Sen / Staats / Wassermann | Utopien Sozialer Arbeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 519 Seiten

Reihe: Soziale Arbeit und gesellschaftliche Transformation

Sen / Staats / Wassermann Utopien Sozialer Arbeit

E-Book, Deutsch, 519 Seiten

Reihe: Soziale Arbeit und gesellschaftliche Transformation

ISBN: 978-3-7799-8208-1
Verlag: Beltz Juventa
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und individuelle Selbstbestimmung sind einige der utopischen Momente, denen sich Soziale Arbeit in ihren Selbstpositionierungen verschrieben hat. Sie sind unverzichtbar für eine Profession, die mehr sein will als ein Reparaturbetrieb für die Folgen destruktiver ökonomischer Dynamiken und gesamtgesellschaftlicher Fragmentierungsprozesse. Im vorliegenden Band werden utopische Impulse aus verschiedenen Bereichen vorgestellt, mit denen bewährte Pfade fortgeschrieben, verengte Perspektiven erweitert und die Professionsidentität Sozialer Arbeit gestärkt werden können.

Katrin Sen (Dr. phil.) ist seit 2020 als Professorin an der IU Internationale Hochschule (Frankfurt am Main) am Fachbereich Soziale Arbeit tätig. Zuvor arbeitete sie von 2013 bis 2020 als Referentin für Soziale Stadtteilentwicklung und Gemeinwesenarbeit bei der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Soziale Brennpunkte Hessen e.V. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Teilhabe im Quartier, Migrations- und gerontologische Forschung sowie politische Jugendbildung. Martin Staats ist Mitarbeiter der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Thüringen e.V. (AGETHUR).
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Die Utopie als Zivilisierungsstrategie?
Ein Beitrag zum »guten, gelingend(er)en Leben« Martin Staats, Martin Wagner  1.Einleitung und Problemstellung 
Der utopische Raum ist dem Menschen immanent. Er trägt die Hoffnung auf Zukunft in sich und wird nicht nur in Wissenschaft, sondern auch in der Kunst genutzt. Bereits Karl Valentin formulierte einst: »Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen«. Der Kognitionspsychologe und Unternehmensberater Peter Kruse brachte es in anderer Weise auf den Punkt: »Wir segeln auf Sicht« (Kruse 2015, o. S.).  Die eine Seite des Problems des »Segelns auf Sicht« betrifft die Unfähigkeit des Menschen, in die Zukunft zu schauen, sichere Prognosen abzugeben oder gar Entwicklungs- oder Veränderungsprogrammatiken mittel- und langfristiger Orientierung zu erstellen. Die andere Seite des Problems liegt in dem Grundbedürfnis nach Orientierung für das individuelle und kollektive Denken, Entscheiden und Handeln. Der Psychoanalytiker Eric Berne fasst dies in zwei Grundbedürfnissen des Menschen zusammen: dem nach »sozialen Verbindungen« und dem nach »Strukturierung der Zeit« (Berne 1970, S. 12 ff.)  Der Kulturanalytiker Bazon Brock führt beide Seiten nun in seiner Definition von Kommunikation zusammen: »Orientierung in einer Welt, die man nicht zu verstehen braucht«. Das heißt: Wir müssen kommunizieren, »weil wir weder uns noch andere noch die Welt tatsächlich verstehen können« (Brock 2002, S. 518 ff.).1 Dieses Nicht-verstehen-Können unserer eigenen menschlichen Psyche und somit der sozialen Umwelt verstärkt sich durch die zunehmende Vernetzung der Weltgesellschaft, verstanden als zunehmende Komplexität der Gesellschaften, verbunden mit abnehmender Wiederholbarkeit und somit abnehmender Planbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung.2 Dies durchzieht den nachfolgenden Text als sogenanntes Komplexitäts- und Planungsproblem. Es gilt also, kommunikative Mittel und Wege zu finden, die Zukunft auf die Gegenwart zu beziehen und jene als Zielhorizont für heutiges Leben zu nutzen. Die Zukunft kann uns »Orientierung in einer Welt« bieten, die wir aufgrund des Komplexitäts- und Planungsproblem nicht vollumfänglich verstehen können. Hier kommt der Begriff der Utopie ins Spiel, »als Konsequenz des historischen Denkens«, als Form, »mit der Zukunft zu denken« (Brock 2002, S. 34). Dieser Beitrag beginnt mit einer Annäherung an den Utopie-Begriff und entwickelt diesen weiter zur Zivilisierungsstrategie. Als ein Angebot dieser zivilisatorischen Orientierung soll die Utopie des guten, gelingend(er)en Lebens in den Diskursraum gestellt werden, welche wiederum abschließend kritisch diskutiert wird.  2. Was ist eine Utopie? Ein Versuch der begrifflichen Abgrenzung 
