Weber / Faralisch | Die wundersame Ästhetik der Schonhaltung beim Ertrinken | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Weber / Faralisch Die wundersame Ästhetik der Schonhaltung beim Ertrinken

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-28145-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



EIN LAMA, EIN CLOWN UND EIN HEINRICH POHL IM ATLANTISCHEN OZEAN. VIELE MEILEN VON RETTENDEN UFERN ENTFERNT. EIN SZENARIO, DAS NACH AUFKLÄRUNG SCHREIT.Ein Mann treibt auf einer Kühlbox im Meer. Neben ihm ein ohnmächtiger Clown und ein Lama. Er kann sich an nichts erinnern. Durch aufblitzende Erinnerungen versucht er zu erforschen, wer er ist und was ihn in diese lebensbedrohliche Situation gebracht hat. Dabei spielen seine Kindheit, das Antiquitätengeschäft des Onkels in seiner Heimatstadt München, ein Klavier und eine Reise nach Amerika eine erhebliche Rolle. Ein sagenhafter Roadtrip und zugleich ein Roman voller origineller Ideen und einer so rührenden wie unterhaltsamen Familiengeschichte.
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1 Das Meer und der Mensch Wenn man im Meer treibt, schwankt das Universum. Mit einem je nach Seegang unterschiedlich stark tanzenden Horizont. Ein Links, ein Rechts, ein Vor und Zurück. Ein Auf und Ab im räumlichen Sinne. Aber auch im metaphorischen. Im Falle von Heinrich Pohl ist es ein Tanz ohne Horizont. Ein einsames Treiben zwischen den Koordinaten 27.847 156 Grad Breite und -79.610 289 Grad Länge, was bedeutet: kein Land in Sicht! Sein makrokosmisches Universum, sein eigentliches, gewöhnliches Leben, viele Kilometer unerreichbar weit entfernt. Sein mikrokosmisches Universum, seine direkte Umgebung, grotesk gespickt mit Gegenständen, die man dort nicht vermuten würde. Heinrich Pohl befindet sich in der lebensbedrohlichen Situation des Ertrinkens. Grob geschätzt nördlich der Bahamas und westlich von Vero Beach. Der Ozean, der ihn noch trägt, hat eine Wassertemperatur von gut fünfundzwanzig Grad Celsius und schaukelt Pohls Körper plätschernd und gleichmäßig in mal elliptischen, mal azyklischen Bahnen. Dem träge schwingenden Taktstock eines Dirigenten gleich. Das Meer, ein dunkles klimperndes Grün, bewegt sich in diesem Moment gemach. Es könnte sich jedoch auch blitzschnell in ein aggressives, aufbrausendes Monster verwandeln. Das Meer ist, wie wir sowohl aus diversen Belletristik- und Sachbüchern als auch aus maritimer Cineastik wissen, ein naturgewaltiges Chamäleon. Ernest Hemingway oder George Clooney könnten unheilvolle Shantys davon singen. Die Ozeane bestimmen über unser Los. Sie überleben jeden. Alles. Selbst wenn die Universen sterben, bleiben Ozeane voller Leichen. Heinrich Pohl liegt mit dem Oberkörper auf einer stabilen, mit Styropor ausstaffierten Hartplastikbox. Seine Beine baumeln im Wasser, als würde er locker und leicht auf einer Luftmatratze vorm Timmendorfer Strand paddeln. Sein Kopf ruht wie einbetoniert in seiner rechten Armbeuge. In schwerer Ohnmacht. Das Atmen klingt rasselnd. Aus seiner Nase marschiert ein kleines Rinnsal Blut wie eine Ameisenstraße Richtung Salzwasser. Die Blutstropfen lösen sich auf wie schmelzende Quallen. Leere Büchsen einer mexikanischen Bierbrauerei tänzeln lustig um ihn herum und wirken wie ein Dutzend Schwimmer ausgeworfener Angelruten. Zwei haarige Kugeln tummeln sich dazwischen. Es sind Kokosnüsse. Drei Grad backbord schwimmt ein brauner Gegenstand im Wasser, ein pelziger Körper voll Leben: ein Lama. Strampelt rhythmisch mit seinen vier Stelzen, um den nötigen Auftrieb zu erzeugen. Lamas sind gute Spucker, aber