Seeßlen | Is this the end? | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Seeßlen Is this the end?

Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-86287-217-6
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Zeit meines Lebens habe ich Pop geliebt und gehasst. Pop war hier Befreiung und da Unterdrückung, hier Explosion der Wahrhaftigkeit und dort Implosion der Verlogenheit. Pop bewahrte das innere Kind und förderte die Vergreisung, Pop rebelliert und korrumpiert. Pop konstruiert die kleinen Unterschiede der Klassen und setzt sich über die gesetzten Grenzen hinweg. Pop ist universal, regional und national; Pop macht einfach alles mit, denn es ist der Ausdruck des Kapitalismus in der Demokratie, wie es der Ausdruck der Demokratie im Kapitalismus ist. Ohne Pop würde es diese prekäre Einheit gar nicht geben, und ohne Pop wären die Spannungen zwischen beiden nicht auszuhalten. Zugleich aber reagiert Pop auf die Brüche und Widersprüche, wie es keine "Hochkultur" und keine Wissenschaft kann. Jede Erkenntnis und vor allem Selbsterkenntnis einer Gesellschaft ist in ihrem popkulturellen Sektor "irgendwie" schon da. Pop ist das Klügste und gleichzeitig das Dümmste, was wir haben und was wir kennen.
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PREKARIATSBLUES
Oder: Pop und die Klasse, die keine ist
I
Kein guter Witz: Treffen sich ein Popkritiker und eine Aushilfsverkäuferin beim Bäcker (mit Bild- und Heimatzeitung sowie Post-Service) und wechseln, wenn es ein guter Tag ist, ein paar Worte über das Wetter oder neue Ereignisse im Viertel. Im Hintergrund belegt eine Frau mit Kopftuch die Brötchen, die sich die arbeitende Bevölkerung zum Coffee-to-go gönnen soll; sie spricht überhaupt nicht, sondern reagiert stumm auf Regeln und Anweisungen. Dann geht jeder wieder in seine Welt. Jeder ist überzeugt, dass die der anderen sehr seltsam sein muss. Dabei wären sie alle drei politisch und ökonomisch dazu durchaus bestimmt, gemeinsam für ihre Rechte, gegen ihre Ausbeutung, gegen die politische Ausblendung ihrer Situation zu kämpfen. Wenn sie nämlich ihr Leben ansehen würden, dann würden sie viel gemeinsames erkennen: Der Blick auf den Kontostand, schwankend zwischen zäh erarbeitetem kleinen Plus und rapide anwachsendem Minus, das schnell eine Spirale der Verschuldung auslösen kann, aus der man so leicht nicht mehr herauskommt. Dass man »schlecht bezahlt« wird, heißt nicht nur, dass es zu wenig ist, sondern auch, dass es zu unzuverlässig ist, um die Planung über die eigene »Erwerbsbiographie« zu ermöglichen. Die Sorge darum, von Behörden, Banken, Versicherungen, Vermietern usw. als »kredit-« bzw. »vertrauenswürdig« betrachtet zu werden oder eben nicht. Die Angst davor, dass man nächste Woche nicht mehr gebraucht wird oder durch jüngere, billigere und willigere Nachfolger ersetzt wird. Die Gesellschaft weist dir keinen Status zu, sondern kontrolliert unentwegt deine Augenblicklichkeit. Die Angst vor dem Fehler, der Missgunst, dem Mobbing, was einen so schnell wieder »freistellt«, wie man seinen befristeten und ungesicherten Job bekommen hat. Und wo es Freundschaft und Solidarität gibt, entfaltet es sich aufgrund anderer – vielleicht popkultureller – Codes als diejenigen, die sich aus gemeinsamer Arbeit ergeben. Die Abhängigkeit von der »Bedarfsgemeinschaft« (so heißt im Bürokratensprech die Familie), in der jeder Ausfall eine Katastrophe bedeutet und in der immer die einen die anderen »mitschleppen«, die sich ihrerseits dafür schämen und an die Grenzen der Solidarität in Familie und Freundeskreisen denken. Die Abhängigkeit aber auch von der Firma, dem Unternehmen, dem Projekt, die selber auf Wolkensäulen stehen, und auf jede Forderung mit dem Hinweis auf den eigenen Ruin und