Storl | Ich bin ein Teil des Waldes | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Storl Ich bin ein Teil des Waldes

Der Botschafter der Pflanzen erzählt sein Leben

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-96860-510-4
Verlag: Kosmos
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der begeisterte Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl erzählt von seinem ungewöhnlichen Leben. Er studiert Biologie und hat eine glänzende Wissenschaftler-Karriere in Aussicht. Doch während eines geheimen Forschungsvorhabens packt ihn die Erkenntnis, dass er so nicht weiterleben möchte. Storl steigt aus und tauscht seine akademische Laufbahn gegen ein Leben mit der Natur: Er wandert mit Schamanen der Cheyenne, meditiert mit den Sadhus Shivas in Indien, arbeitet bei Schweizer Bergbauern und ist Gärtner einer anthroposophischen Landkommune. Überall trifft er Persönlichkeiten, die ihm den Zugang zu einer anderen Welt zeigen – einer Welt, die sich um Sagen, Mythen und die Heilkräfte der Pflanzen rankt.
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In den Wäldern Ohios Mich erzog der Wohllaut
Des säuselnden Hains
Und lieben lernt’ ich
Unter den Blumen.
Im Arme der Götter wuchs ich groß. Hölderlin, »Da ich ein Knabe war« Das Auswandern hatte früher, vor Düsenflug und Globalisierung, etwas Endgültiges an sich. Es war ein Sprung in eine unbekannte Dimension, ein für immer Verlassen dessen, was man kannte. Kein Wunder, dass die Iren für jeden, der übers Meer zog, eine Totenwache hielten. Die Kapelle am Bremerhavener Kai spielte »Muss i denn zum Städtele hinaus«, nass geweinte Taschentücher wedelten, das Schiffs­horn tönte, und damit begann die Meeresreise auf dem Auswanderer­dampfer »Europa«. Für mich als Elfjährigen war es ein Ausflug, der nie enden sollte. Pauker, Schulqualen und die engen Wohnverhältnisse in der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt Oldenburg rückten mit dem schwindenden Festland immer weiter in die Ferne. Bald drehten auch die letzten Möwen kreischend ab und wir waren auf hoher See. Am liebsten stand ich am Bug zwischen der schäumenden Gischt und dem weiten Himmel. Der hohe Wellengang leerte manchmal den Speisesaal, trieb mich aber in die Ekstase, verband mich in meiner Fantasie mit Wikingern und Drachenschiffen, mit dem verwegenen Seeräuber Klaus Störtebeker, der mein Held war. Einmal flogen fliegende Fische dicht über der Wasseroberfläche vorbei. Und dann, nach zehn Tagen, tauchte am Horizont ein immer größer werdender dunkler Streifen auf: Amerika, jubelte ich, dort gibt es Cowboys mit Colts und echte Gangster. Die Freiheitsstatue wurde in Sonntagskleidung begrüßt. Der Vater fotografierte. »Kämm dir die Haare aus dem Gesicht! Zieh die Kniestrümpfe hoch!« Ich gehorchte sofort, wohl wissend, dass es bei Ungehorsam Ohrfeigen hageln würde. Die Wolkenkratzer New Yorks schienen tatsächlich so hoch, als würden sie die Wolken kratzen. Ich fragte meine Eltern, ob der schwarze Straßenfeger sich wirklich nicht, wie ein verrußter Essenkehrer (Schornsteinfeger), mit Seife weiß waschen kann. Der Mann beantwortete mein staunendes Anstarren mit einem breiten, herzlichen Lächeln. Von der Central Station ging es mit der Eisenbahn nach Massillon, Ohio. Dort warteten die Onkel und Tanten, die uns Carepakete nach Deutschland geschickt hatten. Kommt nach Amerika, hier ist alles bigger and better, hatten sie dazu geschrieben. Als Tante Anna mich sah, musste sie lachen. »Kurze Hosen, Kniestrümpfe, ha, ha! Morgen gehen wir zu Woolworth, da kriegst du Jeans und T-Shirts. Und die Haare gehen auch nicht, sieht ja aus wie Hitlerjugend, da muss ein Crewcut oder Bürstenschnitt her.