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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Steinfeld Herr der Gespenster

Die Gedanken des Karl Marx

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-446-25781-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Geschichte, könnte man meinen, hat Karl Marx widerlegt. Kaum jemand träumt noch wie im 19. Jahrhundert von der Revolution, aber wir wollen wissen, wie jene Kraft entsteht, die unsere Gesellschaft immer tiefer spaltet. Thomas Steinfeld hat Karl Marx kurz vor dessen 200. Geburtstag noch einmal gelesen und bestechende Analysen unserer Wirtschaft gefunden: zur Gewalt, die das Geld auf den Menschen ausübt, zur Macht, die in Waren verborgen ist, oder zur Krise als einem Normalfall unserer Wirtschaftsform. Befreit von einer weltgeschichtlichen Mission, öffnet Marx’ Philosophie uns die Augen für jene Effekte des Kapitalismus, die unser Leben bestimmen, heute mehr denn je.
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VORWORT
Ein Bild des Philosophen
  Auf den meisten Porträts, die man von Karl Marx kennt, ist ein mächtiger Kopf zu sehen, eine gewaltige Stirn, ein Paar entschlossener Brauen, eine wüste Mähne. Karl Marx: Das ist ein Bart, so groß, dass man ihn raumgreifend nennen könnte, und ein beseelter, konzentrierter Blick, der über den Betrachter hinweg in eine unendliche Tiefe zielt. In Chemnitz steht ein solcher Kopf auf einem öffentlichen Platz im Zentrum, in Bronze gegossen und mehr als sieben Meter hoch, den Sockel nicht gerechnet. Die DDR ging unter, die Bürger entschieden, die Stadt solle nicht mehr Karl-Marx-Stadt, sondern wieder Chemnitz heißen. Aber das Denkmal wollten sie behalten. Namen schaffen mehr Verpflichtung als Skulpturen. Ein Visionär mag so aussehen in den Augen seiner Anhänger, ein Dämon oder ein Religionsstifter. Denker hingegen eignen sich nicht für heroische Darstellungen. Denn sie erobern ihre Gedanken nicht, sondern bringen sie meistens in mühevoller Kleinarbeit hervor. Manchmal begegnen sie ihnen auch wie zufällig, aber auch darin liegt keine heldenhafte Tat. Oft sind Denker unsicher, ob man, was sie sagen wollen, tatsächlich so sagen kann. Und wenn sich endlich ein Ergebnis eingestellt hat, wird es, kaum dass es vorhanden ist, einer Prüfung unterzogen und dann noch einer Prüfung und noch einer. Denken bedarf der Ruhe, der Dauer, des nagenden Zweifels und der immer wieder neu ansetzenden Anstrengung. Wer vermöchte dann, mit tiefen Ringen unter den Augen und zerwühltem Schopf, von seinem Schreibtisch so aufzuschauen, als ob er die Welten jenseits des Horizonts mit seinem Blick bezwingen könnte? Von Karl Marx ist ein Bild geblieben. Nicht das Bild eines Denkers, sondern das eines Kämpfers und Moralisten, der die Ausbeutung des Menschen in kapitalistischen Verhältnissen geißelt, für Gleichheit und Gerechtigkeit eintritt und zur Revolution auffordert. An diesem Bild ist nicht viel Wahres, und dennoch wird es weitergetragen. Diese Beständigkeit geht weniger auf Marx’ Theorien als vielmehr auf seine Radikalität zurück. Zum einen scheinen er und seine Lehren das Extrem dessen zu bilden, was man sich als Einwand gegen die herrschenden Verhältnisse vorstellen kann, unter der Voraussetzung, dass man diesen Extremismus nicht teilen muss. Zum anderen genügt es den meisten zu wissen, dass seine Werke eine wie auch immer geartete, jedenfalls entschiedene Position gegen »das Kapital« beziehen. Stellt nicht der Volksglaube, das große Geld habe sich gegen die kleinen Leute verschworen, nach wie vor die beliebteste Rechtfertigung dar, sich als angebliches Opfer der Verhältnisse in ebendiesen Verhältnissen einzurichten? Zum dritten verbindet sich mit dem Namen Karl Marx eine Erinnerung an aufrührerische Bewegungen, Revolutionen und Aufstände, an rote