Sen | Zuhause in der Welt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Sen Zuhause in der Welt

Erinnerungen

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-406-79090-4
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Indien in den dreißiger und vierziger Jahren: Ein ziemlich intelligenter Junge beobachtet hellwach alles, was um ihn herum geschieht: die Tiere im Dschungel ebenso wie die bedrohlichen Spannungen zwischen Hindus und Muslimen, die nichts Gutes für die Zukunft verheißen. Atmosphärisch dicht schildert Amartya Sen seine Kindheit und Jugend im heutigen Bangladesch und nimmt uns mit in die Abenddämmerung der britischen Kolonialherrschaft. Von dort führt der Bogen dieser wunderbaren Erinnerungen nach Cambridge und hinaus in die Welt, zu Menschen und Orten, die Sen inspiriert haben. Ein Weltbürger und Humanist par excellence erzählt sein Leben und zeigt, warum "Zuhause" weit mehr sein kann als nur der Ort, an dem wir geboren wurden.

Amartya Sen wäre nicht Amartya Sen, wenn er nicht auch in seinen Memoiren eine Botschaft bereithielte: Es gibt nicht nur die eine Identität, und es gibt nicht nur ein Zuhause. Wir sind aus vielen Erfahrungen und Eigenschaften zusammengesetzt, und dieser Reichtum ist ein Schatz, den wir mit anderen teilen können. Ob Sen mit John Maynard Keynes diskutiert oder mit einer Zufallsbekanntschaft auf einer Rheinfahrt, überall sieht er mit immergleicher Neugierde und Offenheit das, was er noch lernen kann, würdigt Argumente oder resümiert mit Meisterhand die kompliziertesten philosophischen Fragen so, dass auch ein Laie sie versteht. Anders als viele Erinnerungen berühmter Männer ist sein Buch keine Galerie der Celebrities, sondern etwas anderes: eine animierende Schule des Sehens, des Mit-Denkens und Engagements und nicht zuletzt auch eine Schule jener schwierigsten aller Künste – der heiteren und gelassenen Lebenskunst.
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1. Dhaka und Mandalay
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«Wo, denken Sie, sind Sie zuhause?», fragte mich ein Interviewer der BBC in London, als wir uns für die Aufzeichnung vorbereiteten. Er las in einer Art Biographie von mir. «Sie sind gerade von einem Cambridge zum anderen gewechselt – und von Harvard ans Trinity College; Sie haben jahrzehntelang in England gelebt, sind aber immer noch indischer Staatsbürger mit – so nehme ich an – einem Pass voller Visa. «Wo sind Sie also zuhause?» Das war 1998, kurz nachdem ich Master am Trinity College geworden war (im Übrigen der Anlass für das Interview). «Gerade fühle ich mich genau hier sehr zuhause», sagte ich, und erklärte, dass ich schon seit langem mit dem Trinity verbunden sei, da ich dort erst Student, dann Forschungsstudent, Forschungsstipendiat und schließlich Dozent gewesen war. Aber ich fügte hinzu, dass ich mich auch in unserem alten Haus in der Nähe des Harvard Square im anderen Cambridge sehr heimisch gefühlt hatte, und dass ich auch Indien als Heimat empfinde, vor allem unser kleines Haus in Santiniketan, wo ich aufgewachsen bin und wohin ich immer wieder sehr gerne zurückkehre. «Dann haben Sie also keine Vorstellung von Heimat!», sagte der Mann von der BBC. «Im Gegenteil», erwiderte ich, «ich habe mehr als einen Ort, an dem ich mich zuhause fühle, und ich teile Ihre Anschauung nicht, dass es ausschließlich eine einzige Heimat gibt.» Der BBC-Interviewer sah ganz und gar nicht überzeugt aus. Ähnlich ablehnende Reaktionen habe ich bei meinen Versuchen erlebt, andere Fragen nach eindeutiger Identifikation zu beantworten. «Was ist Ihr Lieblingsessen?» wollte man von mir wissen. Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten, aber ich entschied mich meist dafür, etwas von Tagliolini con Vongole oder Szechuan-Ente zu murmeln, und natürlich von Ilish Mach – das, was die Engländer in Indien «Hilsha Fish» zu nennen pflegten, indem sie sich Freiheiten mit den Aspiraten erlaubten (was die Engländer oft tun). Aber ich erklärte weiter, dass es korrekt auf Dhaka-Art, mit zerstoßenen Senfkörnern zubereitet werden muss. Diese Antwort stellte die Fragenden nicht zufrieden. Sie bohrten weiter: «Aber welches ist wirklich Ihr Lieblingsessen?» «Ich mag sie alle», entgegnete ich, «aber ich würde mich nicht nur von einem einzigen ernähren wollen». Meine Gesprächspartner waren meist nicht der Auffassung, dass sie von mir eine vernünftige Antwort auf eine gute Frage erhalten hatten. Wenn ich jedoch Glück hatte, erntete ich bei der Diskussion über das Essen ein höfliches Nicken – das geschah jedoch niemals, wenn es um etwas so Ernstes wie «Heimat» ging. «Aber Sie haben doch sicher einen ganz bestimmten Ort, an dem Sie wirklich zuhause sind?» 2
Warum soll es nur ein Ort sein? Vielleicht fühle ich mich überall zu schnell wohl. Im traditionellen Bengali hat die Frage «wo ist Deine Heimat?» eine präzise Bedeutung – eine, die sich von jener, die in der englischen Frage eigentlich steckt, komplett unterscheidet. Heimat – «ghar» oder «badi» – ist dort, wo Deine Familie seit mehreren Generationen herstammt, auch wenn Du und Deine unmittelbaren Vorfahren an einem anderen Ort leben. So ist es auf dem gesamten Subkontinent Usus, und wenn diese Frage in Gesprächen auf Englisch aufkommt, dann wird die Vorstellung dahinter manchmal in die anschauliche Bildsprache übersetzt, die sich das indische Englisch zu eigen gemacht hat: «Where do you hail from?» («Woher stammst Du?») Deine «Heimat» könnte ein Ort sein, von dem frühere Generationen Deiner Vorfahren ursprünglich herstammten, auch wenn Du selbst noch nie dort gewesen bist. Meine Familie lebte in der Stadt Dhaka, als ich zur Welt kam, aber ich wurde nicht dort geboren. Das war im Spätherbst 1933, einem Jahr, in dem man in Europa, wie ich später erfahren sollte, sehr schnell sein Zuhause verlor. 60.000 Menschen aller Berufsstände – Autoren, Künstler, Wissenschaftler, Musiker, Schauspieler und Maler – emigrierten aus Deutschland, meist in andere europäische Länder und nach Amerika. Einige – vor allem Juden – gingen auch nach Indien. Dhaka, das heute eine lebendige, weitläufige und etwas verwirrende Stadt, außerdem die dynamische Hauptstadt von Bangladesch ist, war damals ein ruhigerer und kleinerer Ort, wo das Leben stets würdevoll und bedächtig voranzuschreiten schien. Wir lebten im alten historischen Teil der Stadt, genannt Wari, nicht weit von Ramna, dem Campus der University of Dhaka, wo mein Vater, Ashutosh Sen, Chemie lehrte. Das alles ist das «alte Dhaka» – das moderne Dhaka erstreckt sich zig Kilometer darüber hinaus. Meine Eltern waren sehr glücklich in Dhaka. Und ich und meine Schwester Manju – sie war vier Jahre jünger als ich – waren es ebenso. Das Haus war von meinem Großvater väterlicherseits, Sharada Prasad Sen, Richter am Gerichtshof von Dhaka, erbaut worden. Mein Onkel, der ältere Bruder meines Vaters, hielt sich selten dort auf, da er an verschiedenen Standorten in Bengalen als Staatsbeamter postiert