Seelos | Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 7, 460 Seiten

Reihe: Beiträge zur Kulturgeschichte

Seelos Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen

Band 2

E-Book, Deutsch, Band 7, 460 Seiten

Reihe: Beiträge zur Kulturgeschichte

ISBN: 978-3-7469-0056-8
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Martin Seelos macht in diesem Buch auf knapp 1.000 Seiten (Band 1 und Band 2) den Begriff der dualen Ökonomie für die Wirtschaftsgeschichte fruchtbar. Das Konzept der "Dualökonomie" wurde bislang hauptsächlich in der Ethnologie oder der Entwicklungssoziologie verwendet, um die Gleichzeitigkeit von einem modernen mit einem vormodernen Wirtschaftssektor zu umreißen.

Dieser begrenzte Fokus wird hier überwunden. Erstens, weil die "Modernität" konkret zu bestimmen ist, um sie historisch einzuordnen. Und zweitens findet sich die duale Ökonomie in der Globalgeschichte immer wieder als dynamisches Element: Die Dualität umreißt den Konflikt zwischen unterschiedlichen Eigentumsformen, der jede neue Produktionsweise begleitet.

Im Fokus des vorliegenden zweiten Bandes dieses Buches steht die duale Ökonomie der Sowjetunion sowie die Dialektik der historischen Entwicklung seit der Antike. Der inhaltliche Schwerpunkt von Band 1 liegt in der Wechselwirkung zwischen dem frühneuzeitlichen Europa und Afrika sowie den Antillen.

Bei all diesen Konstellationen geht es auch um die Frage, nach welchen Kalkülen so unterschiedliche Gesellschaften miteinander in Kontakt treten, mit welchen Methoden und mit welchen Folgen: Aus dem Nebeneinander wird ein Nacheinander. In dieser Hinsicht kann von einer globalgeschichtlichen Relevanz jeder Dualökonomie gesprochen werden.