Fahnen, Barrikaden und Schwaden von Tränengas. Und auch wenn diese Ereignisse schon Jahrzehnte zurückliegen, so ist deren Bild doch gegenwärtig, genau wie der Chemnitzer Kopf. Es besteht kein Grund zu der Annahme, es gäbe viele Menschen, jüngere gar, die das »Kapital« tatsächlich gelesen hätten – und seien es nur die ersten vier Kapitel. Dennoch lebt eine Vorstellung von diesem Werk fort. Im selben Maße, wie sich der Kapitalismus als einzige, unausweichliche Form der Gesellschaft darstellt, behauptet sich die Idee, in Karl Marx konzentriere sich, über die Jahrzehnte, ja schon über weit mehr als ein Jahrhundert hinweg, der Widerstand gegen die Herrschaft des Kapitals. Diese Vorstellung hat weit mehr mit dem gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft zu tun als mit einem Erbe oder gar einem Wissen, das aus dem 19. Jahrhundert übernommen worden wäre.     Eine Aufforderung zum Denken
  Versuche, wenn schon nicht die Welt, doch wenigstens Karl Marx und dessen Werk zu retten, gibt es viele, darunter auch solche, die einer solchen Rettung wegen den Mann und seine Bücher ins Reich der Erfindungen umsiedeln wollen. »Das erste große modernistische Kunstwerk«, sagt der amerikanische Politologe Marshall Berman, sei diese Hinterlassenschaft.1 Doch wem wäre geholfen, wenn dieses Werk für die Kunst geborgen würde? Ähnliches gilt für die beliebte Idee, Karl Marx und Friedrich Engels hätten zwar das Richtige gewollt, sie seien von Leninisten, Stalinisten, Maoisten aber falsch ausgelegt oder gar verraten worden. Was sollte denn »das« Richtige sein an einem Werk, das ebenso groß wie unvollendet ist und zudem in durchaus verschiedene Richtungen weist? Manch einer unter Marx’ modernen Verteidigern geht sogar so weit, ihn zu einem Anwalt der »Mittelklasse« und ihrer »großen revolutionären Werte: Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstentfaltung« zu erklären.2 »Pfäffisches Getue« hätte man im 19. Jahrhundert den Versuch genannt, selbst die brutalsten Interessenkonflikte in Verfehlungen gegenüber einem gemeinsamen, grundsätzlich guten Anliegen umzudeuten. Es gibt in Karl Marx’ Werk nichts, was unter allen Umständen gerettet werden müsste, und sei es durch eine Verwandlung in Kunst oder Moral. Das Werk ist auch keine Bibel, die man, weil sie in Bildern spricht, nach Belieben auslegen kann, worauf dann die Theologen einander mehr bekämpfen, als sie es je mit einem Heiden täten. Es gibt bei Karl Marx allenfalls etwas zu verstehen. Es finden sich Gedanken in diesen Büchern, die man prüfen, zurückweisen oder sich zu eigen machen kann. Und wenn die Argumente nicht zufriedenstellend ausfallen, liegt darin kein Scheitern. Denn zum Scheitern gehört ein Idealismus: der Wille, mit einer Idee auf die Welt loszugehen, damit diese sich dem Konzept füge. Dergleichen fertige Ideen finden sich gelegentlich bei Karl Marx, aber sie stehen nicht für seine Arbeit im Ganzen. Anderenfalls gäbe es bei ihm nicht so unendlich viele Revisionen der Gedanken, die er bereits gefasst und niedergeschrieben hatte. Und mit Scheitern hat Revidieren nichts zu tun: Ein mangelhaftes Ergebnis mag darauf zurückgehen, dass die Aufgaben, die man sich gestellt hatte, so außerordentlich schwierig waren, dass man sie nicht bewältigen konnte. Oder darauf, dass man auf eine falsche Spur geriet und erst spät bemerkte, dass sie in die Irre führte. Auch deswegen werden sich auf den folgenden Seiten einige Gewissheiten über die Forderungen und Visionen auflösen, die Karl Marx angeblich in die Welt trug: das Verlangen nach »Gleichheit« zum Beispiel, oder auch die Vorstellung, jenseits der Revolution würde den befreiten Menschen das Leben eines faulenzenden Großgrundbesitzers erwarten, wenn nicht gar ewige Ferien. Wie gesagt: Es gibt die entsprechenden Sätze in Karl Marx’ Schriften. Aber sie