Utopie heißt nichts anderes als »vergegenwärtigte Zukunft« (Brock 2002, S. 34). Eine alltagspraktische Sichtweise gibt sich jedoch allein mit einer vergegenwärtigten Zukunft nicht zufrieden, sondern verbindet den Begriff der Utopie zusätzlich mit der (verklärten?) Vorstellung, dass die Zukunft besser sein könnte oder sogar müsste als der gegenwärtige Blick auf die Vergangenheit. Im erweiterten Sinne sind Utopien damit Ausdruck von Hoffnungen auf Veränderung zum Besseren, meist in langfristiger Hinsicht. Am Beispiel von Huxleys »Brave new world« (Huxley 2022) wird allerdings auch deutlich, dass die Verwirklichung einer Utopie zum Besseren eben auch zur Dystopie3 werden kann oder sich Teile dieser als solche herausstellen. Da der Mensch, wie in der Problemstellung angedeutet, eben nicht die Zukunft vorauszusagen im Stande ist, sollte zunächst auch in der Vorwegnahme der Zukunft sowohl der Weg zum Besseren als Utopie als auch der Weg zum Schlechteren, als Dystopie, in Betracht gezogen werden.  Was heißt nun aber »besser« oder »schlechter«, wenn es um unsere vorweggenommene Zukunft geht? Die Adjektive »besser« und »schlechter« sind Komparative der Wörter »gut« und »schlecht«, womit auf einen Vergleich verwiesen wird, was dem Utopie/Dystopie-Begriff, aufgrund der Veränderlichkeit und Selbstreferenzialität möglicher Vergleichsbezüge oder Bewertungsmaßstäbe,4 zusätzlichen Problemgehalt verleiht. Dieses Komparativ-Problem des »Besser-Als« oder »Schlechter-Als« zeigt sich beispielhaft am materiellen Wohlstand als einem möglichen und gleichzeitig weitverbreiteten Maßstab des guten Lebens. Die Utopie eines »besseren« Lebens wurde seit der europäischen Industrialisierung zunehmend durch die Ideen der Marktwirtschaft, der Industrie- und später der Konsumgesellschaft geprägt (Weidekamp-Maicher 2008), gleichzeitig aber auch mehr und mehr infrage gestellt. Aufgebaut wurde es auf der Erkenntnis, dass ein immer weiter und grenzenlos sowie teilweise exponentiell steigendes materielles Wachstum – ökonomisch, ökologisch und sozial – nicht realisiert werden kann, ohne Folgeschäden zu verursachen. Nicht erst seit dem bekannten »Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit« (Meadows/Meadows/Randers/William 1972) ist die Sättigungsfähigkeit von Märkten, als Sättigungsfähigkeit individueller Konsumbedürfnisse verstanden, und deren Konsequenzen für die Menschheit ein Thema in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Bereits im Jahr 1854 wies Hermann Heinrich Gossen (Gossen 1927) in seinem ersten Gossen’schen Gesetz, oder auch Sättigungsgesetz genannt, darauf hin, nachdem im Jahr 1767 schon Anne Robert Jacques Turgot in seinem Ertragsgesetz ähnliche Sättigungstendenzen erwähnte. Materieller Wohlstand und Sättigungstendenzen einerseits, gutes Leben andererseits: Es liegt die Vermutung nahe, dass die Steigerung des materiellen Wohlstands allein nicht automatisch zur proportionalen Verbesserung des guten Lebens führt, sobald man dieses als ein komplexes bio-psycho-sozio-spirituelles Phänomen (Staats 2022, S. 796 ff.) versteht, im Sinne eines guten, gelingend(er)en Lebens, als zentralem Gegenstand des vorliegenden Textes.  Der Begriff der Utopie wird zudem vielfach in aktuellen Gesellschaftsdiskursen, so zum Beispiel in juristischen (Berta 2022) ebenso wie in theologischen (Meireis/Wustmans 2023), in ökonomischen (Martignoni 2022) oder auch in pädagogischen (Steffel 2023) Kontexten verwendet. Neben inhaltlichen Aspekten von Utopien geht es dabei vorrangig auch um methodische Aspekte, als Frage nach dem Umgang mit bzw. nach dem Zweck von Utopien. Sind Utopien also als Vorlagen ihrer eigenen Umsetzung, als Programmatik zur Realisierung zukünftig geltender Wahrheitsansprüche zu verstehen? Die Geschichte der vergangenen 120 Jahre zeigt, welche fatalen Konsequenzen als Programmatik missverstandene Utopien zeigen können (Brzezinski 2015; Friedman 2020; Münch 2022). Utopien werden im vorliegenden Text also nicht als Programmatik einer Wahrheitsrealisierung verstanden, sondern als »das Potential der Kritik an behaupteten Wahrheitsansprüchen von Zeitenlenkern und -gestaltern« (Brock 2002, S. 35): Utopien sind somit als Mittel zur Wahrheitskritik zu nutzen und nicht als Weg zur Wahrheitsrealisierung misszuverstehen.  Neben inhaltlichen und methodischen Aspekten des Utopie-Begriffes müssen auch differenzierende Bezüge zu ähnlichen Begriffen hergestellt werden, zum Beispiel zu Begriffen wie Mythos, Ideologie, Vision, Strategie und Ziel. Der Mythos wird hier als ein »urheberlos gewordener Aussagenzusammenhang« verstanden, Mythologisieren demnach als ein »Urheberloswerden von Aussagenzusammenhängen, von denen jeder weiß, daß [sic!] sie irgendwann von konkreten Individuen geschrieben, gemalt oder gezeichnet wurden« (Brock 2002, S. 524). Genau hier stellt sich ein zentrales Unterscheidungskriterium zwischen Utopie und Mythos heraus: Die Utopie muss auf einen konkreten Urheber verweisen, um sich von einem Mythos zu unterscheiden und als Orientierung der Wahrheitskritik wirksam werden zu können. Darüber hinausgehend muss die Zeitdimension berücksichtigt werden – einerseits der Vergangenheitsbezug des Mythos und andererseits...


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