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E-Book, Deutsch, 463 Seiten

Thiele Der konstituierte Staat

Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

E-Book, Deutsch, 463 Seiten

ISBN: 978-3-593-44789-6
Verlag: Campus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Heute erscheint uns die Existenz von Verfassungen selbstverständlich, beinahe jeder moderne Staat hat eine geschriebene Verfassung. Doch der Weg zum demokratischen Verfassungsstaat war steinig und von Rückschlägen begleitet. Ausgehend von der Amerikanischen Revolution und der Französischen Revolution, erzählt Alexander Thiele diese wechselvolle Entwicklungsgeschichte und erklärt, was den Verfassungsstaat ausmacht und auf welchen Annahmen er beruht. Dabei zeigt sich: Die Kämpfe um Emanzipation und Partizipation waren europaweit epochenprägend, die Vorstellung eines deutschen Sonderweges lässt sich nicht halten. Denn auch in den USA, Frankreich und Großbritannien war der Weg zur vollwertigen Demokratie lang. Und Deutschland kann - man denke an die Verfassungen des Vormärz oder das moderne Wahlrecht im Kaiserreich - auf durchaus reiche demokratische Traditionen zurückblicken. Das Projekt des demokratischen Verfassungsstaats ist nie abgeschlossen - man versteht ihn nur dann, wenn man seine Geschichte kennt.

