Tanpinar | Seelenfrieden | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Tanpinar Seelenfrieden

Nachwort von Wolfgang Günter Lerch. Roman. Türkische Bibliothek

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-293-30167-2
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der junge Historiker Mümtaz hat eine geradezu osmotische Beziehung zu der alten, vom Verfall bedrohten Sultansmetropole: zu ihren Bauwerken, zum Basar voller rätselhafter Dinge, zur Poesie, zur klassischen Musik. Als er Nuran kennenlernt, erwacht in dieser Liebe einen Sommer lang der Zauber der alten osmanischen Kultur zu neuem Leben. Bis eines Tages der todkranke Suat, Studiengefährte und Rivale von Mümtaz, auftaucht und diese Liebe zerstört. 'Tanpinars Werk ist aus der türkischen Gegenwartsliteratur nicht wegzudenken. Nicht nur Linksintellektuelle, Modernisten und am Westen ausgerichtete Denker, sondern auch Konservative, Traditionalisten und Nationalisten räumen ihm diesen Status ein und berufen sich gerne und oft auf Tanpinars Renommée und Ansehen. Seine Auseinandersetzung mit der alten würdevoll-beschaulichen osmanischen Kultur einerseits und sein Aufgreifen moderner Tendenzen der europäischen Literatur andererseits machen ihn zu einer faszinierenden Persönlichkeit.' Orhan Pamuk

