Varoufakis | Ein Anderes Jetzt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Varoufakis Ein Anderes Jetzt

Nachrichten aus einer alternativen Gegenwart

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-95614-475-2
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ist ein liberaler Sozialismus machbar? Gibt es Wohlstand und Wachstum ohne den Ruin der Erde? Sind wir in der Lage, eine gute Gesellschaft trotz unserer Fehler zu schaffen?
Stellen Sie sich vor, es ist 2025.
Als Folge der Finanzkrise von 2008 ist eine globale politische Bewegung entstanden, durch die die Gesellschaft, wie wir sie kennen, verändert wurde: Geld, Land, digitale Netzwerke und Politik sind wahrhaft und von Grund auf demokratisiert worden.
In einem originellen Gedankenexperiment bietet der weltbekannte Ökonom Yanis Varoufakis Einblicke in diese alternative Realität. Durch die Augen von drei Protagonisten – einer libertären Ex-Bankerin, einer marxistischen Feministin und einem technisch hochbegabten Eigenbrötler – sehen wir die Genese einer Welt ohne kommerzielle Banken oder Börsen, in der die Unternehmen denen gehören, die dort arbeiten, in der es ein garantiertes Grundeinkommen gibt, globales Ungleichgewicht und Klimaveränderung sich gegenseitig ausgleichen und Wohnen ein Grundrecht ist.
Radikal in Form und Vision verbindet Ein Anderes Jetzt platonischen Dialog mit Fiktion und zeigt, dass es eine Alternative zum Kapitalismus geben könnte. Die Frage ist: Wie weit würden wir gehen, um das zu erreichen?
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1 Die Moderne ist besiegt
  Iris
Iris und ich lernten uns in der Dystopie des englischen Universitätsbetriebs kennen. Wir waren beide unglücklich, sie in Sussex, ich in Essex. »Sex mit einem Präfix«, sagten wir immer scherzhaft. Anfang 1982 kreuzten sich unsere Wege zum ersten Mal – an der London School of Economics, bei einer der zahllosen Versammlungen, die damals von linken Aktivisten einberufen wurden, um den Kampf gegen den Thatcherismus zu organisieren. Nachdem sich langweilige Sprecher zwei Stunden auf dem Podium abgemüht hatten, hielt Iris ihre Rede. Sie war großartig. »Während ich den Vorrednern zugehört habe«, begann sie in entschlossenem, aber launigem Ton, »dachte ich mir: Maggie Thatcher wäre mir lieber!« Die Protestrufe aus dem Publikum freuten sie offensichtlich, und sie fuhr fort: »Im Gegensatz zu euch, meine Freunde, weiß Maggie, wie es geht. Wir leben in einem revolutionären Augenblick. Der Waffenstillstand zwischen den Klassen, den es in der Nachkriegszeit gab, ist vorbei. Wenn wir die Schwachen verteidigen wollen, dürfen wir nicht defensiv sein. Wir müssen das Gleiche fordern wie Maggie: Weg mit dem alten System, her mit einem ganz neuen. Nicht ihr dystopisches System, aber dennoch ein ganz neues. Ihr flickt Leichen zusammen, während Thatcher Gräber aushebt. Wenn ich wählen müsste zwischen euch und ihr, würde ich mich jederzeit für sie entscheiden. So monströs sie auch sein mag, sie kann man wenigstens stürzen!« Damals erlebte ich zum ersten Mal Iris’ hitziges Temperament. Aber während ihre Worte auf viele von uns großen Eindruck machten, sorgten sie auch dafür, dass sie zur Außenseiterin wurde. Radikale haben es nicht gern, wenn man sie nicht ernst nimmt. Als ich ihr einmal vorhielt, sie glaube nicht an Solidarität, sondern gebe sich lieber als einsame Wölfin, erwiderte sie stolz und ohne eine Spur von Ironie: »Genau das bin ich!