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E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Stelling Schäfchen im Trockenen

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-95732-351-4
Verlag: Verbrecher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Resi hätte wissen können, dass ein Untermietverhältnis unter Freunden nicht die sicherste Wohnform darstellt, denn: Was ist Freundschaft? Die hört bekanntlich beim Geld auf. Die ist im Fall von Resis alter Clique mit den Jahren so brüchig geworden, dass Frank Lust bekommen hat, auszusortieren, alte Mietverträge inklusive. Resi hätte wissen können, dass spätestens mit der Familiengründung der erbfähige Teil der Clique abbiegt Richtung Eigenheim und Abschottung und sie als Aufsteigerkind zusehen muss, wie sie da mithält. Aber Resi wusste's nicht. Noch in den Achtzigern hieß es, alle Menschen wären gleich und würden durch Tüchtigkeit und Einsicht demnächst auch gerecht zusammenleben. Das Scheitern der Eltern in dieser Hinsicht musste verschleiert werden, also gab's nur drei Geschichten aus dem Leben ihrer Mutter, steht nicht mehr als ein Satz in deren Tagebuch. Darüber ist Resi reichlich wütend. Und entschlossen, ihre Kinder aufzuklären, ob sie's wollen oder nicht. Sie erzählt von sich, von früher, von der Verheißung eines alternativen Lebens und der Ankunft im ehelichen und elterlichen Alltag. Und auch davon, wie es ist, Erzählerin zu sein, gegen innere Scham und äußere Anklage zur Protagonistin der eigenen Geschichte zu werden.
Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2019, dem Friedrich-Hölderlin-Preis 2019 und geliestet auf der SWR-Bestenliste Februar 2019.
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Weiß man doch
Ich bin ein echter Spätzünder. Oder geht das allen so, dass ihnen mitten im Leben plötzlich auffällt, was sie nicht kapiert haben, all die Jahre über, obwohl es doch mehr als offensichtlich ist? Ich dachte immer, ich sei klug, würde die Welt kennen und die Menschen verstehen. Schließlich konnte ich schon vor der Einschulung lesen, mich gut ausdrücken und problemlos kopfrechnen. Ich wusste, dass ich mich vor Frank Häberle und dem Hausmeister in Acht nehmen muss, aber auf Simmi Sanders und die Handarbeitslehrerin verlassen kann. Doch von größeren Zusammenhängen, Strukturen oder Machtverhältnissen hatte ich keine Ahnung. Da fehlten mir die einfachsten Erkenntnisse – zum Beispiel die, dass mein Leben auch anders hätte sein können. Das nennt man wohl Sicherheit. Geborgenheit. Glückliche Kindheit. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich dachte: Fuck!, wenn meine Eltern woanders gewohnt hätten, hätten wir einen anderen Küchenfußboden gehabt. Bei dieser Einsicht war ich bereits über zwanzig und schon mehrfach umgezogen: von zu Hause fort nach Berlin und dann hierhin und dorthin. Diesmal hatte ich einen traumhaften Küchenfußboden erwischt: Dreißiger-Jahre-Holzestrich, dunkelgrün und sehr gut erhalten. Meine Eltern hatten so ein Sechziger-Jahre-West-PVC gehabt, grau mit grauem Schlierenmuster, dreißig mal dreißig Zentimeter große Platten – weshalb das Schlierenmuster ständig die Richtung änderte. Nichts gegen diesen Fußboden; ich bin gut und gerne darauf aufgewachsen. Pflegeleicht war er auch. Erst wenn man kleben blieb, meinte meine Mutter: »Hier muss mal wieder gewischt werden«, und dann streute ich Scheuerpulver und schrubbte ohne Lappen vor, und es war erstaunlich, wie schwarz das Wasser war, das ich hinterher in die Toilette goss. Der Fußboden war der Fußboden. Wenn Leute einen anderen hatten, lag es daran, dass sie andere Leute waren. Der Spülkasten der Toilette