Ahmet Hamdi Tanpinar, geboren 1901 in Istanbul, war einer der angesehensten Literaturwissenschaftler der Türkei; ein sensibler Autor, der die kulturellen Werte der osmanischen Tradition nicht aufgeben wollte. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft arbeitete er zunächst als Gymnasiallehrer. Von 1939 bis zu seinem Tod 1962 war er Professor für türkische Sprache und Literatur in Istanbul. Seine Romane, insbesondere Seelenfrieden, haben in der Türkei Kultstatus gewonnen.
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Mümtaz hatte kaum noch das Haus verlassen, seit Ihsan krank war – sein Cousin väterlicherseits, den er »großer Bruder« nannte. Einmal abgesehen von Dingen wie den Arzt zu rufen, mit einem Rezept zur Apotheke zu gehen und ein Medikament zu holen oder von der Wohnung der Nachbarn aus zu telefonieren, hatte er fast die ganze Woche neben dem Bett des Kranken verbracht, in seinem Zimmer gelesen oder gegrübelt und Ihsans Kinder beschäftigt. Ihsan hatte ein, zwei Tage über Fieber, Schlappheit und Rückenschmerzen geklagt, und schon war daraus eine Lungenentzündung geworden. Das Haus war im Ausnahmezustand; es herrschten Angst, Sorge und Trauer, Stoßgebete lagen allen auf den Lippen, und aus jedem Blick sprach Verzweiflung. Mit der Sorge um Ihsans Krankheit legte man sich zu Bett, mit ihr wachte man wieder auf. Auch an diesem Morgen erwachte Mümtaz bedrückt aus einem Schlaf, in dem die Pfeifen von Lokomotiven eine Vorahnung ganz anderer Ängste in ihm ausgelöst hatten. Es ging auf neun Uhr zu. Er setzte sich auf die Bettkante und dachte nach. Heute gab es viel zu erledigen. Der Arzt hatte sich für zehn Uhr angemeldet; aber es war nicht nötig, auf ihn zu warten. Vor allem musste eine Krankenpflegerin gefunden werden. Weil weder Macide noch seine Tante, Ihsans Mutter, von der Seite des Kranken wichen, waren die Kinder sehr verstört. Mit Ahmet kam die alte Hausangestellte einigermaßen zurecht. Aber Sabiha brauchte jemanden, der ganz für sie da war, mit dem sie reden konnte. Mümtaz lächelte beim Gedanken an seine kleine Nichte. Dann fiel ihm auf, wie sehr seit seiner Heimkehr seine Zuneigung zu seiner Verwandtschaft gewachsen war: »Ist das nur aus Gewohnheit? Mögen wir jemanden bloß, weil wir uns an ihn gewöhnt haben?« Um sich von diesem Gedanken loszureißen, überlegte er, wie er das Problem der Krankenpflegerin lösen könne. Auch Macide war ja nicht wirklich kerngesund. Erstaunlich, wie sie diese Belastung aushielt. Aber Bedrückung und Erschöpfung konnten sie schon bald wieder in ein Schattenwesen verwandeln. Ja, er musste los und eine Krankenpflegerin finden! Und nachmittags hatte er sich mit dem Ärgernis zu befassen, das man Mieterschaft nennt. Beim Ankleiden murmelte er vor sich hin: »Nur ein Schilfrohr ist der Mensch …« Mümtaz, der einen guten Teil seiner Kindheit sehr einsam gewesen war, sprach gerne mit sich selbst. »Und dieses ganz andere seltsame Ding, das wir Leben nennen …« Dann kehrten seine Gedanken wieder zu der kleinen Sabiha zurück. Die Vorstellung, dass er seine Nichte nur deswegen lieb hatte, weil er nach Hause zurückgekehrt war, widerstrebte ihm. Nein, er war ihr seit dem Tage ihrer Geburt verbunden. Er war ihr sogar dankbar, denn kaum ein anderes Kind hatte in so kurzer Zeit so viel Trost und Freude ins Haus gebracht wie sie. Und dies angesichts der Umstände, unter denen sie zur Welt gekommen war! Seit drei Tagen suchte Mümtaz nun schon eine Krankenpflegerin. Er hatte zahllose Adressen gesammelt und herumtelefoniert. Aber kaum sucht man in unserem Land jemanden, ist er wie vom Erdboden verschwunden. Im Orient wartet man erst einmal ruhig ab. Nur etwas Geduld, und alles ergibt sich ganz von selbst. Noch Monate nach Ihsans Genesung würden sich sicherlich Krankenpflegerinnen melden. Aber wenn etwas dringlich war … Die Sache mit der Krankenpflegerin war ein typisches Beispiel für diese Mentalität. Und der Mieter erst … Das Problem mit dem Mieter war ein ganz besonderes Ärgernis. Seit dem Tag, an dem er den kleinen Laden von Ihsans Mutter gemietet hatte, mäkelte er ständig an ihm herum. Aber zwölf Jahre lang hatte er nicht daran gedacht, ihn aufzugeben. Dieser gute Mann schickte nun seit zwei Wochen ein um das andere Mal Mitteilungen mit der Bitte, einer der Herren oder die gnädige Frau selbst möchten ihn doch unbedingt beehren. Das hatte es noch nie gegeben! Sogar der Kranke in seinem Fieber und seinen Schmerzen war entgeistert. Denn alle im Haus wussten, dass es Mietern zuvörderst eigentümlich ist, unsichtbar zu bleiben, sich zu verbergen, ja möglichst spät und vor allem zögerlich aufzutauchen, wenn man nicht Kontakt mit ihnen suchte, und selbst dann, wenn man es tat. Mümtaz, den man seit einigen Jahren mit Dingen betraute, wie den Mietvertrag zu erneuern und die Miete zu kassieren, wusste nur zu gut, wie schwierig es war, mit dem Mieter zu reden, auch wenn man ihm in seinem Laden gegenüberstand. Sobald der junge Mann den Laden betrat, setzte sich der Mieter wie einen Talisman mit Zauberkraft, ja wie eine magische Waffe eine Brille mit schwarzen Gläsern auf, wurde hinter dieser Glaswand so gut wie unsichtbar und erzählte dann von der wirtschaftlichen Flaute, davon, wie hart sein