Sennett | Respekt im Zeitalter der Ungleichheit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Sennett Respekt im Zeitalter der Ungleichheit

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7226-9
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Manche radikalen Denker glauben, man müsse lediglich für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen, um auch mehr gegenseitigen Respekt zwischen den Menschen zu wecken. Aber ist das überhaupt realistisch? Zieht Selbstachtung nicht automatisch mangelnden Respekt gegenüber denjenigen nach sich, die im unbarmherzigen sozialen und wirtschaftlichen Wettbewerb die Benachteiligten sind? Bei der Suche nach Antworten greift Sennett auch auf seine eigene Lebensgeschichte zurück: Aufgewachsen in einem Ghetto von Chicago, gelang ihm zunächst mit Hilfe der Musik und dann des Studiums in Harvard der soziale Aufstieg. Erneut erweist sich Sennett als konstruktiver kritischer Geist mit Weitblick, als jemand, der mit Hilfe anschaulicher Beispiele grundlegende gesellschaftliche Veränderungen benennt.
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Zweites Kapitel

Was ist Respekt?
Nationen führen aus Gründen der Ehre Krieg miteinander; Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern werden abgebrochen, weil die Gewerkschaften sich unwürdig behandelt fühlen; die Höflinge Ludwigs XIV. kämpften um das ehrenvolle Recht, neben dem Neffen des Königs ihre Notdurft verrichten zu dürfen. Soldaten ernten Bewunderung für ihre Tapferkeit, Feuerwehrleute sind stolz auf ihre gefährliche Arbeit, und Wissenschaftler empfinden Befriedigung, wenn sie eine angebliche Tatsache als Irrtum entlarven können. Respekt scheint eine so grundlegende Bedeutung für unser Erleben sozialer Beziehungen und unsere Selbsterfahrung zu besitzen, dass wir klarer definieren sollten, was das ist. In der Soziologie kennt man eine Reihe von Synonymen für den Begriff des Respekts, die zum Teil lediglich Teilaspekte darstellen: »Status«, »Prestige«, »Anerkennung«, »Ehre«, »Würde«. Eine Aufzählung aller einschlägigen Begriffe wäre langweilig und bliebe völlig abstrakt, aber vielleicht kann ich den sozialen Wortschatz des Respekts mit Leben erfüllen, wenn ich auf die Musik zurückkomme. Als ich erstmals Kammermusik zu spielen begann, sagte meine Lehrerin, ich solle meine Mitspieler respektieren, ohne weiter zu erklären, was sie damit meinte. Doch Musiker lernen solche Dinge meist nicht durch Worte, sondern durch Hören. Ein erhellendes Beispiel dafür liefern zwei große Musiker, der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau und der Pianist Gerald Moore, bei der Aufführung eines der bekanntesten Schubert-Lieder, das den Titel »Der Erlkönig« trägt.1 Wir können uns gut vorstellen, dass sie vor dem Auftritt etwas nervös sind, denn bei diesem Lied ist es besonders schwer, einen Zusammenklang herzustellen. Moore muss ein Stakkato aus kurzen Akkorden spielen, das an Maschinengewehrfeuer erinnert. Seine Hände sind dieser Aufgabe zweifellos gewachsen, aber er muss sehr auf die Lautstärke achten. Das Piano soll einen unruhigen Hintergrund für die vom Sänger vorgetragene Geschichte eines verängstigten Kindes schaffen, das der Vater zu beruhigen versucht und das dann plötzlich auf geheimnisvolle Weise stirbt. Moore darf nicht zu laut spielen, aber Fischer-Dieskau muss ihm, wenn das Kind spricht, auch helfen, indem er seine Stimme zurücknimmt, damit die verängstigende Wirkung des Maschinengewehrstakkatos zur Geltung kommt. Wie schon so oft beim Vortrag des »Erlkönigs« zeigt sich Fischer-Dieskau auch diesmal der Aufgabe