hatte seitlich einen schwarzen Griff. Den zog ich, um das Fußbodenwischwasser wegzuspülen. Der Spülkasten wurde nicht ausgewechselt, nicht, als irgendwann Spülstopptasten zum Wassersparen in Mode kamen und auch nicht als die alte Mechanik kaputt und der Griff wegen Materialermüdung abgebrochen war. Meine Eltern sagten niemals dem Vermieter Bescheid. Während der vielen Jahre, die ich bei ihnen wohnte, habe ich den Vermieter kein einziges Mal gesehen. Vielleicht habe ich deshalb erst so spät begriffen, was der Unterschied zwischen Miet- und Eigentumswohnen ist – weil meine Eltern ihre gemietete wie eine eigene Wohnung behandelten und, wenn’s nicht mehr anders ging, den Klempner selbst bestellten, ihn auch aus eigener Tasche bezahlten. Warum? Um sich nicht streiten zu müssen, schätze ich. Um so zu tun, als wären sie frei. »Warum bist du so wütend?«, hat Renate, eine Freundin meiner Mutter, mich gefragt, als ich mit ihr im Café saß. Ich zuckte zusammen, weil ich mir eigentlich recht gefasst vorkam, wie ich da meinen Tee trank und über alles Mögliche mit ihr plauderte. Sie aber wollte über das Buch reden, das ich geschrieben hatte, und in dem ich Müttern wie meiner vorwarf, ihre Träume von Freiheit ihren Töchtern aufgehalst zu haben – ohne Idee davon oder Hinweis darauf, wie sie vielleicht zu verwirklichen wären. Renate hatte diesen Text persönlich genommen; zu Recht, wie ich fand, auch wenn ich beim Schreiben nicht speziell an sie gedacht hatte. »Keine Generation kommt davon«, antwortete ich, »ohne dass die nächste ihr was vorwirft.«
»Na dann viel Spaß mit deinen eigenen Kindern«, sagte sie, und ich nickte. »Danke. Werd ich haben.«
Ich habe gern das letzte Wort. Sie aber auch. »Bitte.« Und dazu dieser spezielle Gesichtsausdruck: schlecht kaschiertes Besserwissertum, vorgetäuschte Milde. Diesen Gesichtsausdruck habe ich auch, diesen Gesichtsausdruck geben Mütter ihren Töchtern weiter, genau wie die ungelebten Träume, ja: dieser Gesichtsausdruck erzählt von diesen Träumen, während der Mund verkniffen schweigt. Der Mund ist verkniffen, das Kinn ein wenig vorgereckt. Renate ist groß darin, so zu gucken. Ich aber auch. Und Bea fängt jetzt ebenfalls schon damit an, und ich ertrage nicht, dass es immer so weiter geht, lieber will ich wütend sein, reden und schreiben und Renate in den Tee spucken – damit sie mal sieht, was wütend sein heißt. »Erinnerst du dich an den Fußboden, den wir zu Hause hatten?«, fragte ich. »Nein. Wieso?«
»Er war hässlich. Und nicht selbstverständlich! Aber das musste ich alleine rausfinden, ihr habt ja nicht mit uns geredet.«
»Natürlich haben wir mit euch geredet, von morgens bis abends, jetzt tu doch nicht so.«
»Aber nicht über Fußböden und wie’s zu ihnen kam.«
Renate zog die Augenbrauen hoch und sah mich spöttisch an. Das kann sie auch gut: einem das Gefühl geben, man sei nicht ganz bei Trost. Das hat sie schon getan, wenn sie früher bei meiner Mutter zu Besuch war und ich dazukam und irgendwas erzählte: von der Schule, von Freunden, von der Ungerechtigkeit der Welt. Dann zog Renate die Augenbrauen hoch und meine Aussagen in Zweifel, wies mich auf Aspekte hin, die ich übersehen hatte, setzte alles daran, mich zu verunsichern. Und ich ließ mich verunsichern, anstatt ihren Widerspruch als Diskussionstraining zu nutzen. Das ist heute anders, heute halte ich dagegen. Sagte ihr also, dass ich inzwischen überzeugt sei, dass meine Mutter den Boden auch hässlich gefunden habe, ihn aber hingenommen als das, was sie sich eben leisten konnte, was nun mal da war, und außerdem noch meinte, sie habe weiter nichts mit ihm zu tun. Womit sie sich jedoch getäuscht habe, denn jetzt stehe er für sie. Na gut, das sei vielleicht übertrieben. Für mich ist meine Mutter die Frau, die auf diesem Fußboden steht. Renates Augenbrauen blieben gehoben. »Verstehst du denn nicht?«, fragte ich aufgebracht. »Ich hätte wissen sollen, was sie eigentlich wollte, wie’s zu dem gekommen ist, was dann das Normale war, was vielleicht die Alternativen gewesen wären und warum sie die nicht ergriffen hat!«