Leben sei und wie glücklich dagegen die seien, die als Staatsbeamte ein festes Einkommen bezögen. So schimpfte er dann auf sich selbst und machte sich Vorwürfe, weil er seine Beamtenstellung aufgegeben und dem Prophetenwort »Der Kaufmann ist ein Liebling Gottes« gefolgt sei – ja, er hatte nur deswegen, um diesem Wort des Propheten nicht bewusst den Gehorsam zu verweigern, sich selbstständig gemacht. Seine abschließenden Ausführungen blieben vage: »Mein Herr, Sie kennen die Lage; im Moment ist es mir nicht möglich, bitte, richten Sie der gnädigen Frau meine Verehrung aus. Ich bitte um ein paar Tage Aufschub. Sie ist nicht mehr bloß unsere Vermieterin, sie ist zu unserer Wohltäterin geworden. Wenn sie mit Gottes Willen in zwei Wochen vorbeikommt, wird uns das nicht nur eine große Ehre sein, sondern ich kann ihr dann auch etwas überreichen.« Wollte Mümtaz aufbrechen, hob der Mieter erneut an, wobei seine Stimme zitterte, als erschreckte ihn die Größe seines Versprechens: »Ob es mir in zwei Wochen allerdings möglich sein wird …« Und weil er nicht sagen konnte: »Wenn möglich, soll sie nicht kommen, keiner von euch soll hier auftauchen, wozu solltet ihr auch! Als ob es nicht reichte, dass ich in diesem wackligen Gebäude, in diesem absurden Käfig sitzen muss! Soll ich euch dafür auch noch Geld zahlen?«, bat er: »Besser, sie gibt mir gegen Monatsanfang die Ehre oder sogar Mitte des nächsten Monats.« So versuchte er, diese Unterredung nach hinten, in die ferne Zukunft zu verschieben. Und nun schickte dieser Mann, der es nicht leiden konnte, wenn man ihn aufsuchte oder sich nach ihm erkundigte, Nachricht über Nachricht, fragte nach dem Ergehen, verlangte, die gnädige Frau oder wenigstens einer der Herren sollte ihn zu einem Gespräch aufsuchen, redete davon, er wolle wegen der verfallenen Anbauten des Stadthauses hinter und der beiden Räume über dem Laden in Verhandlungen treten und dass der Mietvertrag erneuert werden müsse. Sie hatten recht, sich zu wundern. So wollte Mümtaz sich heute Nachmittag wie jeden Monat an jenen Ort begeben, widerwillig zwar, weil er den Mieter nicht mochte und weil er schließlich schon vorher wusste, welche Antwort der parat haben würde. Aber diesmal lag die Sache anders. Als ihn seine Tante am Abend mit den Worten erinnert hatte: »Mümtaz, geh und red mit dem Mann«, hatte Ihsan dieses Mal nicht hinter dem Rücken seiner Mutter Zeichen gemacht, die bedeuten sollten: »Bemüh dich nicht für nichts; du weißt, was er dir erzählen wird, mach eine Runde und komm wieder.« Ihsan lag ans Bett gefesselt, mühevoll hob und senkte sich seine Brust. Ihsans Verhältnis zu diesem Mieter beruhte auf der Einsicht, dass es nicht vernünftig sei, etwas allgemein Bekanntes ohne dringende Notwendigkeit praktisch zu überprüfen. Mümtaz dagegen wollte seine Tante nicht kränken, die auf diese Miete einfach nicht verzichten mochte, weil sie Teil ihres väterlichen Erbes war. Außerdem war die Mietgeschichte Anlass für zahlreiche Anekdoten im Leben dieser innig miteinander lebenden Menschen, die hier an einem Ort wohnten, den Mümtaz die »Ihsan-Bey-Insel« nannte. Wenn er nach Hause kam und der alten Dame die Antwort weitergab, die er erhalten hatte, dann amüsierte sich ein jeder: Wie sich der anfängliche Zorn seiner Tante – »Soll ihm doch der Kopf von den Schultern fallen … dieser altersschwache Dummkopf« – langsam in Mitleid verwandelte – »Der Arme kann ja auch nichts machen, und krank ist er außerdem« – und endlich in Bedauern: »Vielleicht macht er ja wirklich kein Geschäft!« Dann wurde versucht, doch eine Lösung zu finden, und sie sagte Sätze wie: »Von dem riesigen Stadthaus ist nur noch der Laden übrig, sonst hätte ich den doch längst verkauft, eine Erlösung wäre das«, die zeigten, was für eine Quelle von Betrübnis diese einfach nie pünktlich eingenommene Miete in ihrem Leben darstellte. Irgendwann beschloss seine Tante, den fälligen Besuch zu machen; und man schickte Nachricht an die ehemalige Dienerin Arife Hanim in Üsküdar, weil die Tochter des seligen Selim Pasa doch nicht ohne Begleitung auf die Straße gehen konnte. Arife Hanim kam am festgesetzten Tag, danach wurde drei oder vier Tage lang beschlossen: »Morgen gehen wir aber und sprechen mit diesem Kerl …«, ja es kam zu Aufbrüchen, die bei Nachbarn oder im Gedeckten Basar endeten, und schließlich kehrte eines Tages das von der Tante bestiegene Automobil vollgepackt mit vielen Dingen nach Hause zurück. Allerdings war ihr Besuch bei dem Mieter nie vergeblich; wenigstens einen Teil ihres Geldes erhielt sie immer. Mümtaz und Ihsan waren jedes Mal über diesen Erfolg erstaunt. Dabei war eigentlich gar nichts Erstaunliches daran. Ihsans Mutter...


Ahmet Hamdi Tanpinar, geboren 1901 in Istanbul, war einer der angesehensten Literaturwissenschaftler der Türkei; ein sensibler Autor, der die kulturellen Werte der osmanischen Tradition nicht aufgeben wollte. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft arbeitete er zunächst als Gymnasiallehrer. Von 1939 bis zu seinem Tod 1962 war er Professor für türkische Sprache und Literatur in Istanbul. Seine Romane, insbesondere Seelenfrieden, haben in der Türkei Kultstatus gewonnen.


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