Marco Jorio, Necla Kelek, René Pahud de Mortanges, Wolfgang Schüssel, Jürg Stolz, Brigitte Tag, Charles Taylor, Roland Vaubel und Michael Zöller.
Schwarz / Sitter-Liver / Holderegger Religion, Liberalität und Rechtsstaat jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Der säkulare Staat, religiöser Pluralismus und Liberalismus José Casanova Unser Zeitalter wurde vom bekannten katholischen Philosophen Charles Taylor zu Recht als ein säkulares Zeitalter bezeichnet. Doch «säkular» bedeutet in diesem Zusammenhang nicht «ohne» oder «nach der» Religion, sondern beschreibt einen Zustand zunehmender Pluralisierung religiöser und nichtreligiöser Möglichkeiten.1 Der erste und wichtigste Grundsatz des neuen globalen säkularen Zeitalters ist die Anerkennung der Religionsfreiheit als unabdingbares persönliches Recht, das auf der heiligen Würde jedes Menschen beruht. Glaubensbekenntnisse oder Dogmen besitzen keine Rechte. Rechte haben nur Menschen. Menschen haben das Recht und die Aufgabe, ihrem Gewissen frei und ohne Zwang zu folgen. Die Wahrheit kann nicht aufgezwungen, sie muss freiwillig angenommen werden. Entsprechend besitzen weder die Wahrheit noch der Irrtum automatisch Rechte, und das ist das fundamental Neue an der neuen säkularen Epoche. Menschen haben das Recht und die Pflicht, frei von Zwang die Wahrheit zu suchen, nach Glück zu streben und ihrem Gewissen zu folgen. Der zweite Grundsatz des neuen säkularen Zustands ist institutioneller Natur, namentlich der Grundsatz eines neu definierten säkularen Staates. Der moderne Staat hat säkular zu sein, allerdings nicht im «laizistischen» oder «säkularistischen» Sinn, bei dem die Religion kritisch negativ betrachtet wird und der Staat für sich das Recht in Anspruch nimmt, Religion zu reglementieren und durch Ausschluss vom öffentlichen Raum in Schranken zu halten. Vielmehr hat der Staat aus Respekt vor der Religionsfreiheit jedes einzelnen Bürgers säkular zu sein. Dabei ist er verpflichtet, im Namen der Religionsgleichheit gegenüber allen Religionen eine gewisse neutrale Distanz zu wahren. Diese zeichnet sich nicht durch Relativismus aus, sondern durch das Prinzip der gleichen Achtung aller religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen. Der säkulare Staat hat in Religionsangelegenheiten zwar nicht eine vollständig agnostische Haltung einzunehmen, er muss sich aber als theologisch nicht kompetent betrachten, wenn es um die Vermittlung bei Religionsstreitigkeiten oder um Fragen der Glaubenswahrheiten geht. Er hat seine Rolle als Hüter der Orthodoxie und der wahren Religion aufzugeben. Seine Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, religiöse Minderheiten vor der diskriminierenden Herrschaft der Mehrheit zu schützen. Das dritte Grundprinzip des neuen säkularen Zustands ist die Anerkennung eines fundamentalen soziologischen Faktums unseres globalen Zeitalters – nämlich, dass die gesamte Menschheit von einer unumstösslichen religiösen und kulturellen Pluralität gekennzeichnet ist. Diese Einsicht führt wiederum zur Anerkennung, dass religiöser Pluralismus keine negative Tatsache ist, die korrigiert und behoben werden muss, sondern ein positives Prinzip, das alle Religionsgemeinschaften zu gegenseitiger Achtung und Anerkennung – und letztlich zum interreligiösen Dialog – auffordert. Persönliche Religionsfreiheit Der Grundsatz der persönlichen Religionsfreiheit, das Prinzip eines säkularen, die Religionsfreiheit schützenden Staates und die Anerkennung religiöser Pluralität als positiver Ausdruck menschlichen Daseins sind die drei Eckpfeiler des globalen säkularen Zeitalters; sie markieren eine bedeutende Abkehr von der bis dahin vorherrschenden religiösen «Oikonomia» sowie vom europäischen Verständnis säkularer Moderne. Im christlichen Westen gründete die christlich-religiöse «Oikonomia», zumindest seit der konstantinischen und theodosianischen Ernennung des Christentums zur offiziellen Religion des Kaiserreichs, auf der fundamentalen dogmatischen Unterscheidung zwischen «wahr» und «falsch». Gemäss Jan Assmann ist dies die schicksalhafte «mosaische» Unterscheidung, die in der Geschichte der Menschheit erstmals durch den Monotheismus eingeführt wurde. Diese Unterscheidung wird von allen drei abrahamitischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, vorgenommen.2 Im lateinischen Westen war es Augustinus, der das unumstössliche theologische Fundament der christlichen «Oikonomia» begründete, die das monotheistische und monopolistische religiöse System des Christentums bis hin zum modernen säkularen Zeitalter bestimmte. Die Denktradition der «mosaischen Unterscheidung» zwischen einer wahren und einer falschen Religion wurde in den politischen Grundsatz übertragen, dass «Irrtum» keine Rechte besitzt. Lediglich die Wahrheit besitzt Rechte, einschliesslich des Rechts, von den geistlichen und weltlichen Mächten gleichermassen aufgezwungen werden zu können. Dieser Denkansatz wurde denn auch in den Grundsatz des Westfälischen Systems «Cuius regio, eius religio» (Wessen das Land, dessen [ist] die Religion) übertragen. Die Formel hat zur Beendigung der Religionskriege während der frühen europäischen Staatenbildung geführt, die durch die Religionsunterschiede