Wehner | Das Drama des 21. Jahrhunderts | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 396 Seiten

Wehner Das Drama des 21. Jahrhunderts

Spiegel-Archivar Schmidt blickt zurück

E-Book, Deutsch, 396 Seiten

ISBN: 978-3-7448-4300-3
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



2077. Matthias Schmidt, früherer Archivleiter des SPIEGEL-Verlags, geboren kurz vor der Jahrtausendwende, erzählt die Geschichte seines Jahrhunderts.
Schmidt zeichnet das Bild einer zutiefst verstörenden Epoche nach. Er schildert den dramatischen Wandel der politischen Problemstellungen in seiner Lebenszeit, und er fragt sich, ob das politische Bewusstsein mit dieser Entwicklung Schritt gehalten hat. Sein bitteres Fazit: Zumindest im so genannten Westen kann davon keine Rede sein. Die westliche Demokratie zeigt sich mit den Problemen des 21. Jahrhunderts systematisch überfordert. Die politischen Überzeugungen, die im frühen Jahrhundert noch scheinbar Orientierung gaben, sind weggebrochen, und die längst überfällige Öffnung für das neue politische Denken ist ausgeblieben. Allein in China flackerte Hoffnung auf grundlegende Erneuerung auf.
In Schmidts Erzählung werden ein knappes Jahrhundert Weltgeschichte, Schmidts eigene Lebensgeschichte und die Geschichte des SPIEGEL miteinander verflochten. Schmidt skizziert zugleich ein Porträt seiner Generation, die auch für die nachfolgenden keinen Willen zur Erneuerung stiftete. Er weiß: Sein Jahrhundertporträt wird für die Lebenden eine Zumutung sein.
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Vorgeschichten
Staatstheater
Irgendwo las ich, dass man sich jung fühlen muss, um für junge Leute zu schreiben, und sich alt fühlen muss, um für Alte zu schreiben. Das gilt auch für das Schreiben einer Geschichte des 21. Jahrhunderts. Ich kann nicht so tun, als wäre ich noch jung, aber vielleicht hilft es, hier mit meiner Zeit als junger Mensch zu beginnen, auch wenn ich damals manchmal meinte, nicht ganz in meine Zeit zu passen. Meine Erinnerung setzt mit der Nacht der Jahrtausendwende ein. Ich musste für ein Foto posieren: Mein Kindsgesicht todmüde vor einem vom Feuerwerk taghell erleuchteten Berliner Nachthimmel. Zum Glück war unten auf dem Foto das Brüstungsrohr unserer Dachterrasse zu sehen, sonst wären es wirklich nur der beleuchtete Himmel und ich gewesen. Unter dem Foto in der Handschrift meiner Mutter: Matthias und das neue Jahrtausend feiern Geburtstag. Ich, Matthias Schmidt, bin am 1. Januar 1996 geboren. Es gibt andere peinliche Jugendfotos von mir, aber dieses war für mich eines der peinlichsten. Neujahrsgeborene gehen ohnehin mit einer Last ins Leben, nun war meiner Kindheitserinnerung noch dieses Jahrtausendwendespektakel aufgebürdet. Ich hätte das Foto später vernichten mögen, aber das habe ich – irgendwie bin ich eben doch ein Zauderer – immer wieder aufgeschoben, bis heute. Das Foto wird diese Welt wohl nach mir verlassen. Vielleicht war es auch wegen dieses Fotos, dass ich mich später bei Feiern oft fragte, ob denn der Anlass der richtige sei. Man soll sich nicht zu früh freuen, das hatte ich mit der Zeit gelernt, aber dann gilt doch auch: Man soll nicht zu früh feiern. Wie kann man guten Gewissens eine Jahrtausendwende feiern, wenn man für das neue Jahrtausend neues Unheil fürchten muss? Ich weiß, dass die wenigsten Jungen sich mit solchen Gedanken befassen, aber die meisten Alten tun es leider auch nicht. Später habe ich das Feiern dann etwas besser verstehen gelernt. Bei jungen Menschen feiert man in die Zukunft hinein: In einem Jahr bist du schon sooooo groß. Bei deinem nächsten Geburtstag bist du schon ein Schulkind. Nächstes Mal darfst du schon wählen. Nächstes Jahr hast du schon deinen Führerschein. Nächstes Jahr hast du schon dein Abitur. Nächstes Jahr studierst du schon. Ganz anders bei alten Menschen. Sie feiern in die Vergangenheit hinein. Die späten runden Geburts- und Hochzeitstage und Jubiläen – keine Rede mehr von Herausforderungen, von Zielen und Plänen, von Zukunft überhaupt, höchstens noch ein trotziges: Auf weitere soundso viele Jahre. Ansonsten Erinnerungen, alte Geschichten, Erlebtes, Miterlebtes, Überstandenes, Geleistetes, einzelne Glücksmomente. Erlittenes? Schwamm drüber. Ich weiß, von privatem Feiern soll hier am allerwenigsten die Rede sein, aber politische Feiern, Staatsfeiertage, haben damit Gemeinsamkeiten. All die Feiern von politischen Jahrestagen