Eine kurze Geschichte des Hypes und des Scheiterns
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-9860936-4-8
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Vaclav Smil ist Professor em. für Umweltwissenschaften an der University of Manitoba. Er ist Autor von über 40 Büchern über Energie- und Umweltfragen, darunter das Grundlagenwerk Energy and Civilization. Von keinem anderen lebenden Wissenschaftler wurden mehr Bücher in Nature besprochen. Smil gilt als Bill Gates Lieblingswissenschaftler und wurde 2010 von Foreign Policy unter die Top 100 Global Thinkers gezählt.
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Kapitel 2
Erfindungen, die erst willkommen und später unerwünscht waren
Jede Lösung eines komplexen Problems, jeder nützliche Fortschritt, der eine bestimmte abträgliche oder unerwünschte Folgeerscheinung abmildert oder aus der Welt schafft, jede Innovation, die eine bessere Performance, einen höheren Gewinn, ein besseres Handling oder mehr Komfort oder Sicherheit verspricht, hat ihre Kehrseite. Die Reichweite einer bestimmten Innovation und ihre Wirkungsmacht erstrecken sich von vorhersehbaren, erträglichen, überschaubaren (oder zeitlich begrenzten) Begleitumständen bis hin zu unvorhergesehenen, aber potenziell schwerwiegenden Folgen, die nicht leicht zu bewältigen sind. Einige von ihnen lassen sich nur dadurch beseitigen, dass man die ursprüngliche Lösung zugunsten eines besseren (völlig harmlosen) Ansatzes aufgibt oder, wenn das nicht möglich ist, sie zumindest durch eine weniger anstößige, etwas akzeptablere Wahl ersetzt. Ich habe die drei meiner Meinung nach bekanntesten Beispiele für Lösungen ausgewählt, die sich letztlich als inakzeptabel für wichtige, gängige und, wenn man sich nicht mit ihnen befasst hat, nachteilige und kostspielige Probleme herausstellten. Alle drei Innovationen traten zwischen den beiden Weltkriegen in Erscheinung. Zwei von ihnen machten sich seit Jahrzehnten bekannte Verbindungen, Tetraethylblei und Dichlordiphenyltrichlorethan, zu eigen, während die dritte sich Dichlordifluormethan, eine neu entdeckte halogenierte Verbindung, zunutze machte; ich gehe chronologisch auf sie ein. Den Anfang macht die Einführung verbleiten Benzins (ab 1922 in den USA) als preiswerte, zweckmäßige und effektive Problemlösung des suboptimalen Betriebs von Verbrennungsmotoren, des sogenannten Motorklopfens – gemeint ist eine vorzeitige Zündung, die nicht nur die Effizienz der Energieumwandlung der Maschine verringert, sondern mitunter auch den Motor selbst erheblich beschädigt. Einer der unglaublichsten Zufälle in der Historie des Innovationsgeistes ist, dass Thomas Midgley, derselbe Ingenieur, der die gemeinsame Suche der Unternehmen nach einem wirksamen Antiklopfmittel leitete, die schließlich mit verbleitem Benzin endete, nur wenige Jahre später (1928) der Kopf einer Forschergruppe war, die ein ungiftiges und nicht brennbares Dichlordifluormethan (CCl2F2) entwickelte, das unter dem Markennamen Freon-12 verkauft wurde (Abb. 2.1). Dies war der erste von vielen Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) – synthetische Verbindungen, die schnell zu den weltweit führenden Kühlmitteln wurden (Flüssigkeiten, die beim Arbeitstakt von Kompression und Expansion in Kühlschränken und Klimaanlagen Verwendung fanden). Sie wurden auch als gängige Treibmittel bei der Herstellung von Schaumstoffen, als Treibmittel in Milliarden von Aerosoldosen (mit Medikamenten, Farben oder Kosmetika) und als industrielle Entfetter und Lösungsmittel eingesetzt. Abbildung 2.1 Thomas Midgley Jr. (1889–1944), der Erfinder von verbleitem Benzin und FCKW-Kältemitteln. Porträt aus den 1930er-Jahren von Blank & Stoller, New York. Quelle: Williams Haynes Portrait Collection (Philadelphia, Science History Institute), Box 10. https://digital.sciencehistory.org/works/9s161624t. Das letzte Beispiel für eine hochwillkommene Innovation, die zu einer viel geschmähten Anwendung wurde, ist DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan), das erste moderne, künstlich hergestellte Insektizid. Als Paul Hermann Müller mit seiner Suche nach einem wirksamen Mittel zur Schädlingsbekämpfung begann, war DDT bereits seit mehr als sechs Jahrzehnten bekannt. Doch erst Müllers systematische Suche nach einem effektiven Mittel führte zur Entdeckung der massiven insektentötenden Wirkung der Verbindung. DDT wurde fast umgehend von den Armeen des Zweiten Weltkriegs eingesetzt. Nach dem Krieg verbreitete sich sein Einsatz schnell zur Bekämpfung von durch Insekten übertragenen Infektionskrankheiten und zur allgemeinen Schädlingsbekämpfung im Ackerbau und in der Viehzucht. In etwas mehr als einem Jahrzehnt führten diese hemmungslosen Vorgehensweisen nicht nur zur Entstehung DDT-resistenter Insektenarten, sondern