»Und was hat das mit dir zu tun?«
»Alles! Ich stand schließlich auch auf diesem Fußboden.«
Renate schüttelte den Kopf und bestellte noch mehr Tee. Ging erst mal aufs Klo, wollte offensichtlich nicht darüber reden. Doch sie muss, denn meine Mutter kann nicht mehr. Ist gestorben, bevor ich begriffen hatte, wonach ich sie unbedingt fragen muss, an welcher Stelle nachbohren, weil, wie ich nun von Renate erfuhr, das Schweigen Absicht gewesen sei, kein Versäumnis. Keine von ihnen, weder Renate noch meine Mutter, habe ihre Kinder mit Anekdoten und alten Geschichten belasten wollen, schon gar nicht mit solchen, die von mangelnden Alternativen, schlimmen Voraussetzungen und geringerem Übel handelten. »Ihr solltet frei sein und eure eigenen Wege gehen.«
»Ja, genau«, sagte ich, »völlig unbelastet.«
Renate hatte keine Lust auf meine Ironie, wollte lieber selbst sticheln. »Natürlich hätte deine Mutter gern einen Terrazzoboden in einem Chalet am Genfer See gehabt.«
Ja, ja. Natürlich. Liste für Bea: Holzestrich finde ich den schönsten aller Böden, der ist heutzutage aber wahnsinnig teuer, weil er nicht mehr üblich ist. Sich Holzestrich legen zu lassen, ist inzwischen ein nerdiger Luxus, also vergiss es. Dielen in der Küche sehen vielleicht auf den ersten Blick schön aus, sind aber anfällig für Fettflecken, und in den Ritzen sammelt sich der Dreck. Das kennst du ja von zu Hause, so ein Boden ist alles andere als pflegeleicht. Allerdings ist ein Fliesenboden, der sich ganz einfach wischen lässt, auch nicht das, was man pflegeleicht nennt, denn den muss man dann auch täglich wischen, weil nichts einzieht oder sich wegguckt, es sei denn, die Fliesen haben dieses Schlieren- oder Sprenkelmuster, und dann, Bea, finde ich sie echt zum Davonlaufen. Schlimmer noch als PVC, denn Fliesen sind außerdem fußkalt, es sei denn, es liegt eine Heizung darunter. Sagen wir mal so: Einfarbige Terrakottafliesen mit Fußbodenheizung sind okay – wenn man eine Putzfrau hat, die sich ständig um sie kümmert. Ich hatte noch nie eine Putzfrau. Ich habe als Putzfrau gearbeitet, aber das passt nicht in die Auflistung der Fußböden, oder doch? Doch. Ja. Natürlich. Ich habe beschlossen, alles zu erzählen. Nichts ist natürlich, alles ist gemacht, hängt miteinander zusammen, nutzt...


Anke Stelling, 1971 in Ulm geboren, absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2004 wurde ihr gemeinsam mit Robby Dannenberg verfasster Roman "Gisela" verfilmt, 2010 die Erzählung "Glückliche Fügung". Weitere Veröffentlichungen: "Nimm mich mit" (2002, gemeinsam mit Robby Dannenberg), "Glückliche Fügung" (2004) und "Horchen" (2010).

Anke Stelling stand mit ihrem im Verbrecher Verlag erschienenen Roman "Bodentiefe Fenster" (2015) auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2015. Zudem stand der Roman auf der Hotlist 2015 der unabhängigen Verlage und wurde mit dem Melusine-Huss-Preis 2015 ausgezeichnet. 2017 erschien ihr Roman "Fürsorge" im Verbrecher Verlag. Ihr neuster Roman "Schäfchen im Trockenen" (2018) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2019 ausgezeichnet.

Im Juni 2019 erhielt sie den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg.


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