« Am nächsten Tag ging es im Straßenkreuzer in die Stadt, Haare schneiden und echte amerikanische Kleidung kaufen. Auch den Namen sollte ich ändern. »Walter« sollte ich von nun an heißen, aber darauf reagierte ich nicht. Die Häuser in der Nachbarschaft, wo Tante Anna und Onkel Bill wohnten, waren nicht die Marmorvillen, die ich mir vorgestellt hatte, sondern schlichte, weiß gestrichene Holzhäuser. Überall grüner Rasen, hohe Baumalleen, keine Zäune. Der Nachbarjunge drückte mir einen Spielrevolver in die Hand, dabei lernte ich mein erstes amerikanisches Wort: Pistol – leicht zu merken, klingt wie Pistole. Schon der erste Tag brachte eine überwältigende Fülle von neuen Natureindrücken. Die Singzikaden ließen die Luft mit massivem Chorgesang vibrieren. Ab und zu plumpste eines der schweren Kerbtiere aus dem üppig wuchernden Grün. Kolibris schwirrten wie riesige Insekten von einer roten Trichterblume zur anderen. Gegen Ende Mai verwandelte sich nachts die Gegend in eine Elfenlandschaft: Abermillionen kräftig grünlich gelb blinkende Leuchtkäfer (Photuris pennsylvancia) schwirrten wie lauter Feuerfunken oder tanzende Sterne durch die feuchtwarme Luft des Mittelwestens. Es war ein Naturphänomen, das man heute – wegen der vielen Pestizide und Herbizide – leider nicht mehr erleben kann. Gleich in der ersten Woche entdeckte ich am Rand der Siedlung einen sumpfigen See mitten in einem Wald, der für meine Begriffe eher einem tropischen Urwald, einem Dschungel glich. Schildkröten aller Größen tummelten sich dort oder sonnten sich am Ufer. »Da, eine Schildkröte!«, rief mir einer meiner neuen Spielkameraden zu, während er auf einen Reptilienkopf zeigte, der gerade vor uns aus dem trüben Wasser auftauchte. »Pack sie!« Ich griff zu und hielt statt einer Schildkröte eine Schlange in der Hand. Schlangen gab es viele, darunter der giftige Kupferkopf (Copperhead) und die Wassermokassinschlange, die wegen ihres weißen Rachens auch Cottonmouth (Baumwollschlund) genannt wird. Libellen gab es auch, so riesig, dass der Name Dragon Fly (Drachenfliege) gut zu ihnen passte. Daneben eine Schmetterlingsvielfalt! Am schönsten war der orangefarbene, schwarz geäderte Monarch, dessen beeindruckende Raupe an der milchigen Seidenpflanze frisst. Von den Ästen der Baumriesen hingen armdicke Lianen. Die Jungen hatten einige dieser Schlingpflanzen gekappt, so dass man mit Anlauf wie Tarzan weit über das Seeufer hinaus schwingen und dann ins Wasser springen konnte. Das war praktisch: Man brauchte nicht durch den Schlamm zu waten und dabei womöglich auf eine Schnappschildkröte treten, deren Biss einem die Zehe kosten konnte. Sehr bald lernte ich auch den gefürchteten Giftsumach, das Poison Ivy, kennen, der bei empfindlichen Menschen richtige Brandblasen hervorrufen kann. Gleich in der ersten Woche hatte ich schon meinen ersten Job. Zusammen mit anderen Jungen sammelte ich auf einer Driving Range, einem Golfplatz, die verschossenen Golfbälle ein. Für einen Scheffel (Bushel) – das sind ungefähr 100 Golfbälle – bekamen wir einen Dime (zehn Cent). Wenn man wirklich fleißig war, konnte man bis zu einem Dollar am Tag verdienen. Das war sehr viel. Ich kam mir vor wie ein Millionär: Ein Schokoriegel kostete fünf Cent, ein Softdrink zehn Cent. Da blieb immer etwas übrig, da konnte man sich noch Spielzeugpistolen, einen Cowboyhut oder andere Spielsachen