wurde, aber immer wenn er in das gemeinsame Heim unserer Familie in Dhaka zurückkehrte, um dort die Ferien zu verbringen, dann waren das besonders schöne Zeiten in meinem jungen Leben (vor allem, wenn er in Begleitung seiner Tochter Miradi kam, die etwa so alt war wie ich). Außerdem gab es noch weitere Cousins und Cousinen in Dhaka (Chinikaka, Chotokaka, Mejda, Babua und andere); Manju und ich wurden ziemlich verwöhnt durch die Fürsorge und Aufmerksamkeit, die wir von ihnen bekamen. Der älteste Sohn meines umherziehenden Onkels (er wurde Basu gerufen, aber ich nannte ihn Dadamani) studierte an der Universität von Dhaka und lebte bei uns. Er war für mich ein unermesslicher Quell von Weisheit und Vergnügen. Er nahm mich oft in fesselnde Kinderfilme mit, die er für uns aussuchte, und durch seine Initiative lernte ich «die echte Welt» (oder das, was ich dafür hielt) kennen, so wie sie in fantastischen Filmen wie etwa Der Dieb von Bagdad dargestellt wird. Zu meinen frühen Erinnerungen gehört, dass ich im Labor meines Vaters war und aufgeregt beobachtete, wie zwei Flüssigkeiten, die sich in einem Reagenzglas vermischten, etwas ganz und gar Anderes und Unerwartetes hervorbringen konnten. Der Assistent meines Vaters, Karim, zeigte mir diese faszinierenden Experimente – und ich fand seine Vorführungen immer großartig. Diese Erinnerungen kamen mir wieder in den Sinn, als ich im Alter von 12 Jahren, mit meinem stolz erlernten Sanskrit, die Theorie der chemischen Grundlagen des Lebens nach der indischen Schule der Materialisten, der Lokayata, las, die sich in Indien seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. herausgebildet hatte: «… aus diesen materiellen Elementen allein geht, wenn sie sich in Körper verwandeln, Intelligenz hervor, so wie sich aus der Vermischung bestimmter Ingredienzien berauschende Kraft entfaltet; und wenn diese zerstört werden, dann geht auch die Intelligenz mit einem Schlag zugrunde.» Mir erschien diese Analogie sehr traurig – ich wollte, dass mein Leben aus mehr als nur Chemie besteht, und ich mochte die «geht mit einem Schlag zugrunde»-Stelle überhaupt nicht. Später, als ich älter wurde und über viele verschiedene Theorien des Lebens nachdachte, behielten meine frühesten Erinnerungen an das Labor in der Universität von Dhaka und Karims Vorführungen auch weiterhin ihre lebendige und eindringliche Präsenz. Ich wusste, dass ich nach Dhaka gehörte, aber wie viele urbane Bengalen betrachtete auch ich das Dorf, aus dem meine Familie (in meinem Fall zwei Generationen zuvor) in die Stadt gezogen war, als meine Heimat. Mein Heimatdorf, der Stammsitz der Familie meines Vaters, ist winzig. Es heißt Matto und liegt in einem Distrikt namens Manikganj, gar nicht weit von der Stadt Dhaka, aber als ich noch ein Kind war, brauchte man fast einen ganzen Tag, um dort hinzugelangen – meist in Booten über ein Netz von Flüssen. Heute kann man in ein paar Stunden über halbwegs gute Straßen von Dhaka nach Matto fahren. Wir reisten einmal im Jahr dort hin, jedesmal nur für einige Wochen, und danach fühlte ich mich immer vollkommen gelöst, weil ich das Gefühl hatte, wieder zuhause zu sein. In Matto...


Amartya Sen ist Professor für Ökonomie und Professor für Philosophie an der Harvard Universität. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie, 2020 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt und erscheinen in Deutschland bei C.H.Beck.


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