Stiehler / Haag / Ravagli | Solidarität heute | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 234 Seiten

Stiehler / Haag / Ravagli Solidarität heute

Modeerscheinung oder nachhaltiger Gesellschaftswandel?

E-Book, Deutsch, 234 Seiten

ISBN: 978-3-593-45155-8
Verlag: Campus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Noch bis vor einigen Jahren galt Solidarität als linker, gewerkschaftlicher, gegen globale Ungleichheit engagierter Begriff. Mit nationale Grenzen überspringenden Bekundungen – von »Je suis Charlie« über »Wir schaffen das«, »#MeToo« und »Black Lives Matter« bis hin zur Hochkonjunktur der Solidarität in der Coronapandemie – änderte sich dies.
Doch was sind die heutigen Grundlagen von Solidarität? Wie kann solidarisches Handeln gelingen? Bedeutet ein Klick in den sozialen Medien, dass solidarisch gegen Missstände oder strukturelle Unzulänglichkeiten gehandelt wird? Welchen Anfeindungen sind Menschen ausgesetzt, wenn sie sich öffentlich solidarisch verhalten? Ist Solidarität ein Schlüssel zur Bewältigung der gegenwärtigen Krisen? Die Beiträge dieses Buches gehen dem nach, was Solidarität heute in ihrer Vielgestaltigkeit ausmacht.
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Solidarität als systemrelevante Triebkraft im sozialen Netzwerk
Annemarie Pieper Das Wort »Solidarität« hat Konjunktur. Zu Beginn der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts zog es mit zunehmender Dominanz in den Alltagsdiskurs ein und ist mittlerweile tagtäglich in sämtlichen Medien zu finden. Solidarität wird beklatscht, eingefordert und ihr Fehlen angeprangert. Den ersten Schub an Bedeutsamkeit bekam »Solidarität« mit der Corona-Pandemie. Es galt die als »vulnerabel« bezeichneten Mitglieder der Gesellschaft zu schützen, was von den weniger Gefährdeten Einschränkungen ihrer Freiheit verlangte: aus Solidarität mit der Gruppe der verletzlichen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Auslöser des zweiten Schubs an Bedeutsamkeit von »Solidarität« war der Flüchtlingsstrom, den der Krieg Russlands gegen die Ukraine zur Folge hatte. Diesmal sind es nicht alte und kranke Menschen, die auf die Solidarität ihrer Mitmenschen angewiesen sind, sondern vor allem Frauen und Kinder, die Schutz brauchen und von einer breiten Bevölkerung zugesichert bekommen. Mittlerweile hat das Thema »Solidarität« auch Einzug in den akademischen Diskurs gehalten, speziell in die Sozialwissenschaften und die Philosophie (Bayertz/Brinkmeier 1998; Bude 2019). Die Frage, ob Solidarität nur in Krisenzeiten, wenn es um Leben und Tod geht, nötig ist oder ob mit Solidarität eine Qualität menschlichen Handelns gemeint ist, die jederzeit praxiswirksame Kraft haben soll, beschäftigt vor allem die philosophische Ethik. Doch in der Geschichte der Philosophie taucht »Solidarität« erst spät auf, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vorher führt der Begriff ein Nischendasein, und auch in den dickleibigen Büchern der sogenannten »Wertethiker« stand Solidarität eher am Rand als im Zentrum der Untersuchung und verschwand danach wieder aus dem Ethikdiskurs. »Solidarität« in der Ethik des 20. Jahrhunderts
Max Scheler führte in seinem Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913–1916) das Solidaritätsprinzip ein, um jene soziale Handlungsstufe zu kennzeichnen, auf der »das individualistische Konkurrenz- und Neidprinzip« (Scheler 1966: 274), das die unsolidarische Masse regiert, überwunden sei zugunsten einer höherrangigen Stufe, auf der jeder Mensch gleichzeitig Einzelperson und individuelle Gesamtperson sei (Scheler 1966: 522). Das »Band sittlicher Solidarität« stelle die Verbindung mit der historischen Menschheit über die Brückenprinzipien der Selbstverantwortlichkeit und der Mitverantwortlichkeit her (Scheler 1966: 313, 522): »Das Solidaritätsprinzip in diesem Sinne ist uns also ein ewiger Bestandteil und gleichsam ein Grundartikel eines Kosmos endlicher sittlicher Personen. Erst durch seine Geltung wird die gesamte moralische Welt […] zu einem großen Ganzen, an dem jede Person partizipiert.« (Scheler 1966: 523) Nicolai Hartmann knüpfte in seiner Ethik (1926) an Schelers wertmetaphysische Grundlegung der Moral an. Rechtliche und bürgerliche Solidarität hätten ihre Wurzel in der Mitverantwortung für das überindividuelle gesellschaftliche Ganze, um dessen Erhaltung jedes Individuum als gleichgestellte Person unter gleichgestellten Personen aus freien Stücken mitwirkt (Hartmann 1935 [1926]: 386). Der Wert der »Solidarität ist Gesinnungswert des Einzelnen« (ebd.: 388) als Staatsbürger, und als solcher trägt er auch die Schuld jener mit, die gegen das Solidaritätsprinzip verstoßen. Mit Blick auf den Textumfang ist von Solidarität bei Scheler und Hartmann wenig die Rede, obwohl der Begriff durchaus eine Rolle im Wertespektrum spielt. Was weitgehend fehlt, ist eine Feinjustierung solidarischer Praxis, die von der abstrakten Platzierung des Begriffs in einem allgemeinen sozialen Wertesystem zu konkreten Handlungsmustern führt, beschrieben anhand exemplarisch geschilderter Sachverhalte. Jedenfalls verlagerte sich nach der Mitte