kaufen. Ja, ich verdiente mit diesem Dollar sogar noch mehr als mein Vater, der auf Arbeitssuche war und per Anhalter die Städte Ohios nach einer Stelle abklapperte. Nachdem die tägliche Sammelaktion von Golfbällen beendet war, spielten wir Krieg. Alle hatten BB-guns (Luftgewehre) und der Älteste fuhr mit einem echten, ausrangierten Army-Jeep durch die verwilderte Landschaft. Ich war automatisch Indianer oder German und musste mich irgendwann totschießen lassen – natürlich nicht mit dem Luftgewehr, das wäre zu gefährlich gewesen. Das machte mir aber nichts aus, ich war froh, durch die Natur tollen zu können. Meine Eltern hatten es schwer mit dem Neuanfang. Fremdes Land, keine Arbeit. Meine Mutter litt unter der ständigen Hitze, die karibische Südwinde nach Ohio trugen. Abends erfrischten wir uns in einem Soda fountain5 mit einem Glas Coca-Cola – welch exquisiter Genuss, sogar Eiswürfel gab’s – und sprachen über die Zukunft. Sobald sie genug Geld hatten, wollten meine Eltern zurück nach Deutschland. Ich wollte aber auf keinen Fall, mir gefiel es hier. Mit unseren Verwandten verstanden sich meine Eltern nicht – kulturelle Differenzen. Meine Mutter war eine wohlbehütete Fabrikantentochter, der Vater stammte aus einer strammen Offiziersfamilie. Tante Anna dagegen wuchs auf einer kleinen Farm auf, wo mit dem Maulesel gepflügt, das Holz für den Herd aus dem Wald und das Wasser im Freien mit Handpumpe geholt wurden. Die Hüllblätter von Maiskolben dienten als Klopapier. Noch immer machte sie ihre Seife selber aus altem Fett. Ihr Vater, Ernst Storl, zu Bismarcks Zeiten Armeedienstverweigerer und Sozialist, kletterte als 16-Jähriger aus dem Hinterhoffenster des Elternhauses in Waldheim, als die Gendarmerie kam, um ihn abzuholen. Er wanderte zu Fuß nach Hamburg, versteckte sich im Rettungsboot eines Klipperschiffes, das nach Amerika fuhr. Hunger trieb ihn an Deck. Eine Auswandererfamilie adoptierte den Jungen und nahm ihn mit nach Ohio. – »Ein harter Bursche«, erzählte uns Frau Settle, die ihn noch von damals kannte. Eines Tages krachte es. Ich wurde ins Schlafzimmer geschickt, dennoch drangen das Gekreische der Tante und die Kasernenstimme meines Vaters durch die Wände. Am nächsten Morgen zogen wir aus; wir fanden eine modrig riechende Einzimmerwohnung im Slumviertel der Stadt. Ein Bett, das aus der Wand geklappt wurde, und eine Küchennische, das war alles. Ich schlief in der Küchennische auf dem Boden. Tagsüber stromerte ich durch die verwilderten Randbezirke der Stadt oder schaute Westernfilme im Fernsehen bei der Arbeiterfamilie, mit der wir das Klo teilten. So lernte ich amerikanisch und sog zugleich die amerikanischen Werte auf. Abends sang ich mich in den Schlaf mit deutschen Volksliedern: »Der Jäger in dem grünen Wald«, »Der Jäger aus Kurpfalz«, »Auf, du junger Wandersmann«. Mir gefiel es sehr in Amerika, allein abends übermannte mich das Heimweh. Slums sind ein faszinierendes menschliches Ökotop. Im Nachbarhaus wohnte eine Familie mit 13 Töchtern. In deren Wohnung standen kaum Möbelstücke und keine Bilder hingen an der Wand, stattdessen gab es griffbereite Gewehre. Auf einem zerfransten Wohnzimmersofa saß der arbeitslose Vater im löchrigen Unterhemd vor dem Fernseher und soff Bier. Bei der Nachbarin auf der anderen Seite roch es immer nach Essig. Die Frau stand erst am Nachmittag auf und nachts kamen immer Männer zu Besuch, man hörte Fluchen, Stöhnen und manchmal knallte eine Bierflasche gegen die...


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