Tartt | Der kleine Freund | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 784 Seiten

Tartt Der kleine Freund

Roman

E-Book, Deutsch, 784 Seiten

ISBN: 978-3-641-22596-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Alexandria, eine kleine Stadt in den Südstaaten: Hier wächst Harriet Cleve in einem Zuhause voller Geborgenheit auf, und dennoch lastet ein dunkler Schatten auf ihrer Kindheit. Zwölf Jahre sind seit jenem Moment vergangen, in dem für die Familie Cleve die Welt jäh zum Stillstand kam: Eine Nachbarin fand Harriets neunjährigen Bruder Robin erhängt an einem Baum. Die Umstände seines rätselhaften Todes blieben in all der Zeit ungeklärt, und so fasst in diesem heißen Sommer die eigensinnige Harriet den Entschluss, Robins Mörder um jeden Preis ausfindig zu machen ...

Donna Tartt ist eine amerikanische Autorin, die für ihre in vierzig Sprachen übersetzten Romane stets von Kritik und Publikum gefeiert wurde. Ihr erster Roman, »Die geheime Geschichte«, wurde 1992 veröffentlicht. Im Jahr 2003 erhielt sie den WH Smith Literary Award für ihren Roman »Der kleine Freund«, der auch für den Orange Prize for Fiction nominiert war. Für ihren zuletzt geschriebenen Roman, »Der Distelfink«, wurde sie mit dem Pulitzer-Preis und der Andrew Carnegie Medal for Fiction ausgezeichnet.
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Für den Rest ihres Lebens würde Charlotte Cleve sich die Schuld am Tod ihres Sohnes geben, weil sie entschieden hatte, das Muttertagsessen abends um sechs stattfinden zu lassen und nicht mittags nach der Kirche, wie es bei den Cleves sonst üblich war. Die älteren Cleves hatten ihren Unmut über diese Planung zum Ausdruck gebracht, und wenn dies auch hauptsächlich auf ihren prinzipiellen Argwohn gegen jegliche Art von Neuerung zurückzuführen war, ahnte Charlotte, dass sie auf das unterschwellige Murren hätte hören sollen – als eine zarte, aber ominöse Warnung vor dem, was geschehen würde, eine Warnung, die einem zwar selbst rückblickend noch reichlich undeutlich erscheint, die aber vielleicht so gut war wie jede andere, auf die wir in diesem Leben hoffen dürfen. Sosehr die Cleves das Erzählen liebten und sich gegenseitig sogar die geringfügigeren Ereignisse ihrer Familiengeschichte wiederholt schilderten – Wort für Wort, mit ausgefeilten stilistischen und rhetorisch wirksamen Pausen, ganze Sterbeszenen oder auch hundert Jahre zuvor gemachte Heiratsanträge –, die Ereignisse dieses schrecklichen Muttertags wurden doch niemals erörtert. Niemals, nicht einmal in unbeobachteten Zweiergruppen, zusammengeführt durch eine lange Autofahrt oder durch geteilte Schlaflosigkeit in nächtlichen Küchen, und das war ungewöhnlich, denn mit Hilfe dieser familiären Erörterungen machten die Cleves sich einen Reim auf die Welt. Noch die grausamsten und willkürlichsten Katastrophen – der Feuertod, der einen von Charlottes Cousins im Säuglingsalter ereilt hatte, oder der Jagdunfall, bei dem Charlottes Onkel zu Tode gekommen war, als sie noch zur höheren Schule ging – wurden ständig bei ihnen durchgespielt, und die sanfte Stimme ihrer Großmutter und die strenge ihrer Mutter verschmolzen harmonisch mit dem Bariton ihres Großvaters und dem Geschnatter der Tanten. Bestimmte Ausschmückungen, improvisiert von wagemutigen Solisten, wurden eifrig aufgenommen und vom Chor ausgearbeitet, bis sie schließlich mit vereinten Kräften bei einem einzigen Lied angelangt waren, einem Lied, das dann auswendig gelernt und von der ganzen Gesellschaft wieder und wieder gesungen wurde, und nach und nach höhlte es die Erinnerung aus und nahm den Platz der Wahrheit ein: Der zornige Feuerwehrmann, gescheitert in seinen Bemühungen, den winzigen Leichnam wiederzubeleben, vollzog die süße Wandlung zum weinenden Feuerwehrmann. Der trübselige Hühnerhund, den der Tod seines Herrn für mehrere Wochen in Verwirrung stürzte, gestaltete sich