Vocht | Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 15, 281 Seiten

Reihe: Orbis Romanicus

Vocht Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion

E-Book, Deutsch, Band 15, 281 Seiten

Reihe: Orbis Romanicus

ISBN: 978-3-8233-0251-3
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Juan Carlos Onetti (1909-1994), eine der prägendsten Autorenfiguren der lateinamerikanischen Moderne, schuf über einen Zeitraum von 60 Jahren ein selbstbezügliches literarisches Gesamtwerk, das fast gänzlich in der fiktiven Stadt Santa María verortet ist. Im Prozess der literarischen Stadtgründung, deren Verfall und Neugründung, entsteht ein machträumliches Spannungsfeld zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion.
Onettis Erzählkosmos ist von einer patriarchalen Ordnung strukturiert. Die hegemoniale Männlichkeit, die diese Ordnung stützt, definiert sich über künstlerische Schöpfungspotenz und die Unterordnung der Frau. Die Publikation zeichnet die verschiedenen Strategien nach, durch die sich Frauenfiguren in Onettis Texten dieser Unterordnung erwehren und zeigt damit, dass das patriarchale System in eine sanmarianische Dystopie der kurzen Leben mündet.
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1.2 Forschungsstand und literaturhistorische Einordnung
„El imposible Onetti“ – so betitelt Jorge Edwards einen Zeitungsartikel über Onetti und spielt damit auf die paradoxe Position an, die Onettis Werk innerhalb der Literaturgeschichte einnimmt: So ist einerseits sein Einfluss auf den modernen lateinamerikanischen Roman kaum zu überschätzen, wie zahlreiche Kritiker*innenstimmen belegen, und andererseits ist sein Werk bis heute keinem großen Publikum bekannt. Onetti gilt damit als klassischer writers‘ writer, über den Edwards weiter schreibt: Desde la perspectiva de hoy, Onetti, el imposible, el hirsuto, es una de las encarnaciones válidas de la literatura entre nosotros, en nuestra región y nuestro tiempo. Es muy difícil estar con él, pero estar contra él es imposible, por más que les pese a los representantes del mercado librero. Onetti nos lleva a terrenos sucios, moralmente contaminados, inquietantes, pero imposibles de eludir. Die Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten zu Onettis enigmatischem Werk ist trotz (oder gerade wegen?) seiner Außenseiterposition in Bezug auf den literarischen Mainstream mittlerweile beträchtlich. Dieses Kapitel konzentriert sich daher ausschließlich auf Forschungsarbeiten, die Onettis Werk unter Aspekten von Metafiktionalität, Räumlichkeit, Macht oder Gender analysieren sowie in einen kulturtheoretischen oder politischen Kontext stellen. Zwei aktuelle Beiträge, die eine gesellschaftskritische Interpretation anklingen lassen, stammen von Victor A. Ferretti und Kurt Hahn. Beide thematisieren aus einer medientheoretischen Perspektive heraus Problemfelder menschlichen Miteinanders, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben und damit auch eine spezifische Universalität und Zeitlosigkeit der Onetti‘schen Texte belegen: Ferretti untersucht xenophobe Dynamiken und ihre gesellschaftliche Wirkmächtigkeit in der Kurzgeschichte „Historia del caballero de la rosa y de la virgen encinta que vino de Lilliput“ (1956) und Hahn arbeitet anhand der Kurzgeschichte „Matías el telegrafista“ (1970) die Unmöglichkeit zwischenmenschlicher Kommunikation im Spannungsfeld moderner Kommunikationsmedien heraus. Dezidiert politische Lektüren der Onetti’schen Texte liegen bis dato nur in zwei allegorischen Deutungen der Romane El astillero (1961) und Juntacadáveres (1964) vor. Einerseits im Aufsatz des chilenischen Autors Carlos Franz und andererseits im Beitrag der argentinischen Autorin Cristina Peri Rossi. Gemäß der allegorischen Lesart (bezogen auf Juntacadáveres und El astillero) von Franz wissen die Bewohner Lateinamerikas um die Aussichtslosigkeit jeglicher Unternehmung. Fortschritt ist nur um den Preis der Selbstausbeutung zu haben und Korruption dessen essentieller Bestandteil. En la Santa María de Onetti progresar es prostituirse. […] la ‚invasión’ de la modernidad nos trae progreso, pero a la vez corrompe nuestras costumbres ancestrales, la tecnología extranjera cancela nuestros usos, el capital nos compra, la globalidad pincha nuestra burbuja. Franz liest den Einzug der Moderne und den damit einhergehenden Fortschritt in den Onetti’schen Erzählungen als Überfall (invasión) und Bruch mit der eigenen Tradition, europäische Technologien als Eingriff in altbekannte Abläufe und den Einzug des Kapitalismus als Grund für Korruption. Kurzum, er diagnostiziert den Onetti’schen Figuren eine ausgeprägte Angst gegenüber ‚dem Fremden‘, Fortschritt und Neuerung. Diese Angst versieht Fortschrittlichkeit mit negativen Vorzeichen: progresar es prostituirse. So wie die marode Werft und ihre drei verbliebenen Mitarbeiter Larsen, Gálvez und Kunz in einem Kreislauf aus Korruption und Verfall gefangen sind, so entkommt, laut Franz, auch Lateinamerika diesem Zustand nicht. Die Angst vor dem Neuen, dem Fremden und Anderen, d.h. die Angst vor der Moderne, lähmt demnach die Bewohner*innen Santa Marías respektive Lateinamerikas. Selbsttäuschung wird damit zur allgegenwärtigen Überlebensstrategie. Während Franz seine allegorische Lesart auf Lateinamerika als gemeinsamen Kulturraum richtet, liest Peri Rossi El