damit natürlich auch dem Verlust der Arbeitsplätze von Kollegen und Kolleginnen drohen. Die Unmöglichkeit, ernsthaft Vorsorge für die kommenden, möglicherweise noch schlechteren Jahre zu treffen. Das entschiedene Empfinden, dass das eigentliche Leben woanders stattfindet. Die Erfahrung vollkommener Gleichgültigkeit seitens der Politik, der Regierung und der Parteien, denen unser Leben scheißegal ist, solange wir uns nur brav verhalten und die Arbeitslosenstatistik nicht belasten. Welchen Sinn macht für uns »Wählen«? Welchen Sinn macht Demokratie jenseits von Gewohnheit und Moral? Das Sprechen über die eigenen Arbeitsbedingungen bedeutet die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, und das gilt für »freie Mitarbeiter« im Kulturbetrieb so sehr wie für Paketboten, Erntehelfer oder Putzkräfte. Die Rechtlosigkeit, die Organisationslosigkeit, die Medienlosigkeit. Die Sorge darum, den letzten Schritt nach unten zu tun oder Erwartung und Verantwortung nicht gerecht werden zu können. Die Alleinerziehenden, die mit den Pflegefällen in der Familie, die Hereingefallenen des Konsums usw. Schweigen wir von den Kranken, den Beeinträchtigten, den Alten, denen, die nicht mehr mitkommen, nicht einmal auf der Ebene unserer prekären Flexibilität. Die Unfähigkeit, über die Lebensfalle zu sprechen, in die man geraten ist oder in die man gleich hineingeboren worden ist. Das Wissen, dass die Alltagspraxis des Überlebens nicht das Geringste mit den allgemeinen Selbstbildnissen dieser Gesellschaft zu tun hat. Vieles von dem, was in den Mainstream-Medien verhandelt wird, stellt sich von uns aus als Luxusproblem dar. Die vagen Hoffnungen, die uns an manchen Tagen aufrecht erhalten, die Hoffnung darauf, dass vielleicht doch noch der große Auftrag kommt, ein Lotteriegewinn, oder ein Traumjob. Denn unser Leben ist nicht einfach ein langer, gerader Weg nach unten, sondern eine bizarre Achterbahn, die immer wieder Ups und Downs hat. Wir lassen uns die Hoffnung nicht ausreden, dass sich alles zum Guten wenden wird. Daher ist es besser, nicht zu viel miteinander zu sprechen, jedenfalls darüber nicht, denn wenn man erkennt, wie ähnlich unsere Lage ist, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit einer subjektiven Verbesserung. Auf jeden Fall wird hier nicht herumgejammert! Die kleine Gier danach, etwas vom Leben zu haben, etwas Gedrängtes und Spektakuläres; da ist es schnell wieder weg, das Geld, das so mühselig erworben wurde, und daneben steht der hämische Lohnarbeiter in fester Anstellung, der bemerkt: Die haben offenbar immer noch zu viel Geld! Sparen jedenfalls macht für uns kaum einen Sinn, das Geld reicht nicht einmal für die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft. Deswegen muss man sich beeilen, etwas Großes zu erleben. Aber was ist groß? Wer anders als unsere Me­dien kann es uns sagen? Was bleibt zwischen Traumschiff und Nagelstudio? Zwischen Piercing und Oktoberfest? Wir, die »Prekären«, egal ob es sich um ein Luxusprekariat ewiger Praktika handelt, das zwar Ausbeutung hoch drei aber doch ein Privileg des Dabeiseins und Wichtigtuns bedeutet, oder das Elendsprekariat, in dem man sich in immer weitere Armut hineinschuftet, wir Prekären werden von der Elite der Lohnarbeiter, Leistungsträger und Belegschaften miss- und verachtet. Oder zumindest fühlen wir uns so. Der Popkritiker, die Aushilfsverkäuferin und die Küchenhilfe haben davon gewiss sehr unterschiedliche Ideen. Denn so sehr sie einander durch ihre ökonomische Situation ähnlich sind, und so sehr sie unter der gleichen Ignoranz der politischen und gesellschaftlichen Institutionen leiden (einschließlich der »linken«), so sehr sie also Elemente der gleichen ökonomischen Klasse (oder Nicht-Klasse) sind, so