« Im Lauf der Jahre steigerte sich Iris’ natürliche Neigung, Menschen, die ihre Ansichten weitgehend teilten, vor den Kopf zu stoßen, im selben Maß, wie die Gesellschaft die entgegengesetzte Position einnahm. Iris’ Meinung nach bestand Thatchers größter Triumph darin, die Menschen zu der Überzeugung gebracht zu haben, dass niemand etwas tat, ohne sich einen Vorteil davon zu erhoffen. Iris ging das vollkommen gegen den Strich, sie war entsetzt und elektrisiert zugleich bei dem Gedanken, dass jeder hinter etwas her war und nach uneingeschränkter Macht gierte – auch in öffentlichen Versammlungen, bei denen es darum ging, Margaret Thatcher, die Londoner City und die raffinierteren Formen von Gier zu kritisieren. Iris war eine leidenschaftliche Feministin, konnte aber die meisten Feministinnen nicht ausstehen, weil sie in ihren Augen privilegiert waren, sich aber dennoch vor sexueller Freiheit fürchteten und außerdem die Angewohnheit hatten, für – und über – diejenigen zu sprechen, die eigentlich die Bewegung gegen das Patriarchat anführen sollten. Sie war lesbisch, hatte aber auch Sex mit Männern, aus »einem Hang zur Solidarität mit dem unvollkommenen Geschlecht und dem Drang, Lesben zu schockieren«, wie sie sagte. Sie war Marxistin und verachtete zugleich die meisten Marxisten, weil sie Marx’ emanzipatorische Theorie missbrauchten, um andere Genossen fertigzumachen, ihre eigene Machtbasis zu errichten, einflussreiche Positionen zu ergattern, leicht zu beeindruckende Studentinnen ins Bett zu kriegen und schließlich die Kontrolle über das Politbüro zu übernehmen und Kritiker in den Gulag zu schicken. Vor allem aber warf Iris ihr radikales Denken selbst immer wieder radikal über den Haufen. Sie war energiegeladen und brillant und im nächsten Augenblick nervtötend und unerträglich. An jenem Abend an der London School of Economics kamen wir ins Gespräch, vielleicht weil ich als Einziger aus dem Publikum nach ihren Ausführungen geklatscht hatte. Ein paar Monate später, an einem trüben Abend im Dezember 1982, rief sie an und erzählte, sie arbeite mit bei der Planung einer großen Protestkundgebung von Frauen vor einem Stützpunkt der Royal Air Force gegen die Stationierung amerikanischer Marschflugkörper, die auf Osteuropa zielen würden. Ob ich kommen und ihr helfen könne? Spät am nächsten Tag traf ich in Greenham Common ein. Im strömenden Regen versuchten dreißigtausend Frauen, angesichts eines entschlossenen Polizeiaufgebots eine Menschenkette rund um den Flugplatz zu bilden. Als ich gerade dachte, es sei unmöglich, Iris in dem Durcheinander zu finden, erspähte ich sie auf dem kalten, schlammigen Boden. Zwei Frauen knieten neben ihr und drückten ein Taschentuch auf einen blutenden Schnitt auf ihrer Stirn. »Von einem übereifrigen Verteidiger der Anlage«, erklärte sie mir mit einem stolzen Grinsen. Iris wirkte jünger, als es ihrem Alter von achtundzwanzig Jahren entsprach. Sie lehrte damals seit drei Jahren Sozialanthropologie, davor hatte sie Feldstudien in Afrika betrieben und dabei Wörterbücher und eine Grammatik der Sprachen erstellt, die von zwei Stämmen in Kamerun gesprochen wurden. Ich war mehrere Jahre jünger als sie und kämpfte mit meiner Doktorarbeit über mathematische Modelle, die Iris mit einer gewissen Berechtigung als »Fingerübungen in logisch-positivistischer Masturbation« abtat. In den folgenden fünf Jahren nahmen wir neben unseren universitären Pflichten an vielen aussichtslosen Kämpfen teil – an den Bergarbeiterstreiks 1984/85 und, besonders deprimierend, an dem gescheiterten Streik der Drucker gegen das Medienimperium von Rupert Murdoch 1986/87. Die insgesamt hundertfünf Wochen, in denen wir Leute zusammentrommelten, Streikposten aufstellten, Geld sammelten und auf der falschen Seite der Geschichte standen, mussten uns entweder auseinandertreiben oder zu unzertrennlichen Freunden werden lassen. Ich erinnere mich, dass ich sie 1987 einmal im Krankenhaus besuchte, nachdem berittene Polizisten vor dem strahlenden neuen Druckhaus von Murdoch in Wapping buchstäblich über sie hinweggetrampelt waren. Ich fragte sie, ob sie aus Angst vor Verletzungen jemals ans Aufgeben gedacht habe. Iris erwiderte, wenn man sich einem berechtigten Kampf anschließe, lerne man, so zu leben, als werde man demnächst aufgeben, ohne es je zu tun. Nein, sie bedauerte lediglich, dass wir zwar großartig für Gruppen kämpften, die jede Unterstützung verdienten, aber für Anliegen, die offensichtlich »anachronistisch« waren. »Warum können wir dieses Land nicht dazu bringen, saubere Energie und eine freie Presse zu fordern, statt dreckige Kohlekraftwerke und die männlichen Gewerkschaftsbosse bei einer rechten Zeitung zu verteidigen?