»Verfassungsgeschichte so komplex wie nötig und so klar wie möglich: Das zeichnet diesen Überblick von Alexander Thiele aus. Der Autor bietet eine klassische Geschichte der Moderne – voller origineller und kluger Ideen.« Hedwig Richter
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1. Die Zäsur der Neuzeit
Während der Begriff »Geschichte« wenige Fragen aufwerfen dürfte – es geht um die Beschreibung und Einordnung historischer Vorgänge, die zugleich zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beitragen können (ja, wir sollten aus der Geschichte lernen1, auch wenn es sich dabei nicht um eine Wissenschaft, »sondern eine Kunst handelt«2) –, bedürfen zwei Elemente des Untertitels einer Erläuterung: Neuzeit und Verfassung. Erstens also: Warum Neuzeit? Weshalb erscheint es sinnvoll, eine Verfassungsgeschichte dieser Epoche zu erzählen? Historisch zu arbeiten heißt zwar immer auch zu periodisieren, einzuteilen, eben zu ordnen.3 Dass die Erzählung einer Verfassungsgeschichte in der Vergangenheit ansetzen muss, ist selbstverständlich. Damit ist aber nicht beantwortet, wieso die Neuzeit als (willkürlicher) Ausgangspunkt gewählt wurde. Eine kurze Begründung wird man dafür verlangen können (auch wenn sie nicht jeden überzeugen dürfte).4 Sie liegt nach der hier vertretenen Ansicht in dem in dieser Zeit (prozesshaft) entstehenden modernen Staat.5 Und zweitens: Was ist eine (moderne) Verfassung? Der Blick zurück erfolgt nicht umfassend, sondern aus der Perspektive der modernen Verfassung bzw. des Verfassungsrechts. Es bedarf einer Klärung, was darunter zu verstehen ist, schon um zu wissen, was im Rückblick betrachtet werden soll. Wir dürften heute eine Vorstellung von einer modernen Verfassung haben – wer den Begriff hört, wird an das Grundgesetz denken, vielen wird die amerikanische Verfassung in den Sinn kommen. Gleichwohl: Verfassungen existieren nicht einfach, sondern sind das Werk geistiger Schöpfung. Damit steht nicht abschließend fest, was unter einer Verfassung zu verstehen ist: »Die Vieldeutigkeit des Begriffs ›Verfassung‹ ist berüchtigt.«6 Zu Beginn einer Verfassungsgeschichte wird man deshalb erwarten können, dass der zugrunde gelegte Verfassungsbegriff entfaltet wird – dass die entscheidenden Wegmarken einer Verfassungsgeschichte von diesem Verfassungsbegriff abhängen, versteht sich von selbst: »Verfassungsgeschichte begreift sich als Geschichte der Verfassungen und hängt damit eng am vorausgesetzten Verfassungsbegriff.«7 Was ist es, das den (modernen) Staat mit einer (modernen) Verfassung, also den titelgebenden »konstituierten Staat«, von einem lediglich in einer Verfassung befindlichen Staat und anderen Herrschaftsordnungen unterscheidet? Wo liegt das neue, das Singuläre, das mit der modernen Verfassung in die Ordnung der (staatlichen) Herrschaft einzieht? Mit diesen Begriffsklärungen sind die Themen der ersten beiden Kapitel abgesteckt. Der Fokus auf die moderne Verfassung, den modernen Staat und die Neuzeit wird von einigen Stimmen kritisiert. So plädieren Christian Waldhoff ebenso wie Oliver Lepsius dafür, nicht (moderne) Verfassungen, sondern Herrschaftsmodelle als zentralen Erkenntnisgegenstand zu etablieren und die Verfassungsgeschichte vom problematischen Begriff der Verfassung und des modernen Staates zu lösen:8 »Die synchrone und diachrone Analyse von Herrschaftsmodellen erweist sich so als die zeitlose Formulierung von Verfassungsgeschichte unter weitreichender Hintanstellung zeitgebundener Begrifflichkeiten wie Staat und Verfassung.«9 Am Begriff der Verfassungsgeschichte will Waldhoff freilich festhalten. Diese Kritik weist treffend darauf hin, dass der Begriff der Verfassung ebenso wie der des modernen Staates von (problematischen) subjektiven Prämissen und Begriffsprägungen abhängt,10 sich also nicht als »objektiv« und zeitungebunden erweist. Auch die Prozesshaftigkeit der Verfassungs- und Herrschaftsentwicklung wird bei einer Beleuchtung von Herrschaftsstrukturen besser erfasst, denn natürlich hat auch die Verfassungsgeschichte der Neuzeit eine Vorgeschichte. Dennoch lässt sich der hier gewählte Weg aus wenigstens drei Gründen rechtfertigen: Erstens gilt die subjektive Färbung nicht weniger für den Begriff der Herrschaft. Die vermeintliche Zeitlosigkeit erweist sich als Illusion, denn auch einer »Herrschaftsgeschichte« liegt ein subjektives und zeitgebundenes Begriffsverständnis zugrunde. Sie unterscheidet sich damit nicht grundsätzlich, sondern nur graduell von der hier verfolgten Vorgehensweise: Jede Geschichte ist die Geschichte ihrer Zeit. Wenn sogar weiterhin von Verfassungsgeschichte gesprochen werden soll, liegt der Unterschied allein in einem extensiven Verfassungsbegriff, der sich auf jede Form politischer Herrschaft bezieht. Deutlich wird das auch bei Hans Boldt, wenn er festhält, die Verfassungsgeschichte beschäftige sich »mit der Frage nach den Institutionen politischer Steuerung der Gesellschaft, deren Herkunft und Wirkungsweisen«.11 Ein solcher Verfassungsbegriff geht kaum noch mit dem einher, was wir heute darunter verstehen, und erweist sich zudem als praktisch grenzenlos. Wie die neuere politische Anthropologie gezeigt hat, dürfte es herrschaftslose (und damit nach diesem Begriffsverständnis verfassungslose) Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit nicht gegeben haben: »Kurz gesagt: es gibt keine Gesellschaft ohne politische Macht und keine Macht ohne Hierarchie und Beziehungen der Ungleichheit zwischen Individuen und den sozialen Gruppen.«12 Verfassungsgeschichte als Herrschaftsgeschichte wird zur (politischen) Menschheitsgeschichte. Wo soll eine solche Verfassungsgeschichte zeitlich ansetzen? Und warum? Jeder gewählte Zeitpunkt hängt an einer bestimmten Vorstellung von Herrschaft und Politik und erweist sich als nicht weniger willkürlich als in dieser Einführung – das Problem wird verschoben, aber nicht gelöst. Das gilt umso mehr, als man zweitens eine gewisse Zäsur der Herrschaftsgeschichte durch das Auftreten der modernen Verfassung nicht wird abstreiten können: »Als Normtexte sind Verfassungen ein Signum der Moderne, ungeachtet der vor der Schwellenzeit vom Ende des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts bereits bekannten Verfassungen und Fundamentalgesetze.«13 Diese Zäsurgeschichte zu erzählen und zur Diskussion zu stellen, erscheint vor diesem Hintergrund gerechtfertigt, solange man diese nicht überzeichnet und die Vorgeschichten nicht ignoriert. Indem der Blick auf diese Zäsur gelegt wird, wird schließlich drittens herausgestellt, dass politische Systeme keine natürlichen Entwicklungen widerspiegeln. Verfassungsordnungen sind vielmehr wie alle politischen Ordnungen von der Gemeinschaft gesetzt und haben damit einen konkreten Anfang, der sie von vorherigen Ordnungen objektiv absetzt und subjektiv meist absetzen soll. Insofern wird man das Vorhaben einer umfassenden Herrschaftsgeschichte, in der Herrschaft aus Vergemeinschaftung allmählich entsteht, mit Christoph Möllers durchaus kritisch sehen können: »Zur Denaturalisierung des Sozialen im Umgang mit der Zeit gehört es, politischen Gemeinschaften einen Anfang zu geben.«14 Und das gilt nicht weniger für eine (moderne) Verfassungsgeschichte, die damit zugleich ihre nicht existierende (natürliche) Alternativlosigkeit offen eingesteht. Die Entdeckung des Verstandes und der Weltlichkeit der Herrschaft15
Zunächst also zur Neuzeit:16 Warum erscheint sie als Ausgangspunkt einer Verfassungsgeschichte sinnvoll? Oder anders: Wo lagen die Unterschiede zum Mittelalter, das nach historisch hier nicht zu hinterfragender Einteilung in einem längeren Prozess durch die Neuzeit abgelöst wurde?17 Die rund eintausend Jahre des Mittelalters, die sich von etwa 450 n. Chr. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts erstrecken und die Spätantike ablösten, waren geprägt durch die Herrschaft des Glaubens. Der Mensch war durchdrungen vom Außerweltlichen, sah in allem das Göttliche und lebte nicht, um zu erkennen, sondern um zu glauben. Er ergab sich in diesem geistigen Zustand zugleich mehr oder weniger kampflos seinem letztlich gottgewollten Schicksal.18 Auch wenn diese Aussage gewiss zu pauschal ist – im täglichen (Über-)Leben dürften die Religion oder der Glaube keine so fundamentale Rolle gespielt haben –, scheint eine weitergehende Differenzierung an dieser Stelle nicht erforderlich. Denn entscheidend ist: Niemand hätte in der damaligen Zeit ernsthaft daran gezweifelt, dass die Welt mit all ihren Unterteilungen und nicht zu erklärenden Phänomenen, mit ihren komplexen Zuständen und Erscheinungen und auch mit der hierarchischen Ordnung der Herrschaft, wie in der Schöpfungsgeschichte beschrieben, ein Werk des allwissenden und unfehlbaren Gottes war. Jedem war in diesem...


Thiele, Alexander
Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der universitären »Fakultät Rechtswissenschaften« der BSP Business and Law School in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demokratietheorie, der allgemeinen Staatslehre und der Finanzierung des Staates.

Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht, an der BSP Business and Law School – Hochschule für Management und Recht in Berlin.


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