Das vorliegende Werk ist originär, kenntnisreich verfasst und spannend zu lesen. Die Untersuchung liegt im Schnittpunkt der Geschichtsforschung und der politischen Ökonomie. Konkrete Berührungspunkte zu der Wirtschaftsanthropologie fehlen nicht. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat sowie ein Literaturverzeichnis (Band 2) machen die Textbelege nachvollziehbar.
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DER INPUT DES BÄUERLICHEN EIGENTUMS Um die Geschichte der dualen Ökonomie der Sowjetunion zusammenzufügen, benötigen wir noch die Bestimmung des bäuerlichen Eigentums auf dem Territorium dieses Staates. Wir werden gleich sehen, dass auch das nicht so einfach ist. Der Anteil der bäuerlichen Bevölkerung wird von Iurij Larin in seiner Broschüre an eine britische Delegation 1920 mit 70 % angegeben. Damit ist aber das eigentliche Russland gemeint, doch dürfte der Wert für das Gebiet des Zarenreiches 1913 – das Referenzjahr für die meisten Indexvergleiche – nicht wesentlich anders gewesen sein. Die Erwerbsquote nach „Branche“ sagt aber wenig aus. Gerade auf politischer Ebene zeigt sich, dass die Stadt das Zentrum der Staatsmacht war und das Land deren Objekt. Das wäre auch so gewesen, wenn die Industrie nur 16 % der Erwerbstätigen des Landes gestellt hätte. Wir werden weiter unten die entsprechende Analogie zu der politischen Geografie der Französischen Revolution anwenden.71 Abstrakt formuliert: Der Aufstieg des Kapitalismus nahm dem flachen Land dessen politische Bedeutung, die es vor Jahrhunderten im Feudalismus innehatte. Anders verhält sich die Sache, wenn wir die ökonomische Bedeutung der bäuerlichen Produktion gegenüber der Industrieproduktion hernehmen. Denn die industrielle Produktion mit um 16 % Anteil der Industriearbeiter an den Erwerbspersonen ist vor allem das Ergebnis des Booms der 1890er und der 1910er Jahre bis zum Ausbruch des Krieges. Zwischen 1867 und 1913 fielen die relativen Preise für Industriewaren eher als jene für Getreide und es scheint, die Exporterlöse für Getreide vor allem während der Jahrzehnte vor dem Krieg, halfen mit, industrielles Kapital ins Land zu holen – ein Muster, das sich Anfang der 1930er Jahre unter ganz anderen Eigentumsverhältnissen und in anderen Dimensionen wiederholen sollte.72 In allen vorindustriellen und frühindustriellen Gesellschaften spielt die Agrarproduktion geradezu zwangsläufig eine prägende Rolle für die gesamte ökonomische Entwicklung. Die Frage, wer am Lande wie und unter welchen Verhältnissen produziert, ist der Schlüssel für das Verständnis der Eigentumsentwicklung und aus diesem Grunde kam in diesem Buch der Begriff „Bauer“ nicht gerade selten vor. Heute nur noch ein Beruf unter vielen anderen, damals eine Klasse, aus der es für das Individuum so gut wie kein Entrinnen gab. Die Scholle klebte schwer am Schuh – sozusagen. Und eine Klasse, zu der alle anderen der Gesellschaft in einer folgenreichen und langfristigen Beziehung standen. Doch bei aller Trägheit der historischen Entwicklung: Gerade die Bauern Russlands (hier gemeint als Synonym des Territoriums des gesamten Staatsgebietes) machten zwischen 1860 und 1930, und diese Jahre umfassen eine im historischen Maßstab ganz kurze Phase, gleich mehrere Umwandlungen ihres Eigentums mit: einmal als Folge der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 von feudalen zu bürgerlichen, dann 1917 von bürgerlichen zu kleinbürgerlichen und dann 1928-1932 von kleinbürgerlichen zu sozialistischen Eigentumsverhältnissen. War jemand 1928 gerade großjährig und trat in eine Kolchose ein, so erlebten die Großeltern noch die Leibeigenschaft. Gleich vorweg: Der hier angeführte Eigentumswandel von 1917 ist in der Literatur nicht etabliert. Üblicherweise werden die ökonomischen Folgen der Landumverteilung durch das Bodendekret von 1917 analysiert, aber nicht als Wandel der gesamten Eigentumsform. Die meisten Autoren – auch marxistischer Provenienz – nehmen hier „bürgerlich“ und „kleinbürgerlich“ als eine Sache und wenn nicht, dann unterscheiden sie beide Eigentumsformen in dem Sinne, dass zwischen 1917 und 1932 bürgerliches Eigentum in den Händen des (bäuerlichen) Kleineigentums bestanden hätte. Das ist sehr naheliegend und beschreibt auch tatsächlich die Eigentumsumwälzung … nämlich der Französischen Revolution vom Sommer 1789! Wir kommen gleich zu diesem Punkt. Nicht überall in Russland herrschten vor 1861 Feudalverhältnisse auf dem Lande. Im fernen Osten und im Süden gab es auch Gebiete mit Bauern ohne Feudalzwänge – vermutlich Siedlergemeinschaften einer Art der Binnen-Kolonisation. Im Westen, etwa in einigen baltischen Gebieten, war die Bauernbefreiung bereits Geschichte, sie fand im frühen 19. Jahrhundert unter Alexander I. statt. Vermutlich sah sich hier der Zar keiner „russischen“ Aristokratie verpflichtet. Und hier hatten die Jahrhunderte des Ostseehandels