unterschiedlich, so weltweit voneinander entfernt sind ihre kulturellen Schnittstellen. Nicht einmal reden könnten sie miteinander von den Bildern ihrer Träume, jedenfalls nicht, wenn es darauf ankäme, von den jeweils anderen auch verstanden zu werden. (Schon deswegen muss ein leeres Sprechen entwickelt werden.) Das Klischee ist ganz einfach. Der Popkritiker schwadroniert über THE XX, die Aushilfsverkäuferin hört Helene Fischer, und die Frau mit dem Kopftuch nur Nostalgisches aus der Heimat. Aber vielleicht ist ja alles ganz anders, und die Aushilfsverkäuferin spielt in einer New Wave-Band, die Frau im Kopftuch übersetzt Lyrik und unsere Popkritik hängt heillos in einer 80er-Jahre-Schleife fest. Als Wahrheit bleibt nur: Wir wissen zu wenig voneinander. Und die zweite Wahrheit ist: Das ist kein Zufall, dass wir schwer zu einer gemeinsamen Sprache kommen. Das Prekariat ist die Sphäre der entwerteten Arbeit und der entrechteten Menschen. Es ist eine Klasse, die keine Partei und keine Organisation, kein Projekt und kein Bewusstsein hat. Es ist die Klasse der nachhaltig Vereinzelten. Es gibt das akademisch-kulturelle Prekariat, es gibt das Dienstleistungsprekariat, es gibt das digital-»kreative« Pre­kariat, es gibt das industrielle und post-industrielle Preka­riat, und nicht zuletzt gibt es ein landwirtschaftliches Prekariat (das in Mitteleuropa gern der Migration und den »Ille­ga­len« überlassen wird: der hier gnadenlos Ausgebeutete muss anderswo noch eine Familie mit ernähren). Allein im Bereich der »kreativen Kunst« leben in Deutschland im Jahr 2017 1,6 Millionen Menschen (3,3%), von denen ein paar hundert recht gut verdienen, der Großteil aber in prekären Verhältnissen, und davon bis zur Hälfte wiederum so, dass man von seiner Arbeit allein den Lebensunterhalt auf absehbare Zeit nicht bestreiten können wird. Das Durchschnittseinkommen der in der Künstlersozialkasse Versicherten betrug 2016 15.945 Euro, das der männlichen Mitglieder 18.079, das der weiblichen 13.621, und nicht minder gravierend: Das Jahresdurchschnittseinkommen von unter 30jährigen betrug 11.960; in der Sparte Musik sind es bei den unter 30jährigen gar nur 10.955. Alle diese Erfassten erreichen nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn von 17.690 Euro. Die Hälfte aller in der Kulturbranche beschäftigten Menschen hat einen festen Arbeitsplatz; von den freiberuflich Tätigen wiederum arbeiten zwei Drittel in prekären Verhältnissen. Die Entwicklung ist so dynamisch, dass jeder Nicht-Prekäre vor seiner Prekarisierung bangen muss, vor allem dann, wenn er oder sie die Lebens- und Arbeitsbedingungen kritisiert und das tut, was einst von Kultur und Pop am meisten verlangt wurde: Haltung zeigen. Es ist also nicht nur so, dass eine wachsende Anzahl von prekarisierten Menschen den der Prekarisierung angemessenen Pop benötigt, sondern Pop seinerseits ist ein Motor der Prekarisierung. Die Produzenten der Popkultur leben die neoliberale Mythologie auf eine verschärfte Weise vor und reden sich dabei auf ein »arm aber sexy« heraus; all das, was das Kapital von den neuen Arbeitnehmern erwartet, flexibel, risikobereit, anpassungsfähig und immer auf dem Sprung zur großen »Selbstverwirklichung«, das wird auch vom Pop-Produ­zen­ten erwartet, worunter wir nun eine große Entourage der Abhängigen um die eigentlichen Acts mit verstehen wollen. Der Popkritiker, die Aushilfsverkäuferin und die Brötchenbelegerin mit Kopftuch – sie verbindet nicht nur die Trostbedürftigkeit, sondern auch die...


Georg Seeßlen, 1948 in München geboren, ist Autor zahlreicher Bücher, Feuilletonist und Film- und Kulturkritiker. Er schreibt u.a. für die Die Zeit, taz, konkret, jungle world, Spex.


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