« Eine Niederlage konnte Iris niemals das Vergnügen verderben, gegen Widerstände in den Kampf zu ziehen. Keine Schlappe konnte ihren Enthusiasmus dämpfen – »Der Kampf für eine gute Sache ist niemals vergebens«, sagte sie immer –, nur die Angst, dass wir Löwen waren, die von Eseln aufs Schlachtfeld geschickt wurden. Sie unterschied zwei Typen selbst ernannter progressiver Anführer: einmal diejenigen, die Privilegien verteidigten, die sie der sterbenden Nachkriegsordnung verdankten, und dann die anderen, die radikaleren, die darauf aus waren, die bestehende Ordnung durch ein anderes, aber genauso unterdrückerisches Patriarchat zu ersetzen. Erst als ich sie am selben Abend vom Krankenhaus zurück nach Brighton fuhr, begriff ich, was für eine Obsession dieser Gedanke für sie war. »Okay, sagen wir, wir sind die Avantgarde. Aber die Avantgarde wofür, verdammt noch mal?« Nachdem sie zuvor lange geschwiegen hatte, zuckte ich bei Iris’ Ausbruch zusammen. »Denk an meine Worte. Sobald unsere Genossen Macht wittern, werden sie alle Grundsätze opfern, die sie jemals gehabt haben. Und all jene von uns, die weiterhin anderer Meinung sind, werden sie dämonisieren oder zumindest lächerlich machen.« Als ich vor ihrem Haus anhielt, wirkte sie missmutig und niedergeschlagen. So hatte ich sie noch nie gesehen. »Ich mache da nicht mit. Ich kann es nicht«, erklärte sie. Und dann stieg sie aus dem Auto. Ein paar Monate später, im Frühsommer 1987, siegte Margaret Thatcher zum dritten Mal in Folge bei den Parlamentswahlen. Am nächsten Tag gab Iris ihre Dozentenstelle auf. Sie kam auch nicht mehr zu politischen Versammlungen. Weder die Universität noch die Streikposten interessierten sie noch genug, um weiterzumachen. Als junges Mädchen hatte sie ein bescheidenes Erbe von einem freundlichen alten Mann erhalten, einem Angehörigen des Oberhauses mit einem erblichen Titel, der die vornehme Gesellschaft gern schockierte, indem er sich als die Queen der queeren Menschen bezeichnete. Dank dieses Geldes konnte sie sich den Luxus erlauben, ihre Stelle zu kündigen. »Aus irgendeinem Grund betrachtete er mich als eine Muse, für die er sorgen musste, Gott segne ihn.« Merkwürdigerweise leuchtete mir ihre Erklärung vollkommen ein, und ich forschte nicht weiter nach. Als Antwort auf meine Frage nach den Gründen für ihren doppelten Ausstieg holte sie zwei Papiere hervor. Eines war ein...


Yanis Varoufakis, geb. 1961, wurde 2015 Europas bekanntester Finanzminister, als er sich weigerte, für das bankrotte Griechenland neue Schulden aufzunehmen. Seit seinem Rücktritt wurde er zur Galionsfigur der Bewegung Democracy in Europe Movement 25 (DiEM25) für eine Reform der Eurozone. Der international renommierte Wirtschaftswissenschaftler lehrte an Universitäten in England, Australien und den USA und an der Universität in Athen. Zuletzt erschien Die ganze Geschichte – Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment (2017).

Yanis Varoufakis, geb. 1961, wurde 2015 Europas bekanntester Finanzminister, als er sich weigerte, für das bankrotte Griechenland neue Schulden aufzunehmen. Seit seinem Rücktritt wurde er zur Galionsfigur der Bewegung Democracy in Europe Movement 25 (DiEM25) für eine Reform der Eurozone. Der international renommierte Wirtschaftswissenschaftler lehrte an Universitäten in England, Australien und den USA und an der Universität in Athen. Zuletzt erschien Die ganze Geschichte – Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment (2017).


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