zur kummervollen Queenie der Familienlegende, die ihren Geliebten unermüdlich im ganzen Hause suchte und nachts untröstlich in ihrem Zwinger heulte und die in freudiger Begrüßung bellte, wenn der liebe Geist durch den Garten herankam, ein Geist, den nur sie selbst wahrnehmen konnte. »Hunde können Dinge sehen, die wir nicht sehen können«, intonierte Charlottes Tante Tat stets aufs Stichwort an der entsprechenden Stelle der Geschichte; sie hatte eine mystische Ader, und der Geist war eine von ihr eingeführte Neuerung. Aber Robin: ihr lieber kleiner Robs. Mehr als zehn Jahre später war sein Tod noch immer eine Qual; da gab es kein Detail zu beschönigen, und keiner der narrativen Kunstgriffe, die den Cleves zu Gebote standen, konnte das Grauenvolle daran beheben oder umwandeln. Und da diese eigenwillige Amnesie verhindert hatte, dass Robins Tod in jene gute alte Familiensprache übersetzt wurde, die selbst die bittersten Geheimnisse zu behaglicher, begreiflicher Form glättete, war die Erinnerung an die Ereignisse jenes Tages von chaotischer, fragmentierter Beschaffenheit – gleißende Spiegelscherben eines Albtraums, die aufblitzten beim Duft der Glyzine, beim Knarren einer Wäscheleine oder wenn das Licht eines Frühlingstags einen bestimmten Gewitterton annahm. Manchmal erschienen diese eindringlich aufstrahlenden Erinnerungen wie die Bruchstücke eines bösen Traums – als wäre das alles nie geschehen. Und doch schien es in vielfacher Hinsicht das einzig Wirkliche zu sein, das in Charlottes Leben je geschehen war. Die einzige Erzählweise, die sie diesem Gewirr von Bildern überstülpen konnte, war die Überlieferung des Rituals, das seit ihren Kindertagen unverändert war: der fest gefügte Rahmen des Familientreffens. Aber selbst das war wenig hilfreich: Gebräuche waren in jenem Jahr missachtet, Hausregeln ignoriert worden. Rückblickend verschmolz alles zu einem Wegweiser, der in Richtung Katastrophe deutete. Das Essen hatte nicht wie sonst im Hause ihres Großvaters stattgefunden, sondern bei ihr. Die Ansteckbouquets waren aus Cymbidiumorchideen gewesen, nicht aus den üblichen Rosenknospen. Hühnerkroketten – die alle gern aßen, die Ida Rhew immer gelangen, die man bei den Cleves zu Geburtstagen und an Heiligabend reichte – hatte es jedoch noch nie am Muttertag gegeben; da hatte es, soweit sich irgendjemand erinnern konnte, überhaupt nie etwas anderes gegeben als Zuckererbsen, Maispudding und Schinken. Ein stürmischer, leuchtender Frühlingsabend, tief hängende, verwischte Wolken und goldenes Licht, der Rasen übersät von Löwenzahn und Wiesenblumen. Die Luft roch frisch und straff nach Regen. Lachen und Geplauder im Haus, und einen Augenblick lang erhob sich die quengelnde Stimme von Charlottes alter Tante Libby hoch und klagend über die andern: »Aber ich habe so etwas noch nie getan, Adelaide, noch nie im Leben habe ich so etwas getan!« Der ganzen Familie Cleve machte es Spaß, Tante Libby aufzuziehen. Sie war eine Jungfer und hatte Angst vor allem, vor Hunden und Gewittern und Früchtebrot mit Rum, vor Bienen, Negern und der Polizei. Ein kräftiger Wind zerrte an der Wäscheleine und wehte auf dem Brachgrundstück auf der anderen Straßenseite das hohe Unkraut flach. Die Fliegentür flog zu. Robin kam herausgerannt, quiekend vor Lachen über einen Witz, den seine Großmutter ihm erzählt hatte (Warum ist der Brief feucht? Weil die Frankiermaschine leckt.), und sprang immer zwei Stufen auf einmal herunter. Es hätte zumindest jemand draußen sein müssen, der auf das Baby aufpasste. Harriet war damals noch nicht einmal ein Jahr alt, ein schweres, ernstes Baby mit schwarzem Schopf, das niemals weinte. Sie war draußen auf dem Weg vor dem Haus, festgeschnallt in ihrer tragbaren Schaukel, die vor- und zurückwippte, wenn man sie aufzog. Ihre Schwester Allison, vier Jahre alt, spielte auf den Stufen still mit Weenie, Robins Katze. Anders als