fast ebenso feine Schwimmer. Heinrich Pohl war ein mittelmäßiger Schwimmer. Nun aber, im Meer, dem Unerbittlichen, zieht gerade sein Leidensgenosse, das Lama, schnellere Bahnen als er. Wenngleich auch im Kreise. Ein Tierkreisel ungewöhnlichster Art am unmöglichsten Ort. Die Bierbüchsen wackeln mit den Köpfen und zollen so Respekt ohne Beifall. Lichtreflexe des Alus treffen auf das glitzernde Wasser. Unzählige, sich verkeilende SOS-Signale. Sie sehen aus wie Millionen explodierende Kameralichter im Fußballstadion während eines entscheidenden Elfmeters. Aber Hand aufs Herz – entscheidende Elfmeter gibt es viele. Ein im Kreis schwimmendes Lama zwischen Bahamas und Vero Beach, zwischen Treibgut, das sich aus mexikanischen Bierbüchsen und einem sich an eine Kühlbox klammernden Heinrich Pohl zusammensetzt, ist einmalig. Unmöglich, im Grunde. Heinrich Pohl schmeckt Salzwasser. Nicht so, als würde er genüsslich eine Auster schlürfen. Eher so, als bekäme er von der Großmutter einen nassen Küchenlappen ins Gesicht geschleudert, während er verbotenerweise von der Fischsuppe probiert. Unerwartet. Rabiat. Ein salzhaltiger Weckdienst aus dem Nichts. Auf das Salz folgt der Schmerz. Noch bevor sich seine Augen in denen des Lamas spiegeln können, realisiert er das große Leid im Kopf. Wasser, Salz, Kopfweh, Lama, Kunststoff, mehr Wasser. Folgerichtig kratzt sich aus Heinrich Pohls rauer Kehle folgender Satz: »Was zur Hölle mache ich hier?« Es klingt, als hätte er hundert Jahre nicht mehr gesprochen. Zerrissene, schüchterne Wolken schieben sich vor die Sonne. Als die Helligkeit an Kraft einbüßt, geht Heinrich Pohl ein Licht auf. Ein kleines. »Ich bin, also denke ich.« Genauer gesagt bemüht er sich zu denken. Schmerz und Wirrnis erschweren jeden klaren Gedanken. In etwa so, wie man im Zustand völliger Betrunkenheit den Hausschlüssel im Schlüsselloch unterbringt. Zu Beginn ist es eher ein Stochern. Schließlich, nach einigem Stochern im Dunkeln, kriecht folgende Frage ans Licht: »Wer bin ich?« Nicht, dass Heinrich Pohl in höchster Seenot auf Sinnsuche wäre. Er vergaß – so schlicht und einfach wie niederschmetternd –, wer er ist, woher er kommt, was er tut oder bisher tat. Heinrich Pohl ist von seinem Betrachtungswinkel aus niemand. Niemand auf einer Getränkebox im Meer treibend. Niemand ohne Aussicht auf Rettung. Niemand in bitterster Angst. Niemand beginnt zu weinen.  Selbst in jeglicher Absenz seiner eigenen Persönlichkeit ist dem Menschen gewahr, dass er leben will. Was im Umkehrschluss nicht heißt, dass jeder Selbstmörder genau weiß, wer er ist. Heinrich Pohl hingegen, im Zustand einer retrograden Amnesie, ist sich sicher, er will sich, wer auch immer er sein mag, am Leben erhalten. Der Selbsterhaltungstrieb funktioniert, ebenso sein vegetatives Nervensystem, auch ohne Identität. So gesehen hat er nur seine Analogie verloren – etwas, wovon viele Menschen im Zeugenschutzprogramm träumen würden. Schlimm genug, dass er um sein Leben kämpft, nun ringt er auch noch mit seiner Identität. Seine verzweifelten Tränen weichen einem natürlichen Verlangen. »Aus Nächstenliebe«, kommt es dem Schwimmer, »rette ich mich. Wer auch immer ich bin.« Er spürt einen tiefen Optimismus, der seinen schweren Körper gleich etwas leichter erscheinen lässt. »Aus unbedingter Nächstenliebe, auch wenn ich meinen Namen nicht kenne.