Venske | Mein Langeoog | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Venske Mein Langeoog

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-86648-394-1
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



"Sie sind ein Inseltyp…", so bescheinigte man es einst Regula Venske, denn ihre Reiseziele heißen gern Kreta, Paros, Gozo oder Teneriffa, und nichts läge ihr ferner, als eine mückenumschwärmte Hütte an einem schwedischen See zu beziehen. Doch obwohl sie die unterschiedlichsten Strände auf der ganzen Welt erkundet hat, fühlt sie sich nur an den Küsten des rauen Atlantiks daheim: ausgelöst durch Langeoog, die Insel ihrer Kindheit. In "Mein Langeoog" berichtet Venske nicht nur von Sommerfrische, Reizklima, Dünensingen und Badezeiten – vielmehr lässt sie die Insel zum Ausgangspunkt werden für Geschichten und (deutsche) Geschichte, für Sehnsüchte und Utopien, für Erinnerungen an ihre Familie, an Begegnungen mit Menschen (und Möwen und Quallen), an Lektüren und Lebensthemen.
Venske Mein Langeoog jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


SOMMERFRISCHE
Nun wollen wir uns mal befassen
Lange-oog, Lange-he-oog, ein Wort, das niemals uns betrog …« Dieser simple Ohrwurm, im Kanon zu singen, zählt zu den ersten Liedern, die ich je lernte, beim Dünensingen am Langeooger Strand. Vom Dünensingen wird noch zu erzählen sein. Und mit diesen Zeilen, Langeoog, Langeoog …, eröffnete ich einen der ersten Texte, die ich je zu Papier brachte und als Achtjährige in mein Tagebuch schrieb, ein Büchlein im Format der damals beliebten Poesiealben, das in späteren Jahren leider einem pubertären Autodafé zum Opfer fallen sollte. Den bunt gemusterten, abwischbaren Einband, meine kindliche Handschrift habe ich auch nach all den Jahren noch deutlich vor Augen. Der Text enthielt allerlei geografische Informationen, die ich mir aus einem Lexikon und diversen Broschüren zusammengeklaubt hatte – Lage über NN, Länge des Sandstrandes, Breite der Insel, Höhe des Wasserturms, Möwenkolonie und Meierei, Ebbe und Flut, Pirolatal und Melkhörndüne, damals mit 21,3 m über NN noch die höchste Erhebung Ostfrieslands, inzwischen auf nur mehr knapp 20 m über NN geschrumpft. Ich endete mit dem Resümee, »Langeoog ist eine wunderschöne Insel und ich wäre froh, wenn ich jetzt dort sein könnte.« Eigentlich habe ich mit acht Jahren alles Wichtige gesagt. Wie ja das Kind überhaupt vieles klarer versteht und zu benennen weiß als die Erwachsene in späteren Jahren. So vieles, was die Heranwachsende vergaß, muss die erwachsene Frau erst wieder mühselig lernen. So sind mir aus der frühen Zeit einige Sätze überliefert, die mein Vater in ein Tagebuch notierte, das glücklicherweise keiner Vernichtung zum Opfer fiel. Demnach fasste ich als Vierjährige meine Erkenntnis über Autorität hellsichtig zusammen: »Vati, der liebe Gott und die Polizei, die haben zu bestimmen.« Noch Fragen? Ja, ich hatte eine. »Freust du dich eigentlich, Vati, dass du es in deinem Männergarten so gut hast?