Stelling | Erna und die drei Wahrheiten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Stelling Erna und die drei Wahrheiten

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-641-18463-6
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Einfach nur Erna!
Warum steckt in „Gemeinschaft“ auch „gemein“? Solche Fragen interessieren Erna Majewski, 11. Sie besucht eine Gemeinschaftsschule und lebt, wie ihre Freundinnen Liv und Rosalie, im gemeinschaftlichen Wohnprojekt. Dass das ganze Gemeinschaftsgetue ungerecht und sogar verlogen sein kann, erleben Erna und ihre Freundinnen, als nach dem Schulfasching jemand mutwillig die Klos ruiniert hat: Weil der Täter sich nicht meldet, sollen jetzt alle dafür büßen. So eine Gemeinheit! Liv lässt das kalt, aber Erna ermittelt. Und sie findet heraus, was passiert ist. Aber soll sie es auch verraten? Schließlich gibt es laut einem Sprichwort drei Wahrheiten – deine, meine und
die
Wahrheit. Und wer kann die schon ertragen?
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ERNA Man gewöhnt sich ja dran. Vom ersten Tag an wird man mit seinem Namen angesprochen – wenn man vom ersten Tag an einen hat. Ich habe meinen erst eine Woche nach meiner Geburt bekommen: Kein Wunder, für so was Bescheuertes wie ERNA muss man lange nachdenken. Annette behauptet, Erna sei nicht bescheuert, sondern habe als Großmuttername voll im Trend gelegen, und sie habe nur einen gesucht, der nicht so massenhaft vorkam wie Johanna, Mathilda oder Charlotte. Und ich solle froh sein, dass es nicht Emma geworden ist, denn davon gab’s dann allein in meiner Kitakrabbelgruppe drei – Emma Pollack, Emma Schlüter und Emma Ravensburger. »Und warum gab’s die?«, habe ich gefragt und mir die Antwort gleich selbst gegeben: »Weil Emma schön ist und Erna hässlich.« Annette lacht bei so was nur. Sie ist sich sicher, dass ich eines Tages alles so sehe wie sie. Aber jetzt sind schon mehr als elf Jahre vergangen, und Erna ist immer noch ein bescheuerter Name. »Du hast es in der Hand«, sagt Annette, »du bist die Einzige, die so heißt, und wenn du cool bist, werden alle, die dich kennen, mit Erna nichts als Coolness verbinden.« Kann schon sein. Aber ich erinnere sie daran, wenn sie das nächste Mal sagt, ich soll mich doch nicht dauernd selbst so unter Druck setzen, soll nicht immer und überall die Beste sein wollen. DIE BESTE Ich sitze in meinem Zimmer und kämpfe mit der Nähmaschine. Es ist Freitagnachmittag, und am Montag feiern wir Fasching bei uns an der Schule. Ich habe einen halb zerschnittenen Damenlederrock in Annettes Stoffschrank gefunden – es ist praktisch nur noch das Futter mit ein paar Fetzen Wildleder übrig –, aber wenn ich diesen Restrock bis hoch unter die Achseln ziehe, sieht er aus wie ein ärmelloses, ziemlich zerrissenes Kleid. Wenn ich jetzt noch weitere Lederreste und Fellstückchen drannähe, vielleicht sogar so was wie Knochen oder Federn, dann wirkt das Ganze, als ob es aus der Steinzeit stammt, wie das Kleid einer Waldfee oder Kriegerin – Irgendwas stimmt nicht mit der Fadenspannung. Ich hab den Faden jetzt schon zweimal aus- und wieder eingefädelt und auch die Spule raus- und wieder reingesetzt, aber es gibt immer noch so ein Gewirr auf der Rückseite, sobald ich anfange zu nähen. Ich will aber Annette auch nicht bitten, mir zu helfen: weil das Kostüm bis jetzt noch mein Geheimnis ist. Ich näh das Fell einfach von Hand an. Ich mach gern solche Sachen, und ich bin gerne jemand anderes. Am liebsten hätte ich jede Woche ein Thema und würde dazu verkleidet in die