gewachsen. Während Sänger, die ihren Part gern in den Vordergrund stellen, die Möglichkeiten des Brustkorbs nutzen und die ängstlichen Schreie des Kindes sehr laut herausstoßen, produziert Fischer-Dieskau Kopftöne und hebt die Stimme bis hoch in die Kehle. Um die Wirkung des Pianostakkatos noch zu verstärken, nimmt sich der Sänger im mittleren Teil eine kleine Freiheit beim Text heraus. Er spricht mehr, als dass er sänge, und besonders abgehackt spricht er in einem Augenblick, als Moore sehr reiche Akkorde spielt, deren Klangwirkung leicht verloren gehen könnte. »Der Erlkönig« kommt an sein plötzliches, bestürzendes Ende, und das Publikum tobt. Der Sänger hat die Bedürfnisse des Pianisten respektiert. Man könnte sagen, das Zusammenspiel gelingt dank der Persönlichkeit des Sängers, doch Fischer-Dieskau selbst sagt das nicht. In seinen Schriften spielt er die Bedeutung seiner persönlichen Gefühle herunter, teils aus Bescheidenheit, teils weil ihm der bei Sängern verbreitete Personenkult nicht liegt, vor allem aber weil für ihn beim Vortrag eines Stücks die Anforderungen der Musik im Vordergrund stehen.2 Die kleine Freiheit des Sprechgesangs resultiert daraus, dass Sänger und Pianist sie zu einem bestimmten Zeitpunkt benötigten, um die Dramatik der Musik zur Geltung zu bringen; sie ist keine willkürliche idiosynkratische Hinzufügung. Fischer-Dieskau hat Moores Bedürfnisse ernst genommen, doch sein Hinweis auf »Schubert« dürfte als einzige Erklärung kaum ausreichen. Vielen Interpreten des »Erlkönigs« gerät das Zusammenspiel von Stimme und Klavier zu einem Durcheinander. Sein Talent? Diese Antwort führt in ein Dickicht, denn wir können ja nicht behaupten, nur außergewöhnlich talentierte Menschen seien in der Lage, einfühlsam auf andere einzugehen – auf der Bühne wie im normalen Leben. Wenn allerdings Fischer-Dieskau auf Schubert statt auf sich selbst verweist, so ist das in einer Hinsicht dennoch aufschlussreich. Stellen wir uns vor, die Bereitschaft des Sängers, auf Moore zu achten und ihn nicht als Begleitung, sondern als Mitspieler zu behandeln, sei in der Tat eine Frage der Persönlichkeit, insbesondere seines Verhältnisses zu dem Menschen Gerald Moore. Dann wäre Freundschaft die notwendige Basis ihrer Arbeitsbeziehung, und umgekehrt müsste es dem Sänger schwer fallen, mit Fremden zusammenzuarbeiten. Den Komponisten können beide nicht persönlich gekannt haben – Schuberts physische Anwesenheit beschränkt sich auf die Tintenkleckse. Wenn der Sänger auf die Bedürfnisse der Finger des Pianisten eingehen, aber den Menschen Gerald Moore nicht unbedingt mögen muss, dann liegt das Talent beider Männer in ihrer Fähigkeit, die Tintenkleckse auf dem Papier in Gefühl zu verwandeln. Ich mache so viel Wind um den Vortrag dieses Liedes, weil darin deutlich wird, was es heißt, die Bedürfnisse anderer ernst zu nehmen, innerhalb wie außerhalb der Konzerthalle. Der Schriftsteller Michael Ignatieff hat geschrieben, diese anderen in der Gesellschaft seien in der überwiegenden Mehrzahl Fremde.3 Wir kennen nur sehr wenige Menschen persönlich; in komplexen Gesellschaften bevölkern soziale Typen unterschiedlichster Art die Bühne, und ihr Leben ist für uns nicht ohne weiteres verständlich. Aber was in uns geht dann auf all diese uns unbekannten Menschen ein? Ein wenig wie Fischer-Dieskau sagen die Soziologen C. Wright Mills und Hans Gerth dazu, es sei eher eine Frage des Charakters als der Persönlichkeit, aber sie bemühen sich auch um eine sprachliche Präzisierung. Unter »Charakter« verstehen sie die Kommunikation eines Menschen mit Hilfe gemeinsamer »sozialer Instrumente« – die gesellschaftlichen Entsprechungen zum musikalischen Text sind Gesetze, Rituale, Medien, die Codes religiösen Glaubens und politischer Doktrinen. Auch diese Texte werden von den Menschen eher aufgeführt als vorgelesen: Bei Gericht führt man das Gesetz auf, um die Geschworenen zu einem Schuld- oder Freispruch zu bewegen; auf der Straße führt man durch Augenkontakt oder Körpersprache den Satz auf: »Ich will dir nichts tun.