Steger / Schochow / Kotte | Disziplinierung durch Medizin | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 184 Seiten

Steger / Schochow / Kotte Disziplinierung durch Medizin

Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961 bis 1982

E-Book, Deutsch, 184 Seiten

ISBN: 978-3-95462-426-3
Verlag: Mitteldeutscher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



In der DDR konnten Mädchen und Frauen ab dem 12. Lebensjahr in geschlossene Venerologische Stationen zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten zwangseingewiesen werden. Oft reichte dafür eine Denunziation oder der Verdacht auf eine Geschlechtskrankheit, um von der Polizei, der Heimleitung oder von den Eltern auf eine solche Station gebracht zu werden.
Solche im Volksmund oft kurz und derb „Tripperburg“ genannten geschlossenen Stationen gab es in fast jedem Bezirk. Auf den Stationen wurde ohne Aufklärung und Einverständnis der Patientinnen in die körperliche Integrität der Frauen eingegriffen. Die Mädchen und Frauen mussten täglich eine gynäkologische Untersuchung über sich ergehen lassen, teilweise ohne medizinische Indikation. Neben der (medizinischen) Versorgung sollten die Patientinnen in einem hierarchisch organisierten Terrorsystem zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ erzogen werden. Täglich mussten sie auf der Station oder in anderen Abteilungen der Poliklinik Arbeiten verrichten. Die Mädchen und Frauen wurden auf den Stationen körperlich wie psychisch gedemütigt und traumatisiert.
Am Beispiel der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) wird der Alltag auf einer solchen geschlossenen Venerologischen Station geschrieben. Für diese Rekonstruktion wurden neben umfangreichen Archivrecherchen Interviews mit ehemaligen Patientinnen sowie mit Ärzten, Krankenschwestern und Mitarbeitern der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) geführt.
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2 Organisatorischer, institutioneller und rechtlicher Hintergrund der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale)
2.1 Die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Halle (Saale)
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden von verschiedenen Ämtern der Stadt Halle (Saale) zwei Probleme bei der Verwaltung von Geschlechtskranken beschrieben: Zum einen die Betreuung und Unterbringung geschlechtskranker Personen und zum anderen der rasante Anstieg der Geschlechtskrankheiten im Allgemeinen. Vor allem die Kriminalpolizei thematisierte die Frage der Betreuung und Notwendigkeit der Unterbringung, wie unter anderem aus einer Anfrage vom 15. Oktober 1945 an den Oberbürgermeister bzw. das Jugend- und Fürsorge-Amt Halle (Saale) hervorgeht: „Es ist in letzter Zeit wiederholt vorgekommen, daß die von der Polizei erfaßten weiblichen minderjährigen Herumtreiber nach Entlassung aus dem Gefängnis, dem Gesundheitsamt überstellt, beim Vorliegen einer Geschlechtskrankheit dem Polizeigefängnis von dem Verw. Sekretär U. M. (Abk., d. A.) wieder zugeführt wurden mit der Begründung, daß keine Möglichkeit einer stationären Behandlung in einem Krankenhaus gegeben sei. Ich bitte für die Unterbringungsmöglichkeit Sorge zu tragen, da die rechtlichen Voraussetzungen für eine Wiedereinweisung ins Polizeigefängnis in den erwähnten Fällen nicht gegeben sind.“32 Das zweite Problem, der generelle Anstieg der geschlechtskranken Personen in Halle (Saale), wurde unter anderem vom Jugend- und Fürsorgeamt Halle (Saale) thematisiert. So heißt es in einem Vermerk vom 9. Februar 1946, dass sich die Folgen der letzten Kriegsjahre stark auf dem Gebiet der Gefährdeten-Fürsorge auswirken würden. „Die Statistik der Monate Juni – Nov. 1945 65 Fälle, im Vergleich zu den Zahlen vom 1. 12. 45 – 1. 2. 46 133 Fälle, entrollt ein trauriges Bild.“33 Besondere Aufmerksamkeit von Seiten des Jugend- und Fürsorgeamts galt jenen Frauen, bei denen der „Verdacht wechselnden Männerverkehrs und der Geschlechtskrankheit besteht (…). Nur diese schweren Fälle der Gefährdeten-Fürsorge werden statistisch erfasst“.34 Aus der Statistik geht eine Verdoppelung, in einigen Altersgruppen sogar eine Verdreifachung, der mit Geschlechtskrankheiten registrierten Personen hervor:35 1.6. – 30. 11. 1945 1. 12. 1945 – 31. 1. 1946 unter 16 Jahre 7 20 16 – 18 Jahre 17 32 19 – 21 Jahre 35 60 über 21 Jahre 6 21 Gesamt 65 133 Tab. 1 Registrierte Personen mit Geschlechtskrankheiten nach Alter Von den 133 geschlechtskranken Personen waren 61 aus Halle (Saale) und 72 Personen von auswärts. Damit wurde ein weiteres Problem für die Verwaltung von Halle (Saale) sichtbar: die Flüchtlinge. „Der Flüchtlingsstrom, der sich auch über unsere Stadt ergossen hat, ließ viele alleinstehende Frauen und Jugendliche zurück, die oft obdachlos umherirren und damit der Verwahrlosung preisgegeben sind. Beängstigend ist die Zahl der Geschlechtskrankheiten, darunter leider auch der Jugendlichen. Es sind verschiedentlich Kranke von 13 und 14 Jahren dabei“,36 so der Vermerk des Jugend- und Fürsorgeamts vom 9. Februar 1946. Für die