wurden auch mit schädlichen Auswirkungen auf die Fortpflanzung von Vögeln und schließlich auch mit einem erhöhten Risiko von Frühgeburten oder Babys mit geringem Geburtsgewicht in Verbindung gebracht. DDT wurde zu einem der destruktiven Sinnbilder, das die aufkommende Umweltbewegung zu instrumentalisieren wusste, um ihre Message einer verantwortungsvolleren Handhabung des Pestizids zu verbreiten. Abgesehen von ihrem gemeinsamen Siegeszug und späteren Fall sind verbleites Benzin, FCKW und DDT auf ihre jeweils ganz eigene Art erst akzeptiert und dann gewissermaßen vom Markt verdammt worden. Als Benzin erstmals mit Blei versetzt wurde, gab es viele triftige Beweise für seine schleichende Neurotoxizität, und das neue Produkt stieß bei einigen Ärzten und Physiologen fast umgehend auf Widerstand. Im Gegensatz dazu war Freon-12 (auch bekannt als R-12) eine neue synthetische Verbindung, die in der Natur nicht vorkam und die zufälligerweise recht unreaktiv zu sein schien, wenn sie versehentlich in die Umwelt freigesetzt wurde, was sie ideal für Haushaltskühlmittel machte. Man mag Midgley dafür kritisieren, dass er Tetraethylblei als vorherrschendes Antiklopfmittel eingeführt hat, aber zu behaupten, wie Neil Larsen es tat, er sei »der schädlichste Erfinder der Geschichte«, ist Unsinn. Im Jahr 1928 hätte man voraussehen können, dass die in die Atmosphäre freigesetzten FCKW, obwohl sie wesentlich schwerer als Luft sind, schließlich die Stratosphäre erreichen würden. Die turbulente Durchmischung der Atmosphäre macht das Gleiche mit CO2, dem Treibhausgas Nummer eins, das ebenfalls schwerer als Luft ist. Aber erst ein halbes Jahrhundert später machten Fortschritte in der Erforschung der Atmosphärenchemie deutlich, dass in dunklen Polarwintern Chlor aus FCKW freigesetzt wird. Der Grund dafür sind Reaktionen, die auf der Oberfläche von Eispartikeln stattfinden. Und man erkannte, dass, wenn die Sonne zurückkehrt, die fotochemischen Reaktionen des freigesetzten Elements mit dem Ozon in der Stratosphäre die Konzentrationen des Gases verringern, das einen unentbehrlichen Schutz vor UV-Strahlung bietet. Gleichermaßen hatte man zuvor keine Erfahrungen mit DDT, denn vor seinem Einsatz gab es nur natürliche Insektizide wie Zitrus- und Eukalyptusöle oder Wasserlösungen aus Salzen oder Neemöl (das aus den Samen eines tropischen immergrünen Baumes, Azadirachta indica, gewonnen wird). Und auch wenn die ersten toxikologischen Studien der frühen 1940er-Jahre weitaus umfangreicher waren, hätten sie die langfristigen Gesamtwirkungen auf die Fortpflanzung der Vögel nicht enthüllt. Ebenso unterschieden sich die Entwicklungsverläufe hinsichtlich ihrer Länge und ihrer Endphase. Zwischen der Einführung von verbleitem Benzin und dem kompletten weltweiten Verbot vergingen acht Jahrzehnte, wobei Indonesien das letzte Land war, das den Verkauf bis 2006 erlaubte. Dass FCKW potenziell für die Ausdünnung des stratosphärischen Ozons verantwortlich war, wurde 1974 veröffentlicht, 46 Jahre nach der Entwicklung von Freon-12. Und erst 1987 wurden im Montrealer Protokoll über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen, die Maßnahmen festgelegt, die weltweit das Verbot der FCKW-Verwendung zur Folge hatten. Nach nur etwa zwei Jahrzehnten seit seiner Einführung erreichte DDT den Höhepunkt seines globalen Einsatzes. In den 1960er-Jahren begannen Maßnahmen zur Einschränkung und zum Verbot seines Gebrauchs. Heute ist die Substanz auf der ganzen Welt verboten, mit Ausnahme der kontrollierten Nutzung zur Bekämpfung von Malariamücken. Die erfreulichste Lektion im Hinblick auf diese drei Fehlschläge ist unsere Fähigkeit, nicht nur bessere Alternativen zu finden, sondern auch internationale Vereinbarungen zu treffen, um die Verbote und Ersatzmittel (mit einigen denkwürdigen Verstößen) auf globaler Ebene wirksam zu machen und in die Praxis umzusetzen. Bei Benzin hatten wir solche Möglichkeiten bereits vor der unglücklichen Entscheidung, Blei als zweckmäßigsten Zusatzstoff hinzuzufügen, und die letztendliche Abschaffung des Schwermetalls wurde unvertretbar verzögert. Im Gegensatz dazu wurden die Maßnahmen zur Reduzierung und schließlich zur Abschaffung von FCKW als Ursache für den Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre zügig durchgeführt und führten zu einem der wirksamsten Abkommen auf unserem Planeten. Die Folgen des DDT-Verbots sind weitaus schwieriger abzuschätzen, denn nach der Einführung des Schädlingsbekämpfungsmittels wurden zahlreiche andere Pestizide entwickelt (nicht nur Insektizide, sondern auch Mittel zur Bekämpfung von Würmern und Pilzen). Studien zu den Auswirkungen auf die Gesundheit und die Umwelt haben gezeigt, dass die langwierige Anwendung vieler von ihnen kaum risikofrei ist. Es gibt noch eine weitere beunruhigende...