« Wenn Menschen diese »sozialen Instrumente« gut spielen, stellen sie eine Verbindung zu Fremden her, sie lassen sich emotional auf unpersönliche Ereignisse ein, engagieren sich in Institutionen. In ihrem Buch Character and Social Structure versuchen Gerth und Mills, diese vielleicht abstrakte Formel auf eine dunkle Realität jenseits der Bühne anzuwenden.4 Sie fragen sich, wie es möglich ist, dass ein verwirrter, neurotischer Mensch dennoch der Folter widersteht oder gegen ein Unrecht protestiert, das man anderen Menschen zugefügt hat, während gesunde, glückliche Erwachsene sich womöglich als Feiglinge erweisen. Auf der Bühne sollte »Schubert« nur den Wunsch auslösen, sich unterzuordnen; jenseits der Bühne können die Fragen des Inquisitors zwei gegensätzliche Reaktionen auslösen. Die Unterscheidung zwischen Charakter und Persönlichkeit ist eine Möglichkeit, diese beiden Reaktionen auseinander zu halten. Viele Elemente der Persönlichkeit lösen sich auf, wenn man es mit Institutionen zu tun bekommt, andere treten in den Vordergrund. Gerth und Mills glauben, der widerstandsfähige Neurotiker finde Kraft, indem er sich unsichtbare Leidensgenossen in der Folterkammer vorstellt, denen er unter der Folter signalisiert, dass er sich ihnen oder einem abstrakten Prinzip verpflichtet weiß. Diese Fähigkeit, sich auf die Welt einzulassen, definiert den Charakter eines Menschen. Der Charakter ist, wie Gerth und Mills sagen, der Beziehungsaspekt der Persönlichkeit und widerlegt die These, wonach nur direkte Beziehungen emotional ergreifend sein können. Das Konzert liefert ein positives Beispiel für Charakter. Es zeigt, wie die Bedürfnisse eines anderen bei der Zusammenarbeit beachtet werden. In einem umfassenderen Sinne bezieht Charakter sich auf das gesamte Spektrum der gesellschaftlichen Tintenkleckse; der Charakter eines Menschen bringt expressives Leben in die zwischenmenschlichen Beziehungen. Außerdem stellt der Begriff in seiner umfassenden Bedeutung einen Maßstab bereit, an dem die übrigen Begriffe im Wortfeld von »Respekt« kritisch gemessen werden können.   Der erste dieser Begriffe ist »Status«. Unter Status versteht man gewöhnlich die Stellung eines Menschen innerhalb einer sozialen Hierarchie. Bei einem Konzert braucht man den Namen des Sängers im Programmheft nur größer zu drucken als den des Begleitmusikers, dann ist...


Sennett, Richard
Richard Sennett, geboren 1943, lehrt Soziologie und Geschichte an der London School of Economics und an der New York University. Er zählt zu den bekanntesten Theoretikern unserer Zeit und hat eine Reihe kulturhistorischer Bücher verfasst. 2006 erhielt Richard Sennett den renommierten Hegel-Preis der Stadt Stuttgart. Richard Sennett lebt in London und New York.

Richard Sennett, geboren 1943, lehrt Soziologie und Geschichte an der London School of Economics und an der New York University. Er zählt zu den bekanntesten Theoretikern unserer Zeit und hat eine Reihe kulturhistorischer Bücher verfasst. 2006 erhielt Richard Sennett den renommierten Hegel-Preis der Stadt Stuttgart. Richard Sennett lebt in London und New York.


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