Schweda | Joachim Ritter und die Ritter-Schule | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: zur Einführung

Schweda Joachim Ritter und die Ritter-Schule

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: zur Einführung

ISBN: 978-3-96060-085-5
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Aus Joachim Ritters 'Collegium Philosophicum' sind bedeutende Vertreter der deutschen Gegenwartsphilosophie hervorgegangen, darunter Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann. Einige von ihnen wirkten als Publizisten und Sachverständige, in politischen Ämtern und Gremien, in Rechtswesen oder Kirche weit über die akademische Sphäre hinaus. Diese 'Ritter-Schule' hat den wissenschaftlichen Diskurs und das geistige Leben der Bundesrepublik geprägt, etwa in den Auseinandersetzungen um die Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Ordnung, die Erneuerung der praktischen Philosophie oder die Aufgabe der Geisteswissenschaften. Heute tritt die Bedeutung des Kreises zunehmend hervor und wird im Horizont aktueller Debatten um Zivilgesellschaft, Geschichtskultur und die Rückkehr der Religion erörtert.
Schweda Joachim Ritter und die Ritter-Schule jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


3. Das »Collegium Philosophicum« und die »Ritter-Schule«
Die Wirkung Joachim Ritters hat sich zunächst weniger im Zuge einer direkten und frontalen Auseinandersetzung mit seiner Philosophie selbst entfaltet als vermittelt über deren Aufnahme und Aneignung im Kreis seiner Schüler. Das von Ritter begründete Münsteraner »Collegium Philosophicum« bildete die »Keimzelle« der später so genannten »Ritter-Schule«. Aus ihm sind einige der bedeutendsten Wissenschaftler und einflussreichsten Intellektuellen der späteren Bundesrepublik hervorgegangen. Hier wurden auch die Weichen für die Entwicklung jener philosophischen Gedankenfiguren und zeitdiagnostischen Motive gestellt, die im akademischen Diskurs und der intellektuellen Landschaft der Zeit auf breiter Linie wirksam geworden sind.45 Das Collegium entstand aus dem 1947 begründeten Philosophischen Oberseminar der Universität Münster und hatte über zwei Jahrzehnte Bestand. Die Runde war ausgesprochen heterogen zusammengesetzt: Sie versammelte nicht nur Anhänger verschiedenster philosophischer Strömungen von der Sprachanalyse über die Hermeneutik bis zur Metaphysik, sondern umfasste auch Vertreter anderer Fachrichtungen wie Theologie, Mathematik und Jurisprudenz. Zu den Teilnehmern gehörten u. a. Günther Bien, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wilhelm Goerdt, Karlfried Gründer, Max Imdahl, Friedrich Kambartel, Martin Kriele, Hermann Lübbe, Odo Marquard, Reinhart Maurer, Ludger Oeing-Hanhoff, Willi Oelmüller, Günter Rohrmoser, Hans Jörg Sandkühler, Gunter Scholtz, Jürgen Seifert, Robert Spaemann, Ernst Tugendhat, Rudolf Vierhaus und Bernard Willms.46 Darüber hinaus bestanden Verbindungen zu Münsteraner Kollegen Ritters wie Helmut Schelsky, Hans Freyer, Josef Pieper, Hans J. Wolff und Benno von Wiese. Gelegentlich wurden auch auswärtige Vortragsgäste eingeladen, etwa Julien Freund, Arnold Gehlen, Gabriel Marcel oder Carl Schmitt.47 Angesichts der kriegsbedingten Zerstörung vieler Universitätsgebäude traf man sich anfangs in Ritters Privatwohnung in der Sertürnerstraße, später dann in den so genannten Baracken, nüchternen Zweckbauten neben dem barocken Münsteraner Schloss. Der äußeren Form nach waren die Zusammenkünfte von der Tradition informeller Studiengruppen und exklusiver Oberseminare geprägt. Hier sollte unter zwölf bis zwanzig von Ritter ausgewählten Studenten und Doktoranden »ein wissenschaftliches Gespräch in Gang gebracht werden, das die Ebene von Ausbildung […] überschritt und etwas von dem konstituierte, was Universität ausmacht und von bloßen Hochschulen unterscheidet« (JoR 190). Dabei ging es um die Schaffung eines von gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen und politischer Instrumentalisierung gleichermaßen abgeschirmten Raumes inmitten des entstehenden Massenbetriebs, in dem sich Bildung noch in einer gemeinschaftlichen Teilhabe am Forschungsprozess selbst vollziehen konnte. Man befasste sich jedes Semester mit einem klassischen philosophischen Werk, etwa Kants Kritik der reinen Vernunft oder Hegels Rechtsphilosophie. Daneben wurden seit 1956 in einem kleineren Kreis auch aktuelle Neuerscheinungen besprochen, z.B. Hans Freyers Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft oder Leo Strauss’ Naturrecht und Geschichte.48 Im Anschluss wurde das Gespräch nicht selten in einem Münsteraner Wirtshaus fortgesetzt. Die Sitzungen des Collegiums zeichneten sich dadurch aus, »daß Ritter zwar den Rahmen setzte, aber eine Vielfalt unterschiedlicher Positionen zu Wort kommen ließ. […] Er konnte sich selbst zurücknehmen und war in besonderer Weise fähig, andere Auffassungen zu rezipieren […]. Fremdartiges zu ertragen und es zu ermöglichen, daß jeder im Collegium sich selbst und eigenen [sic] Fragen einzubringen vermag, […] machte Ritter zum Garanten eines Freiraumes des Denkens.