astillero (1961) als politische Allegorie auf Uruguay. Die ruinöse fiktive Werft arbeitet sie in ihrem Aufsatz als Bild der nationalen Dekadenz Uruguays heraus: […] es una soberbia alegoría del proceso de decadencia de Uruguay, previsto, con notable lucidez por el escritor cuando recién se iniciaba. […] Ese astillero onettiano donde nada funciona, donde todo es símbolo, y las palabras son eufemismos, ese astillero que entre residuos, polvos y ventanas sin vidrios vive de su antiguo esplendor era la imagen más patética y simbólica de la realidad uruguaya. Peri Rossi betrachtet El astillero (1961) als Werk literarischer Weitsichtigkeit bezüglich eines in den 1970er Jahren einsetzenden Niedergangs Uruguays, welcher seinen politischen Höhepunkt im Staatsstreich von 1973 fand. Die Funktionslosigkeit und marode Architektur der beschriebenen Werft werden dabei zum Bild für einen handlungsunfähigen Staatsapparat und ein Land in der Dekadenz. Der alte Glanz der Werft (respektive Uruguays) ist unter Staub und Euphemismen verborgen und verkommt zum reinen Symbol vergangener Blüte. Verweise auf ein grundsätzliches politisches Rezeptionspotential oder Anspielungen auf zeitgenössische politische Ereignisse und Diskurse finden sich bei Ricardo Piglia und Sonia Mattalia. Piglia deutet die hermeneutische Offenheit in Onettis Texten insofern politisch, als er sie als moralisch ambivalent liest. In dieser fiktionalen Uneindeutigkeit erkennt Piglia, dass die Welt nicht in moralische Dichotomien aufzuteilen ist oder klare Lösungen bereithält, sondern sich über eine ihr inhärente Ambivalenz oder vielmehr ‚Unabgeschlossenheit‘ konstituiert – und eben darüber ihre Brüche und Reibungspunkte artikuliert, wie sich ergänzen ließe: Porque él hace algo que es un gesto que yo lo vivo [sic] como políticamente muy decisivo, y es que Onetti no cierra la conclusión nunca. Es un lugar muy importante del análisis de las formas sociales e ideológicas. El final es el que decide del sentido. Y los de él son siempre indecisos. […] Entonces esas son las operaciones donde la literatura interviene en la política. Experiencias construidas en el laboratorio de la cultura para hacer ver que las cosas no son tan sencillas ni tan claras. Demnach vermag Literatur und insbesondere Onettis Erzählwerk mit den Mitteln poetologischer Darstellung politische und ideologische Entstehungsprozesse und auch deren Konfliktpotentiale offenzulegen, indem sie sich eben einer eindeutigen moralischen Haltung enthält. Mattalia hingegen vertritt die These, dass sich innerhalb des Onetti’schen Gesamtwerks eine Entwicklung herauslesen lässt: So schreibt sie dem im spanischen Exil verfassten Spätwerk und insbesondere Cuando ya no importe (1993) eine zunehmende weltpolitische Referenzierbarkeit zu: También, y esto es novedoso en la narrativa del autor, algunos fragmentos hacen referencias directas a hechos históricos en el Cono Sur, como los golpes militares en Uruguay y Argentina en la década del 70, la presencia de la CIA, historias breves de exiliados, la guerra de las Malvinas, entre otras, que señalan la necesidad ética de Onetti de denunciar directamente, desde el exilio, la violencia de los regímenes militares. Wie das obige Zitat zeigt, interpretiert Mattalia vereinzelte direkte und indirekte Anspielungen auf zeitgenössische politische Diskurse als Kritik des Exilautors Onetti an politischen Umbrüchen in seiner Heimat. Vom Großteil der Forschung wird Onetti jedoch nach wie vor als ‚unpolitischer‘ Autor wahrgenommen. Dass sich diese Lesart bis auf wenige Ausnahmen so hartnäckig im Forschungsdiskurs hält, ist, so darf vermutet werden, auch zu großen Teilen auf eine missverständliche und vor allem den frühen Forschungsdiskurs dominierende, aus aktueller Forschungsperspektive methodisch unsaubere biographistische Gleichsetzung von realem Autor und fiktiven Figuren zurückzuführen. Die Forschungsarbeiten, die sich mit Macht- und Genderfragen innerhalb des Onetti’schen Gesamtwerks auseinandersetzen, argumentierten bislang überwiegend mit einer asymmetrischen Machtverteilung zwischen Männern und Frauen, welche zu Ungunsten der Frauen ausfiel. Demnach gelten Männer als aktiv an der Handlung beteiligte Subjekte, Frauen als passive, indirekt handlungsauslösende Objekte. Josefina Ludmer, Judy Maloof, Elena M. Martínez oder Mark Millington verweisen darauf, dass die Aushandlung der konfliktiven Identitäten, die ein für die Onetti’sche Textwelt typisches, marginalisiertes und entfremdetes männliches Subjekt in Onettis Texten kennzeichnet, nicht ohne die katalytische Funktion einer weiblichen Figur gedacht werden könne. Männliche Subjektivierungsprozesse stünden damit immer in Beziehung zu einem weiblichen Komplementärobjekt. ‚Die Frau‘ wird in dieser Lesart einem bestimmten Typus zugeordnet und dadurch auch ihre Funktionalität für männliche Identitätsaushandlungen affirmiert. Im Folgenden soll dieses diskursbestimmende Postulat von aktiven Männlichkeiten...


Johanna Vocht studierte Hispanistik/Lateinamerikanistik, Politikwissenschaften und BWL in Eichstätt und Vigo/Spanien und promovierte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie arbeitete zwischenzeitlich im Bereich der strategischen Kulturkommunikation und ist aktuell im Wissenschaftsmanagement tätig.


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