« Jahre später, als ich bei einem Empfang nach einem Kongress wichtige Männer in dunklen Anzügen, in wichtige Gespräche oder wichtige Gedanken vertieft, Häppchen kauend, rauchend oder sich an Gläsern festhaltend an ihren Stehtischen sah, dachte ich: Ach, so also geht es zu im Männergarten. Ich konnte zwar so tun, als ob. Aber ich wusste, dass ich nicht wirklich dazugehörte. Das vierjährige Mädchen, das ich einmal war, hatte schon alles begriffen. Im Sommer, als ich gerade drei Jahre alt geworden war, 1958, reiste meine Familie zum ersten Mal nach Langeoog. In den folgenden Jahren sollte es unser allsommerliches Ferienziel werden. Sommerfrische, so sagte man damals noch, und alles lief nach festem Plan und festen Regeln ab, über die man sich heute wundern mag. Aber in Anbetracht der manchmal chaotischen Reisegestaltung in meiner eigenen späteren Familie – ein Mann, der vergisst, überhaupt Urlaub zu beantragen, sodass eine hektische Mutter mit den Kindern allein vorausfahren muss; nächtliches Herumirren auf der Berliner Stadtautobahn, weil man die richtige Ausfahrt verpasste und der Mann sich weigert, anzuhalten und nach dem Weg zu fragen oder wenigstens auf die Karte zu sehen; ein gerissener Keilriemen in den Kasseler Bergen und Rutschpartien in den österreichischen Alpen mit Sommerreifen im Schnee, um die schlimmsten Vorkommnisse dezent zu verschweigen –, kurzum, in Anbetracht mancher idiotischen Unternehmung, an der ich selbst beteiligt war, hege ich durchaus auch Bewunderung für die damals herrschende Ordnung. Tage vor der Reise wurde der große Kabinenkoffer vom Dachboden geholt und die Kleidung, die mitgenommen werden sollte, durfte nicht mehr schmutzig gemacht werden. In der Erinnerung meiner älteren Schwester begann die Schonzeit für die mitzunehmende Kleidung bereits zwei Wochen vor Reisebeginn. Ein Gleiches galt in der letzten Ferienwoche, wenn meine mit den Jahren zunehmend umständlicher werdende und leicht ängstliche Mutter bereits eine Woche vor der Abreise schon wieder den Koffer packte. In späteren Jahren sollte sie wiederkehrend von einer Familie schwärmen, deren Töchter während der gesamten Langeooger Zeit tagein, tagaus denselben Trainingsanzug getragen hatten. So etwas Praktisches! Allerdings ging die Bewunderung nicht so weit, dem guten Beispiel zu folgen. Man musste schließlich für alle Eventualitäten gerüstet sein – und das bedeutete auch, die mitgebrachten Sachen tunlichst zu schonen und aufzusparen für den Fall, dass man sie vielleicht später noch bräuchte. (Dieser Lebenshaltung verdanke ich einen Stapel noch völlig unbenutzter, leicht angegrauter Geschirrtücher aus Leinen mit dem eingestickten Monogramm meiner Großmutter im Schrank. Offenbar stammen sie noch aus deren Aussteuer, und weder sie noch meine Mutter haben sich jemals daran vergriffen. Ob ich sie zu Lebzeiten einmal in Gebrauch nehmen werde?) Rechtzeitig vor Reisebeginn wurde der Koffer vom Gepäckdienst abgeholt, damit er bei Ankunft auf der Insel schon auf uns wartete. Es warteten auch die Strandutensilien: Spaten, Schippchen und Förmchen, die Gießkanne und das Holzbrett mit Griff, mit dem der letzte Schliff an die Sandburg gelegt und der Sand festgeklopft werden konnte, nicht zu vergessen die Lampions für den Laternenumzug, der den alljährlichen Höhepunkt der Sommerferien und des abendlichen Dünensingens bildete. Bald nach unserer Ankunft stiegen wir auf den Dachboden der Pension Stiekel hoch, um diese Schätze aus dem Verschlag, der mit unserem Namen beschriftet war, wieder in Besitz zu nehmen. Die Wiedersehensfreude wie auch der typische Geruch der Holzverschläge unterm Dach sind mit der Erinnerung sofort wieder präsent. Das stattliche alte Haus im Rudolf-Eucken-Weg, um 1890–1891 erbaut, gibt es noch, es heißt jetzt Böttcher Huus und beherbergt statt einer Frühstückspension nun Ferienwohnungen. Ein traditionelles Friesenhaus mit Veranda und Windfang, das Treppchen an der Eingangstür, auch die Fensterrahmen erinnern an