Betreuung und medizinische Versorgung der geschlechtskranken Mädchen und Frauen gab es im Februar 1946 mehrere Einrichtungen. Zum einen war bereits Ende November 1945 eine Station für geschlechtskranke Frauen in der Christian-Thomasius-Schule in Halle (Saale) eingerichtet worden.37 Hier waren im Februar 1946 über 100 Kranke aufgenommen worden. Zum anderen „waren die geschlechtskranken Frauen in den Borsdofer Anstalten bei Leipzig untergebracht“.38 Daneben wurde die „Betreuung gefährdeter Mädchen (…), sofern es sich um ortsansässige handelt, von den Familienfürsorgerinnen mit durchgeführt. Im Übrigen von der Spezialabteilung für pflegeamtliche Arbeit, die zugleich auch die im Krankenhaus befindlichen geschlechtskranken Mädchen befürsorgt“.39 Schließlich konnten geschlechtskranke Frauen und Kinder in der „Hautklinik betreut“40 werden. Dennoch reichten die existierenden Betreuungs- und Versorgungsstrukturen nicht aus, um die rasant steigende Anzahl von Geschlechtskranken zu behandeln. Die Kapazitäten in der Christian-Thomasius-Schule waren fast vollständig ausgeschöpft. Gleichzeitig musste das Jugend- und Fürsorgeamt feststellten, dass durch „die Reiseschwierigkeiten und die starke Zunahme der Geschlechtskrankheiten (…) die Borsdorfer Anstalten nicht weiter belegt werden“41 konnten. Was mit den Geschlechtskranken aus Halle (Saale) und den geschlechtskranken Flüchtlingen geschehen sollte und wie sie künftig untergebracht bzw. medizinisch versorgt werden sollten, diskutierten unter anderem das Kriminalamt, das Gesundheitsamt und das Jugend- und Fürsorgeamt. Das Kriminalamt von Halle (Saale) schlug am 6. Mai 1947 die „Einrichtung von Arbeitslagern für Verbreiter von Geschlechtskrankheiten“ vor.42 Dazu sollten „zahlenmässige Meldungen über Personen, welche häufig wechselnden Geschlechtsverkehr haben bezw. Verbreiter von Geschlechtskrankheiten oder Herumtreiber sind“43 an das Kriminalamt gemeldet werden. Und weiter heißt es: „Zunächst sollen nur Fälle gemeldet werden, die eine Unterbringung in ein Lager rechtfertigen. Also solche Personen, die in sittlicher Hinsicht übelbeleumdet, unverbesserlich oder mehrfach geschlechtskrank waren.“ Ziel sei „eine Ausmerzung der Elemente, welche eine grosse Gefahr für unsere Volksgesundheit bedeuten, planmässig“44 durchzuführen. Hierzu seien künftig umfangreiche Absprachen mit den Gesundheitsämtern, Straßenbeauftragten und den Frauenausschüssen notwendig. Das Gesundheitsamt von Halle (Saale) plädierte für eine intensive Zusammenarbeit mit der Polizei von Halle (Saale) bei der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Geschlechtskranke sollten durch die Polizei den Fachkrankenhäusern und gesonderten Beobachtungsstellen in Halle (Saale) zugeführt und medizinisch versorgt werden. In einem Vortrag zum Thema „Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“45 führte der Medizinalrat Dr. L. am 26. Mai 1948 im Polizeipräsidium von Halle (Saale) aus, dass die „Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ unter „Zuhilfenahme der Polizeiorgane“46 durchgeführt werden müsse. „Ein Hand in Hand arbeiten mit Gesundheitsamt“ so Medizinalrat L. weiter „wäre ein zu erstrebender Zustand. In Halle wäre dieser Zustand fast erreicht. Bei Razzien und Polizeistreifen in Halle wäre Vorbildliches geleistet. (…) Durch Polizeistreifen werden besonders auswärtige Personen dem Gesundheitsamt zugeführt. (…) Eine Beobachtungsstation im Fachkrankenhaus II ist zur Unterstützung der Ambulatorien eingerichtet.“47 In die entsprechenden Ambulatorien48 würden alle durch Polizeistreife Aufgegriffenen eingeliefert und nach der Untersuchung unter anderem an Beobachtungsstationen, Heime oder Lager weitergeleitet. Das Jugend- und Fürsorgeamt von Halle (Saale) betonte den Aspekt der Erziehung bzw. der Erziehungsarbeit, der im Zusammenhang mit der Betreuung geschlechtskranker Mädchen und Frauen notwendig sei. Bereits 1946 hatte das Jugend- und Fürsorgeamt auf die Borsdorfer Anstalten bei Leipzig und die dort praktizierte erzieherische Betreuung der Geschlechtskranken hingewiesen. In den Borsdorfer Anstalten „waren sie unter Aufsicht in Erziehungsarbeit geschulter Schwestern und konnten, soweit es die ärztliche Behandlung erlaubte, in den Arbeitsprozess der Anstalt eingegliedert werden“.49 Diese Kombination aus Erziehung und Arbeit sollte vor allem dem Zweck dienen, die Mädchen und Frauen zu beschäftigen, denn das „tatenlose herumsitzen der Jugendlichen gibt viele Gelegenheit zu schädlichen...


Dr. Maximilian Schochow, geb. 1973, nach Schauspielstudium in Potsdam-Babelsberg 1997–2003 Studium der Theaterwissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Leipzig (M.A.), 2008 Promotion an der Universität Leipzig, 2006–2009 wiss. Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft, 2009/1010 wiss. Mitarbeiter am Hochschuldidaktischen Zentrum und 2010/11 wiss. Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig, seit 2011 wiss. Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der MLU Halle-Wittenberg.


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