Robin, der in diesem Alter unaufhörlich und ausgelassen mit seinem rauen Stimmchen geschwatzt und sich vor lauter Vergnügen über seine eigenen Witze auf dem Boden gekugelt hatte, war Allison scheu und ängstlich und weinte, wenn jemand ihr das ABC beibringen wollte; und die Großmutter der Kinder (die auf dieses Verhalten mit Ungeduld reagierte) kümmerte sich kaum um sie. Tante Tat war schon früh draußen gewesen und hatte mit dem Baby gespielt. Charlotte selbst, die zwischen Küche und Esszimmer hin- und herrannte, hatte ein-, zweimal den Kopf hinausgestreckt – aber sie hatte nicht genau Acht gegeben, weil Ida Rhew, die Haushälterin (die beschlossen hatte, ihre montägliche Wäsche schon jetzt in Angriff zu nehmen), immer wieder im Garten erschien, um Kleider auf die Leine zu hängen. Charlotte war deshalb zu Unrecht beruhigt gewesen, denn an ihrem normalen Waschtag – montags – war Ida immer in Hörweite, ob im Garten oder bei der Waschmaschine auf der hinteren Veranda, und so konnte man selbst die Kleinsten gefahrlos draußen allein lassen. Aber Ida war an diesem Tag gehetzt, verhängnisvoll gehetzt, denn sie hatte die Gäste zu versorgen und nicht nur das Baby, sondern auch den Herd im Auge zu behalten. So war sie miserabler Laune, weil sie normalerweise sonntags um eins nach Hause kam, und jetzt musste nicht nur ihr Mann, Charley T., selbst für sein Essen sorgen, sondern sie, Ida Rhew, versäumte auch noch die Kirche. Sie hatte darauf bestanden, das Radio in die Küche zu stellen, damit sie wenigstens die Gospelshow aus Clarksdale hören konnte. Mürrisch wurschtelte sie in ihrem schwarzen Dienstbotenkleid mit der weißen Schürze in der Küche herum, die Lautstärke ihrer Evangeliumssendung bockig laut gestellt, und goss Eistee in hohe Gläser, während die sauberen Hemden draußen auf der Wäscheleine sich drehten und um sich schlugen und in ihrer Verzweiflung vor dem kommenden Regen die Arme hochrissen. Robins Großmutter war auch irgendwann auf der Veranda gewesen; so viel stand fest, denn sie hatte ein Foto gemacht. Es gab nicht viele Männer in der Familie Cleve, und handfeste, maskuline Tätigkeiten – Bäume beschneiden, Reparaturen im Haushalt vornehmen, die Älteren zum Einkaufen und in die Kirche fahren – waren größtenteils ihr zugefallen. Sie erledigte das alles fröhlich und mit einem forschen Selbstbewusstsein, zum Erstaunen ihrer schüchternen Schwestern. Von ihnen konnte keine auch nur Auto fahren, und die arme Tante Libby hatte solche Angst vor Geräten und mechanischen Apparaten jeglicher Art, dass sie schon bei der Aussicht darauf, eine Gasheizung anzuzünden oder eine Glühbirne zu wechseln, in Tränen ausbrach. Sie waren zwar fasziniert von der Kamera, aber auch auf der Hut vor ihr, und sie bewunderten den unbekümmerten Wagemut ihrer Schwester im Umgang mit diesem männlichen Instrument, das Laden und Zielen und Abdrücken erforderte wie eine Pistole. »Seht euch Edith an«, sagten sie dann, wenn sie sahen, wie sie den Film zurückspulte oder mit fachmännischer Geschwindigkeit die Schärfe einstellte. »Es gibt nichts, was Edith nicht kann.« Es war eine Familienweisheit, dass Edith bei aller Brillanz auf vielfältigen Fachgebieten keine besonders glückliche Hand mit Kindern hatte. Sie war stolz und ungeduldig, und ihre Art ließ wenig Platz für Herzlichkeit....


Tartt, Donna
Donna Tartt ist eine amerikanische Autorin, die für ihre in vierzig Sprachen übersetzten Romane stets von Kritik und Publikum gefeiert wurde. Ihr erster Roman, »Die geheime Geschichte«, wurde 1992 veröffentlicht. Im Jahr 2003 erhielt sie den WH Smith Literary Award für ihren Roman »Der kleine Freund«, der auch für den Orange Prize for Fiction nominiert war. Für ihren zuletzt geschriebenen Roman, »Der Distelfink«, wurde sie mit dem Pulitzer-Preis und der Andrew Carnegie Medal for Fiction ausgezeichnet.


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