des 20. Jahrhunderts der Schwerpunkt der Ethik von der Wertethik zu moralphilosophischen Untersuchungen, die sich angewandten und Spezialethiken widmeten sowie der analytischen Ethik und Formen normativer Ethik den Boden bereiteten (Pieper 2017: v.a. 200 ff.). In den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts dominierten »Gerechtigkeit«1 und »Verantwortung«2 den ethischen Diskurs und verdrängten daraus die »Solidarität«. In der anwachsenden feministischen Literatur drehten sich die Kontroversen ebenfalls vorwiegend um Fragen der Gerechtigkeit und Verantwortung. Dabei ging es um das Missverhältnis zwischen den Geschlechtern, das in patriarchalen Gesellschaften entstanden war durch die ungleiche Verteilung relevanter sozialer Aufgaben und die damit einher gehende unterschiedliche Wertschätzung der von Männern und Frauen erbrachten Leistungen. Die Forderung, das Fürsorgeprinzip dem Gerechtigkeitsprinzip als allgemein verbindliches Handlungsregulativ für verantwortungsbewusste Menschen gleichzustellen (Gilligan 1984; Pieper 1993), bereitete der These, Solidarität als systemrelevante Triebkraft im sozialen Netzwerk zu verstehen, den Boden. Solidarität als Manko des Utilitarismus
Die Fokussierung auf Gerechtigkeit und Verantwortung als Prinzipien sozialen Handelns vollzog sich im Kontext einer Kritik am Utilitarismus, dessen Priorisierung des Nutzenprinzips moralische und ethische Überlegungen ökonomisierte. Als Jeremy Bentham 1789 die utilitaristische Grundthese aufstellte, höchstes moralisches Ziel individuellen wie kollektiven Handelns sei es, das größte Glück der größten Zahl durch Vermehrung des Gesamtnutzens herzustellen (Bentham 1789), hatte er ebenso wenig wie rund siebzig Jahre später John Stuart Mill (Stuart Mill 1976 [1863]) die Folgen vor Augen, die eine rigorose Befolgung des Nutzenkalküls nach sich zog, nämlich ökologische Probleme aufgrund exzessiver Ausbeutung natürlicher Ressourcen und eines überbordenden Konsumverhaltens. Zugleich entstand ein Ungleichgewicht zwischen denen, die im Zuge der Mehrung ihres Nutzens ihren Wohlstand erfolgreich vermehren konnten, und denjenigen, die dabei auf der Strecke blieben und kaum über das für die Erhaltung der Existenz Notwendige verfügten. Das Nutzenprinzip als oberste Handlungsmaxime versagt als ethisches Prinzip, weil es die Maximierung des Durchschnittsnutzens gebietet, der sich aus dem Verhältnis aller Güter zur Anzahl der Menschen ergibt, wobei außer Acht bleibt, dass die von den ohnehin Begünstigten erzielten Überschüsse das Manko auf Seiten der ohnehin schlechter Gestellten kompensieren, ohne dass diese davon in irgendeiner Weise profitieren. Die Steigerung des Durchschnittsnutzens führt daher zu sozialen Problemen, die zu lösen die Gerechtigkeits- und Verantwortungsethiker angetreten sind. Im Nachhinein verwundert es, dass in den kritischen Abhandlungen zum Utilitarismus Solidarität, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt wurde und entsprechend als Stichwort in den Sachregistern nicht vorkam. Der Utilitarismus bestimmte zwar das größtmögliche Glück der größten Zahl als oberstes Handlungsziel, das er de facto jedoch verfehlte, weil die bereits mit Gütern reichlich Ausgestatteten mangels Verantwortungsbewusstsein und Gerechtigkeitsempfinden auf die Mehrung des eigenen Nutzens bedacht waren, also keine Solidarität mit den wenig Begüterten zeigten, deren Aussichten auf eine Verbesserung ihrer Lebenschancen sehr gering waren. Egoismus und Scheinsolidarität
Die Fokussierung auf den Eigennutzen dürfte auch mit einem Missverständnis zusammenhängen, das aus jenem Paradigmawechsel resultierte, den Kant und die deutschen Idealisten mit dem Stichwort »Kopernikanische Wende« verbanden. Sie rückten nicht mehr die Welt der Objekte als Grundlage der Erkenntnis ins Zentrum ihrer Philosophie, sondern das »Ich« als Konstrukteur der Dinge. Zwar ging dieser Perspektivenwechsel vom Objekt zum Subjekt mit dem Verzicht auf eine Erkenntnis der Dinge einher, wie sie an sich selbst – ohne die kategorialen Vorgaben eines rational verfahrenden Verstandes –...


Haag, Caroline
Caroline Haag ist Dozentin am Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) und Co-Leiterin des Schwerpunkts »Öffentliches Leben und Teilhabe« an der OST – Ostschweizer Fachhochschule.

Reutlinger, Christian
Christian Reutlinger ist Leiter des Instituts für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) der OST – Ostschweizer Fachhochschule.

Ravagli, Myriel Enrico
Myriel Enrico Ravagli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement für Soziale Arbeit der OST – Ostschweizer Fachhochschule.

Stiehler, Steve
Steve Stiehler ist Professor am Departement für Soziale Arbeit der OST – Ostschweizer Fachhochschule.

Steve Stiehler ist Professor und Myriel Enrico Ravagli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Soziale Arbeit an der OST - Ostschweizer Fachhochschule. Caroline Haag ist Dozentin und Christian Reutlinger ist Professor am Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) am oben genannten Departement.


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