früher. Dort, auf dem Fenstersims im Parterre, breitete der Sohn einer anderen Familie seine Strandfänge aus, Krebse und Seesterne, vielleicht auch Seepferdchen? Nach einigen Tagen zog ein übler Verwesungsgeruch hoch in die darüber liegenden Zimmer, und der Junge musste seine Schätze anderswo aufbewahren. Wo einst das Bauern- und Kräutergärtchen der Schwestern Stiekel war, ist jetzt alles zubetoniert und bebaut. Auch das Häuschen im hinteren Garten, das die beiden Fräulein Stiekel während des Sommers bewohnten, musste weiteren Ferienunterkünften weichen. Ich weiß, es waren zwei, in meiner Erinnerung aber verschmelzen sie zu einer Person, dem archetypischen, zeitlosen, wiewohl ältlichen Fräulein Stiekel. Vage Erinnerungen habe ich daran, dass ich ihnen eigenmächtige Besuche in ihrer kleinen Küche abstattete. Einmal brieten sie gerade Fisch und ich durfte mit ihnen essen und bekam auch ein Stück Kabeljau oder Rotbarschfilet, das mir sehr gut mundete, obwohl ich doch sonst so mäkelig beim Essen war. Einmal ließ ich mich, so wurde berichtet, an ihrem Küchentisch nieder, griff nach der Zeitung und sagte: »Nun wollen wir uns mal befassen.« Ebenfalls eine vage Erinnerung daran, dass die Fräulein lachten, eine deutlichere Erinnerung, dass dieser Ausspruch in meiner Familie zu einer Art geflügeltem Wort avancierte, was mich zunehmend verdross. Was war so komisch daran? Zugegeben, das Kind, das ich war, konnte noch nicht lesen. Aber befassen konnte es sich schon. War man angekommen, waren die Strandschätze vom Dachboden geholt, ging es freilich noch lange nicht an den Strand. Es gab die heilige Regel, dass man sich erst an das Reizklima gewöhnen müsste, was mindestens einen Tag Zurückhaltung auferlegte. Am Tag der Anreise, oft auch noch am Tag danach, herrschte strengstes Badeverbot, allenfalls begab man sich auf einen kleinen Rundgang Richtung Dünen, am Wasserturm vorbei – den man von Jahr zu Jahr inniger als alten Bekannten, wenn nicht gar treuen Freund begrüßte. Symbol der Stetigkeit und der Wiederkehr. Von oben aus den Dünen herab sah man schon einmal das Meer, die Erwachsenen studierten die Tafeln mit den Angaben zu Badezeiten, Luftdruck und Wassertemperatur. 16° C schienen üblich zu sein. Aber nie wäre es uns eingefallen, gleich am ersten Ferientag ins Wasser zu hüpfen. Das galt als höchst ungesund, wenn nicht gar todbringend. Auch wäre niemandem eingefallen, außerhalb der Badezeiten in der Nordsee zu baden – und dabei bin ich geblieben und wundere mich immer wieder darüber, wie viele Urlauber heutzutage bei Ebbe ins Wasser gehen, darunter anscheinend durchaus vernünftige Leute, sogar Kinderärzte und Therapeuten bei ihren alljährlich auf Langeoog stattfindenden Fortbildungswochen. Oft entfiel das Baden aber auch noch an den darauffolgenden Tagen. Das war der sogenannten Inselkrankheit geschuldet. Was mag diesen Durchfall, unter dem so mancher Pensionsgast in den ersten Tagen nach der Ankunft litt, wohl verursacht haben? War die Unpässlichkeit, neben dem ominösen Reizklima, der anderen...


Regula Venske, geboren 1955 in Minden, lebt als freie Schriftstellerin in ihrer Wahlheimat Hamburg, wo sie 1988 mit einer Arbeit über Männerbilder in der Literatur von Frauen promovierte. Ihre Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten und Essays wurden vielfach ausgezeichnet. Seit 2017 ist sie Präsidentin des deutschen PEN, dessen Generalsekretärin sie zuvor vier Jahre lang war.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.