Wagner | Die Präparatorin | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Wagner Die Präparatorin

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-96041-589-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Eine ungewöhnliche Heldin auf der Suche nach einer grausamen Wahrheit, rätselhaft, düster, trügerisch.

Als Tierpräparatorin Felicitas Booth eine Kiste mit Erinnerungsstücken ihres Vaters entdeckt, gerät ihre Welt ins Wanken. War er doch nicht nur das unschuldige Mordopfer, für das sie ihn jahrzehntelang hielt? Was geschah auf jener Afrikaexpedition, die nur die Hälfte der Teilnehmer überlebte? Felicitas beschließt, sich der Wahrheit zu stellen – ohne zu ahnen, welche Folgen das für ihr Leben hat.
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3 Sie war froh, als er endlich draußen war. »Nehmen Sie in Ruhe Abschied. Wir haben dafür im Keller einen separaten Raum der Einkehr. Da wir Sie nicht erreichen konnten, haben wir Ihre Mutter von Herrn Schweitzer abholen lassen. Er arbeitet als Bestatter seit Jahren mit uns zusammen. Das Zimmer bitten wir Sie bis morgen Abend zu räumen. Die Maler müssen hinein. Danach sehen wir uns gezwungen, alle persönlichen Gegenstände kostenpflichtig einzulagern.« Arschloch! Der Zorn half gegen den Schmerz. Die Leere blieb. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse. Das helle Furnier der Pflegeheimmöbel umzingelte sie. Ihr Blick erfasste das vergilbte Foto ihres Vaters auf dem Nachttisch. Bei ihr daheim hatte es ebenfalls direkt am Bett gestanden, jahrzehntelang. Abgegriffen schimmerte der kaum noch goldene Rahmen. In halblangen Hosen bis zum Knie, khakifarben wie das Hemd, den Hut mit breiter Krempe in der rechten Hand, starrte er verlegen in Richtung Kamera. Ein Schnappschuss musste es gewesen sein. Die dunklen Haare klebten verschwitzt an seiner Stirn, auf seinem Gesicht ein gezwungenes Lächeln: ihr Vater, allein im trockenen Gras, irgendwo in Afrika. Auf einer der Safaris Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre, die er als Präparator begleitet hatte. Sie hatten Jagd auf die Big Five gemacht: Büffel, Nashorn, Elefant, Leopard und Löwe. Sein Präparationsbuch, das er detailverliebt wie ein Werkverzeichnis geführt und in dem sie während ihrer eigenen Ausbildung oft geblättert hatte, lag in der Werkstatt. Jedes Tier war darin erfasst, auch die Tiere der Afrikaexpeditionen. Kalt umschlang etwas ihren Brustkorb. Sie atmete mühsam dagegen an. Eine große und dunkle Einsamkeit schickte Tränen auf die Reise. Kitzelnd suchten sie sich einen Weg über ihre Wangen. Ihr verschwommener Blick bewegte sich weiter, ohne sich an irgendetwas festhalten zu können. Zerflossene Konturen, die keinen Halt bieten wollten, zogen an ihr vorüber. So lange schon war er tot und die Mutter reglos an dieses Bett gefesselt. Allein war sie, so weit ihre Erinnerung zurückreichte, einsam hatte sie sich dabei nie gefühlt. Hastig wischte sie sich die Tränen aus den Augen und drehte sich langsam weiter. Die helle Holztür zum winzig kleinen Badezimmer. Daneben der schmale Kleiderschrank. Die Schwingen des Bussards am Eingang. Unter dem Hochspannungsmast hatten sie den toten Vogel gefunden, am Tag nach einem schweren Unwetter. Eine Erinnerung, die gestochen scharf war, obwohl sie damals höchstens vier Jahre alt gewesen sein konnte. Sie glaubte sogar, seine Hand spüren zu können, die raue Haut der Innenflächen. An keinen anderen Spaziergang mit ihrem Vater besaß sie eine Erinnerung. Wahrscheinlich hatte der Blitz in den Stahlmast eingeschlagen und den Bussard getötet. Ein prächtiger Vogel mit fast weißem Kopf. Sie brauchte nachher nur im Präparationsbuch nachzusehen, um das exakte Funddatum herauszubekommen. »Ich mache ihn für dich wieder lebendig«, hatte er gesagt. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie beim Präparieren dabei war. Für den Schnitt über das Brustbein bis in den Bauchbereich ließ sich ihr Vater immer besonders viel Zeit. Ganz langsam glitt die scharfe Klinge durch die dünne Haut. Mit behutsamen, aber doch entschlossenen Bewegungen seiner Finger legte er nach und nach das Fleisch frei. Feine Sägespäne, die er immer wieder einstreute, nahmen das wenige Blut auf. Über die Brust bis zu den Flügelansätzen und hinunter zu den Beinen hatte sie den Balg des Bussards selbst abgezogen. »Nicht reißen, ein sanfter, gleichmäßiger Zug reicht aus. Die Haut ist dünn, jedes Loch, das wir ihr zufügen, ist später schwer zu schließen. Dann sieht er schlecht aus. Zerrupft und krank. Wir erschaffen Tiere mitten im Leben. In der Bewegung, im Sprung. Dein Bussard macht sich bereit für den Abflug. Die Schwingen ausgebreitet, sein Opfer im Blick, stößt er in die Tiefe und packt gleich darauf zu. Die Feldmaus merkt das erst, wenn er sie schon gegriffen hat.« Sie hatte den Blick der Tiere um sich herum gesucht, während sie mit ihren kleinen verklebten Fingern weiter an der fedrigen Haut des Vogels zog. Wache Augen, die sie ansahen und vor denen sie niemals Angst empfunden hatte. Stumme Begleiter, die darauf warteten, abgeholt zu werden. An den kapitalen Hirsch konnte sie sich gut erinnern. Der musste lange gestanden haben. Vielleicht war er keine Auftragsarbeit gewesen wie die meisten anderen, sondern ein eigener Fund, so wie der Bussard. Daneben zwei Füchse, die sich um einen bunten Fasan stritten. Die Oryxantilope mit ihren langen, geraden Hörnern und der schwarzen Gesichtsmaske hatte weiter hinten gestanden. Aufmerksam ihr Blick, der die Ferne abzusuchen schien. Die Ohren gespitzt, um das Geräusch auszumachen, das Gefahr ankündigte. Sie musste die Tüpfelhyänen gewittert haben, eine Gruppe von vier oder fünf Tieren in unterschiedlichen Posen. Eine stand mit gefletschten Zähnen über einem fast bis zur Unkenntlichkeit zerrissenen Kadaver, diesen aggressiv verteidigend. Nur an eine weitere aus der Gruppe konnte sie sich noch genauer erinnern. Ein erstaunlich großes Tier mit stark ausgeprägten Halsmuskeln und einem breiteren Schädel. Den Kopf im Nacken, die Schnauze in die Höhe gereckt, um Witterung aufzunehmen. Die Leithyänin des Clans, bereit, jeden Eindringling aus ihrem Revier zu verjagen. In ihrer Phantasie wurden die Tiere stets lebendig, bewegten sich ein Stück weit weg und nahmen dann wieder die Haltung ein, die ihr Vater oder sie selbst ihnen gegeben hatte. Die Hyänin hatte eine Zeit lang im Schaufenster gestanden. Vor allem an den Wochenenden bildeten sich damals oft Menschentrauben vor den vier großen Scheiben des Eckhauses an der Mainzer Großen Langgasse, die ihr Vater wie schlichte Dioramen wechselnd ausgestaltete. Inmitten dürrer Grasbüschel die Tüpfelhyäne neben dem kleinen Kapfuchs und einem Karakal, der mit den schwarzen Pinseln an seinen Ohren wie ein Luchs anmutete, durch das zarte Gesicht aber doch als Katze zu erkennen war. »Wir haben unser eigenes kleines Museum. Immer anders, immer neu. Die Leute sollen sehen, was wir für spannende Gäste haben.