« (191) Dass Ritters Auftreten im Collegium in der Tat von einem ausgeprägten Ethos geistiger Offenheit und Liberalität geprägt war, wird immer wieder hervorgehoben. Er habe »seine Schüler nicht auf seine eigenen Thesen« (AbP 7) verpflichtet. Seine Art zu lehren folgte dem Gedanken einer theoretischen Betrachtung der geschichtlichen Wirklichkeit, in der nicht Belehrung oder Indoktrination wirksam wird, sondern allein die Evidenz der historisch zutage tretenden Sache selbst.49 Unter diesen Bedingungen konnte sich im Münster der 1950er Jahre eine für das geistige Leben der Zeit beispiellose Kultur regen intellektuellen Austauschs entfalten. Ernst Tugendhat berichtet, der »Kreis um Joachim Ritter« sei »damals wohl der lebendigste in Deutschland« (1992: 9) gewesen. Während andernorts vielfach noch grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der modernen Welt gepflegt wurden oder die historische Wiederaneignung der Klassiker im Vordergrund stand, wurde philosophische Lektüre hier unmittelbar auf das Zeitgeschehen bezogen und für sein Verständnis fruchtbar gemacht. Dabei begannen viele der Schüler Ritters auch früh, philosophisch eigene Wege einzuschlagen. Einige setzten sich mit der Hegelinterpretation ihres Lehrers und der in ihr entwickelten Zeitdiagnose auseinander und akzentuierten andere, beispielsweise theologische, religionsphilosophische oder staatstheoretische Gesichtspunkte.50 Manche wandten sich weiteren Philosophen der Aufklärung und des Deutschen Idealismus zu, mit deren Hilfe sich Ritters hegelianische Perspektive ergänzen, einschränken oder gar anfechten ließ.51 Auch die Deutung des Aristoteles als Ausgangspunkt eines hermeneutischen Ansatzes ethischen und politischen Denkens wurde systematisch weiter ausgebaut52, mitunter aber auch aus einem platonischen Blickwinkel konterkariert.53 Daneben bildete insbesondere Carl Schmitt für viele Schüler Ritters einen wichtigen Bezugspunkt.54 Auch zu Ernst Forsthoffs Ebracher Seminaren bestanden enge Verbindungen.55 In begriffsgeschichtlichen Arbeiten am Historischen Wörterbuch ergaben sich überdies Beziehungen zu Hans-Georg Gadamer und seinen Schülern, die später in der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik wirksam wurden.56 Wann die Bezeichnung »Ritter-Schule« für eine kaum trennscharf umrissene engere Gruppe von Teilnehmern des Collegium Philosophicum aufkam, lässt sich nicht mehr genau ausmachen. Fest steht jedenfalls, dass sie weder innerhalb des Kreises selbst entstand noch zunächst dem Selbstverständnis seiner Teilnehmer entsprach. So fühlte sich Hermann Lübbe bereits 1976 in seiner Laudatio auf den verstorbenen Lehrer herausgefordert, die Bezeichnung als unzutreffend zurückzuweisen. Es sei aufgrund der heterogenen Zusammensetzung des Münsteraner Collegiums sowie des liberalen Charakters der in ihm geführten Diskussionen »nicht richtig, von einer Ritter-Schule zu sprechen, die man durch einen disziplinären Positions-Namen charakterisieren könnte« (Lau 20). Auch Jürgen Seifert erblickt im Collegium rückblickend eher ein »Forum offenen Denkens«, das sich als solches wesentlich »von einer philosophischen Schule unterscheidet« (JoR 190). Nach Robert Spaemann waren es in erster Linie »die Fragestellungen Ritters«, die prägend auf seine Schüler wirkten, wobei deren »Antworten ganz verschieden ausfielen« (KiS 182). Allerdings beobachtete Odo Marquard Anfang der 1980er Jahre eine Art »Schulkonvergenz als langfristige Spätwirkung« (AbP 8): Zeitlich versetzt sei es zu einer gewissen inhaltlichen Annäherung unter Mitgliedern des Collegiums gekommen, wobei vor allem das politische Zeitgeschehen ausschlaggebend gewesen sei. Insbesondere die »durch das Jahr 1968 symbolisierte Infragestellung der demokratischen Struktur der Bundesrepublik« habe bei vielen eine »sehr ähnlich absolvierte Form der Replik« (17) ausgelöst. In der Tat scheint das inhaltliche Zusammenrücken einiger Ritter-Schüler damals mit einer Abgrenzung gegen die erstarkende und sich radikalisierende Linke im Laufe der 1960er und 1970er Jahre einhergegangen zu sein.57 Es muss so vor dem Hintergrund einer allgemeinen Polarisierung des bis dahin politisch weitgehend homogenen, von einem breiten antitotalitären Nachkriegskonsens geprägten intellektuellen Milieus der Bundesrepublik in ein eher konservatives und ein eher progressives Lager gesehen werden. Unter dem Eindruck der Studentenbewegung, der anwachsenden außerparlamentarischen Opposition und des entstehenden Linksterrorismus der 1970er Jahre wurden dabei aus aufstrebenden Jungordinarien, die sich in den 1950er und 1960er Jahren durchaus als progressiv verstanden und politisch auch entsprechend positioniert hatten, »liberale Sezessionisten« (Hacke 2006: 25). Es war eine Reihe von Streitpunkten, an denen sich die Geister damals zu scheiden begannen: Zunächst entspann sich im Fortgang der Bildungs- und Hochschulreform der 1960er Jahre eine Kontroverse um die Grundsätze und Zielsetzungen der westdeutschen Bildungspolitik.58 Während...


Mark Schweda ist Junior Research Fellow am Lichtenberg-Kolleg Göttingen und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Göttingen.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.