Schule gehen. Letztes Jahr, als unser Schulhaus hundert Jahre alt wurde, sollten wir uns anziehen wie die Kinder vor hundert Jahren, und dann haben wir einen Tag lang »alte Schule« gespielt, richtig mit In-Reihen-Sitzen und Aufstehen und Fingernägelkontrolle und Rohrstock. Das hat Spaß gemacht, und die meisten sahen echt klasse aus: Die Jungs hatten Hemden an und die Mädchen lange Röcke. Blöd war nur, dass meine Haare zu kurz waren für Zöpfe, aber Annette hat mir den Tipp mit dem Kopftuch gegeben, und damit waren die Haare verdeckt, und ich sah total brav aus. Jetzt gehen meine Haare wieder fast bis zur Schulter, was gut ist, weil Urwaldbewohnerinnen auch keine Kurzhaarfrisuren tragen, sondern ungezähmte, zausige Zotteln. Ich will mir vorne in die Haare noch Perlen flechten oder ich näh mir ein Stirnband. Bei den Naturvölkern ist man mit elf schon fast erwachsen. Bei uns nicht. Sogar mit zwölf ist man hierzulande noch nichts Richtiges, jedenfalls nicht Teenager – das ist man erst ab dreizehn, weil dann erst dieses »teen« in der englischen Zahl drinsteckt. Nicht, dass es besonders toll wäre, ein Teenager zu sein, aber es ist zumindest irgendwas, also: etwas anderes als Kind. Bei den Naturvölkern ist der zwölfte Geburtstag der Eintritt ins Erwachsenenalter, aber ich wette, dass ich auch mit zwölf weiterhin zur selben Zeit wie Tom ins Bett muss. Christoph und Annette finden nämlich, dass die Wohnung nach acht Uhr abends den Erwachsenen gehört – und die Erwachsenen, das sind die Eltern, ganz egal, wie alt die Kinder werden. Ich versuche, mich nicht darüber aufzuregen. Mein Halbjahresziel im Bereich »Soziales Lernen« ist, mich nicht dauernd über alles so aufzuregen. Das musste ich vor vier Wochen, als das Winterhalbjahr zu Ende war, unter Aufsicht von Birgit, meiner Lehrerin, ins Protokoll des Halbjahresgesprächs eintragen. »Ich zähle innerlich bis zehn, bevor ich mich äußere. Ich argumentiere ruhig und sachlich.« Ich würde das wirklich gerne können, aber es ist schwer. Diese verdammte Nähmaschine! »Eins, zwei, drei, vier … Halt! Stopp! Ich fühle mich gemobbt!« Das ist auch was, das wir sagen sollen, und dazu die Hand ausstrecken. Bloß dass diese Nähmaschine es einfach nicht begreift! Ich kann nicht ruhig bleiben, wenn ich mich aufrege. Wenn um mich herum alle Quatsch reden und niemand versteht, was ich meine – Birgit, unsere Lehrerin, übrigens auch. Birgit ist eine, bei der ich permanent nur zählen und die Hand ausstrecken könnte, zum Beispiel wenn sie versucht, in der Lerngruppe Streit zu schlichten. So wie heute, als Holger, unser Sportlehrer, uns bei ihr verpetzt hat. Wobei Lehrer ja nicht petzen, sondern nur »Informationen weitergeben« – dass ich nicht lache! »Eins, zwei, drei, vier …« Ich denke an was anderes. Jetzt ist Wochenende, und bis Montag hat Birgit ohnehin vergessen, was los war, das ist immer so. Annette sagt, das sei eine Eigenschaft, die Lehrer- und Erzieherinnen mitbringen müssten, weil sie sonst verrückt würden. Ich solle das wertschätzen, sagt sie, soll mich freuen, dass Birgit dadurch, dass sie alles sofort wieder vergisst, uns Kindern auch immer wieder eine neue Chance gibt. »Es kann auch gut sein, die Dinge nicht so ernst zu nehmen«, sagt sie. Ha! Annette ist die Königin des Ernstnehmens. Wehe, jemand benutzt ihre Nagelschere und legt sie nicht genau dahin zurück, wo er sie herhat. Darüber kann sie sich wahnsinnig aufregen. Aber wenn ich Tom verbiete, in mein Zimmer zu kommen, weil dann alles durcheinandergerät, dann – »Halt! Stopp!