blieben nicht unwidersprochen, und das geschieht oft noch in derselben Arbeit. Zum Vorschein kommt stattdessen die Mühe eines rastlosen Intellektuellen. Seinen Gegenständen widmet sich Karl Marx in unendlich oft neu ansetzenden, immer wieder weit ausholenden, immer wieder sich verirrenden Überlegungen. Sie gilt es ernst zu nehmen, um den Preis, dass man auch mit dem eigenen Denken noch einmal von vorn anfangen muss. In den hundertfünfzig Jahren, die seit Erscheinen des ersten Bands des »Kapitals« vergangen sind, entstanden zwar unzählige Interpretationen dieses Werks. Keine aber fand allgemeine Anerkennung. Eher als ein Denkmal, das von den Nachfolgenden zu bewundern wäre, oder als ein System, in dem jedem Ereignis ein fester Platz zugewiesen ist, erscheint Karl Marx’ Werk als ein Feld fortlaufender, zuweilen disparater Bewegungen.  In diesem Buch wird es darum gehen, einige der Bewegungen nachzuvollziehen, aus einer persönlichen Perspektive, so knapp wie möglich und stets mit einem Blick auf die Gegenwart – einem Blick, der nicht nur um den Abstand weiß, der zwischen Marx und der Gegenwart liegt, sondern auch, dass er ein gegenwärtiges Interesse in die Vergangenheit trägt. Ein Studium der Schriften von Karl Marx kann dadurch in keiner Weise ersetzt werden, und gegen das Übermaß an Sekundärliteratur hilft vermutlich ohnehin nur der Versuch, zu den originalen Schriften zurückzugehen und selbst zu denken. Dieses Buch soll deswegen von der Art sein, die man im Englischen »a book of ideas« nennt. Die »ideas« kommen dabei oft aus der Literatur und aus der Kulturgeschichte, was nicht nur am Verfasser dieses Buches, sondern auch an Karl Marx liegt, der in jedem seiner Werke die historische und literarische Bildung eines liberalen Bürgers seiner Zeit mobilisiert. Zudem findet sich in der sogenannten schönen Literatur häufig ein zumindest diffuses Bewusstsein davon, was für eine gespenstische Angelegenheit eine entfaltete Warenwirtschaft eigentlich ist. Karl Marx schrieb das »Kapital«, sein wichtigstes Werk, in der Form einer philosophischen Ableitung, ausgehend von der Monade der kapitalistischen Produktionsweise, der Ware, und dann allmählich zur gesellschaftlichen Form aufsteigend, zum »Kapital im Allgemeinen«, bis zu dem Punkt, an dem sich das »Wertgesetz der Konkurrenz« durchsetzt. Jenseits dieser Theorie beginnt die »wirkliche Bewegung der Konkurrenz« und damit das Reich des Zufälligen und Willkürlichen, der individuellen Interessen und Kollisionen.3 Ein großer Teil der Literatur zu Marx ist ebenfalls in Gestalt von Ableitungen geschrieben, sei es in unterstützender und kommentierender Weise, sei es kritisch, etwa um der Arbeitswertlehre oder dem Eigentumsbegriff endlich und endgültig einen jeweils grundlegenden logischen Mangel nachzuweisen. Das vorliegende Buch ist keine Ableitung, sondern besteht aus einer Folge von Essays, die um die Gegenstände der Marx’schen Theorie kreisen. Für die Wahl dieser Form gibt es eine Reihe von Gründen, von denen Lesbarkeit nur einer ist. Dass der Essay...


Steinfeld, Thomas
Thomas Steinfeld, geboren 1954, Germanist und Musikwissenschaftler, ist Feuilletonkorrespondent der Süddeutschen Zeitung und unterrichtet außerdem als Titularprofessor am Kulturwissenschaftlichen Institut der Universität Luzern. Im Paul Zsolnay Verlag erschien: Wallanders Landschaft. Eine Reise durch Schonen (2002). Im Carl Hanser Verlag sind erschienen: Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform (2004), Der Arzt von San Michele. Axel Munthe und die Kunst, dem Leben einen Sinn zu geben (2007) und Der Sprachverführer. Die deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann (2010). Im September 2017 erschien "Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx".


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