starke bürgerliche Stützpunkte in der Gesellschaft gesetzt. Das Baltikum gelangte erst im Zuge des nordischen Krieges (1700–1721) unter die Oberhoheit des Zaren und Kurland erst nach der Dritten Polnischen Teilung 1795. „Am 18. Oktober 1816 ließ Kaiser Alexander I. die Befreiung der Landbevölkerung Estlands verkünden. Bereits am 8. Juni hatte er einem Schreiben Unserem Ehstländischen Adel mitgeteilt: ‚Der Ehstländische Adel hat Uns bereits im Jahre 1811 den Wunsch geäussert, den Zustand seiner Bauern gesetzlich zu begründen und ihnen Rechte zuzueignen welche die Person und das Eigenthum derselben sicherstellen (…)‘. Das Gesetz sah einen Zeitraum von vierzehn Jahren vor, in dem die Freiheit und die Freizügigkeit erfolgt sein sollten. In dem Befreiungsedikt hatte die estländische Ritterschaft endgültig dem Recht an der Person jedes Bauern entsagt, dafür aber das alleinige Recht an dem Besitz des gesamten Grund und Bodens erhalten. Alle Einschränkungen im Landverkauf, die 1805 zum besonderen Schutz der bäuerlichen Bevölkerung eingerichtet worden waren, wurden nun zugunsten des freien Vertrags aufgegeben, von dem man sich den erwarteten großen wirtschaftlichen Durchbruch versprach.“73 Dass die nun bürgerlichen Eigentümer adeligen Standes den gesamten Grund und Boden bekamen, ist allerdings beachtlich. Denn das würde bedeuten, dass die nun selbstständigen Bauern überhaupt keinen Boden ihr Eigen nennen durften. Vermutlich verblieb ein Teil auf dem Neueigentum, lebte als Knechte oder aber zahlte Pacht, um ein eigenes Stück Land bebauen zu können. Aus einem (möglicherweise) ursprünglichen Kollektivbesitz (im Rahmen des Feudalverhältnisses) wurde Privatbesitz. Aber eben kein Privateigentum in den Händen der Bauern, sondern der Gutsherren, die somit zu Agrarbourgeois mutierten. Mit einigen Abstrichen zeigte die große Bauernbefreiung 1861 im Zentralraum Russlands ähnliche Konsequenzen. Nur dass hier die Bauern die eine „Hälfte“ des Landes und die Herren die andere „Hälfte“ des ehemaligen Feudalgebietes erhielten, wenngleich vermutlich die weniger aufgeschlossenen Striche, wie etwa Wälder. Die Reform 1861 sieht für die Bauern etwas günstiger aus als die Reform von 1816. Aber auch bei der „Großen“ Reform verloren die Bauern Zugang zu Grund und Boden. Selbst wenn sie im Feudalverhältnis diesen nicht als Eigentum nutzen konnten, so konnten sie ihn immerhin nutzen. Nun hatten die Bauern die Nutzungsrechte jenes Teils der Fläche verloren, die nun bürgerliches Privateigentum ihrer ehemaligen Herrschaften geworden war. Wenn überhaupt konnten sie die Nutzungsrechte nur zurückkaufen. Dieser Verlust zeitigte mehrere Konsequenzen. Einerseits machte sich eine gewisse Entvölkerung des Landes bemerkbar, zumindest im europäischen Russland. Teils nahm so die Stadtbevölkerung zu – aus den Feudalbauern wurden Proletarier. Anderseits nahm die Binnenkolonisation zu – aus Feudalbauern wurden Farmer in Sibirien. Die „Teestraße“ führte von Moskau beginnend über Perm, Omsk, Tomsk bis nach Irkutsk. Und dann: Auf dem ehemaligen Feudalland wurde einerseits die Allmende immer wichtiger. Der kollektiv nutzbare Teil des Ackers wurde zum Besitz (aber nicht Eigentum) der nun freien Bauern. Anderseits wurden die Bauern Privatbesitzer (aber nicht Eigentümer) des Gutsherrenlandes: Sie zahlten Pacht. Oder aber sie zahlten die Pacht in Form von Arbeit für den Eigentümer – was den Bauern ein klein wenig an die alte Fronarbeit erinnern mochte. Auch das sehen wir bereits bei der kleinen Bauernbefreiung Alexanders I.: „(…) trat die baltische Agrargesetzgebung zwischen 1795 und 1805, insbesondere zwischen 1816 und 1819, in ein entscheidendes Stadium. Während in den Verordnungen von 1802 bis 1804 noch die bäuerliche Schollenpflichtigkeit festgelegt war, erhielten 1816 die Bauern in Estland, 1817 in Kurland und 1819 in Livland die Freiheit, jedoch ohne Land, das Eigentum der Gutsbesitzer blieb. Die Bodennutzung durch die Bauern erfolgte nun auf der Grundlage der Pachtverträge, wobei die Pacht als Fronpacht in Arbeitsleistung zu erbringen war.“74 Der letzte Halbsatz ist bemerkenswert: „(…) wobei die Pacht als Fronpacht in Arbeitsleistung zu erbringen war.“75 Und dieselbe Quelle zusammenfassend: „Die Freisetzung der Bauern in den Ostseeprovinzen (…) schuf einen...


Martin Seelos (Jahrgang 1965) arbeitet unter anderem als Redakteur in Wien. Er betreut seit 2009 Blogs zu Fragen der Weltwirtschaft, der Alltagskultur und der Theorie der Planwirtschaft. Seit Beginn der 2000er Jahre beschäftigte sich der Autor mit der Methodologie in "Das Kapital" und anderen Texten von Karl Marx. Martin Seelos schrieb Beträge für verschiedene Plattformen und Zeitschriften, so etwa anlässlich der Weltwirtschaftskrise 2008/09 eine Artikel-Serie für Dolmeç, die deutschsprachige Beilage einer türkischen Monatszeitung.


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