« Und die Hand nach vorne. Aber es hilft nichts. Schon gar nicht, wenn sich der Spruch auch noch reimt, dann wird nämlich sofort ein Spottvers daraus. »Halt! Stopp! Ich fühle mich gemobbt!«, singt Tom mit verstellter Stimme und latscht trotzdem rein. Das sieht wirklich gut aus mit dem Fell vorne unterm Busen. Also – »Busen« ist eigentlich zu viel gesagt, ich hab noch keinen richtigen. Aber weil das Kleid keine Ärmel hat, sieht es ein bisschen so aus. Überhaupt sehe ich in so einem Kleid viel erwachsener aus als in Jeans und Pulli, das ist wirklich toll. Ich freu mich schon so auf den Montag! Ich geh auch an den anderen Tagen gerne in die Schule. Am liebsten mag ich Deutsch, Mathematik, Kunst, Theater und Englisch. Was ich nicht mag, ist Gruppenarbeit. Und ich hasse Reflexionskreise, Lerngruppenräte und Halbjahresgespräche. Weil man da offen sagen soll, was einen stört, aber wenn man’s dann tut, heißt es, man soll sich nicht aufregen. Also versuche ich, einfach den Mund zu halten und zu zählen – was schwierig ist, wenn Birgit ihrerseits von etwas redet, wo sie selbst überhaupt nicht dabei gewesen ist! Wie zum Beispiel heute in Sport. Aber sicher, ich geb mir Mühe. Ich will schließlich mein Halbjahresziel erreichen! Ich will gelassener werden. Ich will die anderen immer ausreden lassen. Ich will mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen. Ich will nichts haben, was ich nicht kriegen kann. Ich will niemanden enttäuschen. Ich will nicht enttäuscht sein, wenn ich nicht die Beste bin, bin ich aber. Also: enttäuscht. Und: die Beste! Verdammt, das klingt so was von eingebildet … Aber was bleibt mir denn anderes übrig? Ich heiße Erna, ich muss nun mal die Beste sein. Ob ich mit meinem Kleid den Kostümwettbewerb gewinne? Dieses Jahr gibt es eine richtige Jury. Aus Achtklässlern. Die Achtklässler sind die Ältesten bei uns an der Schule, weil unsere Schule noch im Aufbau ist. Und sie sind natürlich alle ziemlich eingebildet und schminken sich und dealen mit Feuerwerkskörpern auf dem Schulhof. Aber dass es eine Jury gibt, finde ich gut. Letztes Jahr gab’s keine, sondern alle haben auf Zettel geschrieben, welches Kostüm sie am besten finden, aber das war natürlich Unsinn, weil dann manche einfach zehn oder noch mehr Zettel für sich selbst ausgefüllt haben, und am Schluss haben die Erzieherinnen die Zettel weggeworfen, und es gab überhaupt keinen Gewinner. Ich denke mal, dass ich gute Chancen habe. Immerhin sehe ich in dem Kleid nicht mehr aus wie neun. AUSSEHEN Ich bin ziemlich klein für mein Alter. Annette sagt, ich soll mir darum keine Sorgen machen. Ich soll überhaupt nicht so viel über Äußerlichkeiten nachdenken. Weil doch wichtiger ist, wie man ist, als wie man aussieht – Ich zupfe an meinem Kleid herum und überlege, ob es jetzt so bleiben kann. Das ist schwierig zu beurteilen ohne Ganzkörperspiegel. Ich könnte zu Rosalie raufgehen, die hat einen riesigen Spiegel bei sich im Zimmer, weil sie mal Ballett gemacht hat. Rosalie ist meine Freundin hier im Haus, und unser Haus ist ein Gemeinschaftshaus, wo es normal ist, wenn man bei anderen klingelt oder mit ihnen Abendbrot isst. Früher war ich ständig bei Rosalie zu Hause,...


Stelling, Anke
Anke Stelling, 1971 geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und wurde für ihre schriftstellerische Arbeit vielfach ausgezeichnet. Ihr Roman »Bodentiefe Fenster« stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, »Schäfchen im Trockenen« erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse.


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