« Sie hatte das nie gekonnt, obwohl sie später versuchte, dem Vater nachzueifern. Seine Perfektion in der Darstellung blieb unerreichbar für jeden. Die Muskulatur, die sich wie die feinen und dickeren Äderchen durch das Fell abzeichnete. Unvergessen die Mimik einer wachsamen Impala, die er damals ebenfalls von einer der eigenen Expeditionen nach Afrika mitgebracht hatte. Angespannt jeder Muskel, sprungbereit stand sie zwischen den anderen Tieren, die auf ihre Abholung durch die Auftraggeber warteten. Sie hatte versucht, die Schaufenster so auszugestalten wie er. Auch bei ihr sollten sich sonntags Menschentrauben vor den Scheiben drängen. Gleich nachdem sie die Werkstatt für Tierpräparation übernommen hatte, machte sie sich an das erste eigene Diorama. Es war ein lebloses Stückwerk geblieben. Das Reh aus dem Odenwald hatte auf der herbstlichen Wiese ausgesehen wie ein Fremdkörper. Die bunten getrockneten Blätter hatten das nicht verhindern können. Die Kraft, die Tradition des Vaters nach so vielen Jahren wiederzubeleben, war bald erloschen. Sie hatte die Blicke nicht ertragen können. Das war der eigentliche Grund gewesen. Die Menschen vor ihren Schaufensterscheiben und die Blicke, die ihren Bewegungen folgten. Die Nähe, selbst durch das Glas hindurch, schuf Unbehagen. Sie hatten sich die Nasen platt gedrückt und jede ihrer Regungen beobachtet. Seither stellte sie nur immer mal wieder eine der fertigen Arbeiten in die Auslage. In der Nacht, nachdem sie aus der Dunkelheit des Arbeitsraumes heraus überprüft hatte, dass sie nicht begafft werden konnte. Den Bussard würde sie mitnehmen. Er erhielt seinen Platz zurück. Nicht den Platz, den ihm ihre Mutter zugewiesen hatte. Er musste wieder über ihr Bett, wo der Vater ihn angebracht hatte, nachdem er fertig präpariert und auf seinem Ast fixiert worden war. Der Haken steckte noch in der Wand, als ob er darauf wartete, seine ursprüngliche Bestimmung endlich zurückzuerlangen. Nur noch ein einziges Mal hatte ihre Mutter die Wohnung in der Etage über der Werkstatt nach der überstürzten Flucht betreten. Widerwillig, um hastig das Notdürftigste zusammenzuraffen. Den Bussard über ihrem Kinderbett hatte sie mitgenommen. Danach war ihre Mutter nie wieder in ihr eigenes Haus zurückgekehrt. Auch später nicht, als Felicitas die Präparationswerkstatt übernahm und sich entschloss, die jahrelang verwaisten Zimmer wieder mit stillem Leben zu füllen. Es zog sie dorthin zurück, und ihre Mutter verlor nie ein Wort darüber. Obgleich sie sicher etwas zu sagen gehabt hätte. Der Schmerz verhinderte jedes Gespräch zwischen ihnen über das, was in jener Nacht passiert war. Alles, was sie wusste, speiste sich aus zufällig Aufgeschnapptem, aus Wortfetzen, die aber nie für sie und ihre Ohren bestimmt gewesen waren. Mit routiniertem Griff nahm sie ihren Bussard von der Wand, um sich aus dem Gedankenstrudel zu befreien, der sie in die Tiefe der Vergangenheit zu ziehen drohte. Seine Präparate hatten ein ganz anderes Gewicht als ihre Arbeiten. Kleinere Vögel hatte er kaum angenommen. Sie konnte sich an keine Notiz im Präparationsbuch erinnern. Die Dermoplastiken ihres Vaters wogen annähernd so viel wie das lebende Tier. Er hatte jeden der Körper unter gegerbter Haut noch selbst aus Ton oder Gips geformt. Vorgefertigte Teile, die die Arbeit beschleunigten, schien er konsequent abgelehnt zu haben. Leichte Werkstoffe wie Polyurethan gab es zu seiner Zeit noch nicht. Heute waren PU-Blöcke der Standard für die Nachbildung des Tierkörpers, weil sie nicht so hart wurden und die sich unter dem Einfluss von...


Andreas Wagner ist Winzer, Historiker und Autor. Er hat in Leipzig und Prag studiert und eineinhalb Jahre im Naturhistorischen Museum Mainz gearbeitet. Zwischen ausgestopften Tieren und Speckkäfern entstanden die ersten Ideen für diesen Roman. Andreas Wagner lebt mit seiner Familie auf seinem Weingut in der Nähe von Mainz.


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