und die religiöse Pluralisierung im Zuge der Reformation hervorgerufen wurde. Sie verlieh dem königlichen Herrscher die Macht, in seinem Hoheitsgebiet die Religion zu bestimmen. In der Folge wurde Nordeuropa flächendeckend protestantisch, während sich Südeuropa ausschliesslich dem Katholizismus zuwandte. In der Mitte bildeten sich drei Staaten – Holland, Deutschland und die Schweiz – mit bikonfessionellen Gesellschaften, wobei jedes Land sein eigenes System an konfessionellen «Ländern» oder «Ständen» entwickelte. Religionsminderheiten, insbesondere die sogenannten religiösen Sekten, wurden vertrieben und fanden vorerst Aufnahme im einzigen multikonfessionellen Staat (katholisch, protestantisch, orthodox) des frühen modernen Europas – der polnisch-litauischen Union (Polish-Lithuanian Commonwealth) – und letztlich auch in der Neuen Welt. Der Übergang von der christlichen zur säkularen «Oikonomia» ist ein komplexer Prozess, der seit einigen Jahrhunderten anhält und noch lange nicht abgeschlossen ist. Der wichtigste Grundsatz der säkularen «Oikonomia» – die auf den unabdingbaren Rechten des Einzelnen beruhende Religionsfreiheit – gilt in vielen Teilen der Welt nicht, weder in der islamischen Welt noch in zahlreichen autoritären Staaten, namentlich in den kommunistischen und postkommunistischen Ländern. Das Prinzip der religiösen Toleranz entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts und wurde von den säkularen Aufklärern ebenso wie von den utilitaristischen Machthabern in protestantischen Ländern wie England, Holland oder Preussen gefördert. Erstmals Einfluss gewann der Grundsatz der Religionsfreiheit jedoch erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den amerikanischen Kolonien. Er wurde primär von den radikalen protestantischen Sekten, den Baptisten und Quäkern, unterstützt; sie strebten bezüglich Religionsfreiheit eine Loslösung sowohl von der Kirche als auch vom Staat an. Nach der amerikanischen Revolution wurde das «sektiererische» Prinzip der Religionsfreiheit in der doppelten Bedeutung im ersten Zusatz der Verfassung der Vereinigten Staaten («First Amendment») institutionalisiert, der erstens die Einführung einer Staatsreligion verbietet und zweitens die freie Religionsausübung in der Gesellschaft schützt. Religiöser Pluralismus Ein fundamental neues System religiösen Pluralismus tauchte in den Vereinigten Staaten in Form des amerikanischen Denominationalismus auf und beruhte auf dem Grundsatz der Gleichheit aller Religionsgemeinschaften vor dem Gesetz. Dieses Prinzip hatte die Tendenz, die traditionelle europäische Unterscheidung zwischen Kirche und Sekte zum einen und zwischen Orthodoxie und Heterodoxie zum anderen zu unterlaufen. Ebenfalls wurde damit der elementare Grundsatz der christlichen «Oikonomia», das heisst die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion, unterhöhlt. Während die Vereinigten Staaten zum Schutz des religiösen Pluralismus die säkulare Staatsform einführten, entstand in Europa in verschiedenen Phasen der Entkonfessionalisierung eine andere Form des säkularen Staates. Wir sollten nicht vergessen, dass mit Ausnahme der polnisch-litauischen Union jeder frühe moderne absolutistische Staat Europas ein konfessioneller war und entweder die katholische, anglikanische, lutherische, calvinistische oder orthodoxe Kirche vertrat. Entsprechend hatte der Säkularisierungsprozess in Europa im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten eine Entkonfessionalisierung zur Folge. Der Prozess der Säkularisierung war von drei wesentlichen Mustern geprägt. Erstens, vom laizistischen Muster der feindseligen Entstaatlichung durch einen konfliktträchtigen Bruch mit der Staatskirche. Das prominenteste Beispiel für diese Entwicklung ist Frankreich nach der Französischen Revolution. Zweitens, vom Muster der schrittweisen Säkularisierung und Entkonfessionalisierung des Staates durch zunehmende Tolerierung aller Religionsminderheiten, während die Staatskirche ihren privilegierten Status beibehielt. Dieses Muster zeigte sich im anglikanischen England und in den lutherischen nordischen Ländern. Drittens, vom Muster der einvernehmlich ausgehandelten Entkonfessionalisierung des Staates und der Entstaatlichung der Kirche unter Beibehaltung der körperschaftlichen Beziehung zwischen dem Staat und der (den) Staatskirche(n). Dieses Muster ist in bikonfessionellen Ländern wie Deutschland und Holland sowie in verschiedenen katholischen Ländern durch Konkordate gesichert. Bei allen drei europäischen Modellen verläuft der Prozess der Säkularisierung ohne Entfaltung des religiösen...


Gerhard Schwarz, Dr. oec., Direktor des liberalen Think-Tanks Avenir Suisse; ehem. Leiter der Wirtschaftsredaktion sowie stellvertretender Chefredaktor der 'Neuen Zürcher Zeitung'.
Beat Sitter-Liver, Prof. Dr. phil. et Dr. h. c., Professor für praktische Philosophie an der Universität Freiburg/ Schweiz.
Adrian Holderegger, Prof. em. Dr. theol., Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität Freiburg/ Schweiz.
Brigitte Tag (* 1959), Prof. Dr. iur. utr., Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht an der Universität Zürich.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.