« Die Erdoberfläche besteht zu knapp einundsiebzig Prozent aus Wasser, davon sind etwa drei Prozent Süßwasser. Das Wasser, das Heinrich Pohl umgibt, gehört zweifelsfrei nicht dazu. Die Wassertemperatur scheint nicht zu kalt, ist fast angenehm. Er verspürt keine Anzeichen von Unterkühlung, was wiederum dafür spricht, dass er sich auf der Südhalbkugel befindet und – falls das Schicksal nicht auf seiner Seite ist – auch dort sterben wird. Ob Raubfischattacke, Ertrinken, Blitzschlag oder letztlich doch Erfrieren. Das Ergebnis wird dasselbe sein. Wenn nicht ein regelrechtes Wunder am Horizont erscheint. Wunder sind rar, aber wir wissen: Das Unmögliche existiert. Seine Kiste ist ein brauchbares provisorisches Rettungsboot. Kein Vehikel, mit dem der Ärmelkanal überwunden werden könnte. Aber es schützt vorm Ertrinken. Das haben weit größere und technisch perfektere Gefährte nicht geschafft, wie der ein oder andere Schiffbrüchige leider nicht mehr erklären kann. Lamas sind keine menschenfeindlichen Raubtiere. Heinrich Pohl wird von seinem Mitstreiter keinen Angriff befürchten müssen. Wohingegen er natürlich weiß, dass in der Tiefe das Unglück lauert. Haie. Barrakudas. Seewespen. Mantas. Ungeheuer der Tiefsee. Heinrich Pohl winkelt seine Beine an. Seine Nase schmerzt. Ebenso sein Kopf. Gebrochen ist nichts. Vielleicht die Nase. Die Hände wirken nicht verkrampft. Der Griff ist fest und sicher. Er hat keinen Durst, was sich bald ändern wird. Er hat keinen Hunger, was sich auch bald ändern wird. Wenn es sich nicht ändern wird, ist er bereits tot. Ein verschleierter Rundumblick lässt kein Schiff oder Land erkennen. Er schwebt im Nichts. Zwischen Himmel und den Untiefen des Meeres. Ein verschwindend kleiner Punkt im großen Nass des Erdenballs. Seine Gefühlswelt gleicht einer Sinuskurve. Panik steigt auf. Heinrich Pohl beginnt zu bibbern. Er wagt nun doch einen aussichtslosen Versuch, der in Kraft und Ausdruck seinen Gesamtzustand widerspiegelt – hektisch, nervös, ängstlich, dabei jedoch matt, sehr matt – und ruft: »Hilfe!« Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Diese Durchhalteparole ist Heinrich Pohl trotz Amnesie geläufig. Als Atheist hätte er da schlechte Karten. Ist er Atheist? Wenn nein, könnte dieser traumatische Aufenthalt inmitten eines Ozeans als göttliche Strafe gedeutet werden. Nein, Heinrich Pohl glaubt keineswegs an göttliche Vergeltungsmaßnahmen, das setzt er auf die Schnelle als gegeben voraus. Aber wer, oder – vielleicht wäre diese Frage hilfreicher – was ist er? Ein Mann. Keine Frage. Ein Mann mittleren Alters. Die Haare auf seinen sommersprossigen Unterarmen lassen keinen anderen Schluss zu. Wird der Mann geliebt? Hat er Familie? Wird er vermisst oder ist er seinen Mitmenschen gleichgültig? Oder wird er gar gehasst? Ist dies der Grund für seine Katastrophe? Wird er gesucht – was für einen positiven Ausgang seiner Situation förderlich wäre? Oder ist er vergessen und verloren? Ist er ein Weltenbummler, quasi ein havarierter Weltumsegler? Ist er Teilnehmer einer Kreuzfahrt und bei zu viel Feierlichkeit samt den mexikanischen Bierdosen vom Sonnendeck gestürzt? Ein verstörendes Gefühl kommt auf. Heinrich Pohl entschließt sich, diese Fragen umzuwandeln. Er gaukelt sich selber vor, es handele sich um Tatsachen, deren Richtigkeit er an seinem Bauchgefühl prüfen könne. Die Logik eines Gewasserten sollte man nicht hinterfragen. Außer man ist Gott und will helfen. »Ich bin ein...


Weber, Florian
Florian Weber, 1974 in Schrobenhausen geboren, seit 1994 in München lebend und gereift zum Musiker (Sportfreunde Stiller, MS Flinte, Taskete!, Bolzplatz Heroes), Autor (bis dato zwei Romane), Radiomoderator, Journalist, ausstellender Künstler und Diplomsportwissenschaftler (zumindest laut Abschluss).


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