sind Feiern in die Vergangenheit hinein. Mein Vater war noch bei Feiern zu Jahrestagen der Oktoberrevolution dabei gewesen. Großes Staatstheater mit Blick in die Vergangenheit, so sagte es einmal mein Großvater. Natürlich wurde dabei auch kurz über Zukunft geredet, aber dafür versetzte man sich erst einmal weit in die Vergangenheit. So fühlte sich die Gegenwart wie eine strahlende Zukunft an, und die wirkliche Zukunft kam nur als Floskel vor. Die Oktoberrevolution feiert niemand mehr, aber ist es mit dem Staatstheater unserer Zeit, unseres Jahrhunderts nicht ähnlich? All die Jahrestage von lange zurückliegenden Ereignissen, bei denen man sich in eine graue Vorzeit versetzt, um sich umso emphatischer zur Gegenwart zu gratulieren. Fühlen die meisten politischen Jahrestage, die wir heute feiern, sich nicht an wie diamantene Hochzeiten? Aber was gibt es in der Politik noch oder was könnte es geben, das man wie Kindergeburtstage, wie Geburtstage der Jugend feiern kann? Hat die Demokratie uns nicht alle, Alte wie Junge, schon politisch vergreisen lassen? In diesem Jahrhundert standen uns Hundertjahrfeiern – hundert Jahre deutsches Grundgesetz und anderes – bevor, die genau diesen Gedanken aufdrängten. Generation Sichtflug Politische Vergreisung – das sind fast schon wieder Gedanken eines alten Mannes. Wie war es, als ich achtzehn war? Ich versuche, an diese Zeit zu denken. Der Blick ging damals in die Zukunft, die naheliegende eigene vor allem. Was wollte ich werden? Was würde ich studieren? Ich ging die Sache damals ziemlich systematisch an und stellte mir all die gängigen Fragen. Welcher Beruf gäbe deinem Leben Sinn? An welchem hättest du Spaß? Wofür hättest du Talent? Was würde für Spannung sorgen? Was gäbe dir Sicherheit? Womit ließe sich gutes Geld verdienen? Und welches Studienfach wäre zu all dem der Schlüssel? Vieles konnte ich vornherein ausschließen. Ich schaute in den Spiegel und wusste: Andere sehen besser aus, du gehörst nicht ins Rampenlicht. Ich hörte mir zu und wusste: Andere reden besser, flüssiger, überzeugender, also wirst du – Streitigkeiten anderer langweilen dich sowieso – kein Anwalt, auch kein Politiker. Und ich horchte in mich hinein und wusste: Andere sind durchsetzungsstärker, also wirst du kein Manager, kein Unternehmer. Technik interessiert dich nur mäßig, also wirst du kein Ingenieur. Naturwissenschaften hast du in der Schule gemieden, also wirst du kein Chemiker, kein Biologe, kein Physiker. Zeichnen können andere viel besser, also wirst du kein Künstler, kein Gestalter, kein Architekt. Du kannst kein Blut sehen, also wirst du kein Arzt. Du bist ungeduldig, also wirst du kein Lehrer. Schließlich ging ich zur Berufsberatung. Der Rat war: Sie sind noch nicht reif, sich zu entscheiden, Sie brauchen eine Orientierungsphase, studieren sie erst mal was Allgemeinbildendes. Was das denn sein könnte, fragte ich. Schauen Sie sich mal bei den Geistes- und Sozialwissenschaften um, war die Antwort. Ich durchforstete die Websites der Universitäten. Von den mehr als 200 Studiengängen – tausende spezialisierte Unterstudiengänge nicht mitgezählt – schloss ich zwei Drittel sofort aus, mehr als 60 allgemeinbildende blieben übrig. Viele mit klingenden Namen, sehr viele, von denen ich nie gehört hatte, viele, unter denen ich mir nichts vorstellen konnte. Studiengangerfinder, dachte ich, das wäre mein Beruf. Ich war in einem schwierigen Alter. Ich schob die Entscheidung vor mir her. Ein guter Freund wollte Medizin in Halle studieren, also entschied auch ich mich erst einmal für Halle. Welche anderen Gründe sprachen dafür? Ich erinnere mich an keine, an Gründe, die dagegen sprachen, schon eher. Mein Freund entschied sich dann doch für München. Für mich zu spät, ich blieb bei Halle. Die Entscheidung für Politik – genauer gesagt, die so genannte Wissenschaft davon – hatte ich buchstäblich in letzter Minute getroffen. Jemand hatte mir von Graf erzählt, der in Halle Politikwissenschaft lehrte. Graf sei anders als die meisten, ein hoch interessanter Mann, für angehende Politologen Grund genug, nach Halle zu gehen. Warum also nicht Politikwissenschaft in Halle? Im Nebenfach habe ich dann – allgemeinbildend – Geschichte, Soziologie und Philosophie studiert. Mit Halle hatte ich dann nach zwei Jahren meinen Frieden gemacht. Natürlich war Halle mir zu klein und zu provinziell und die Stimmung zu depressiv, und die Wochenenden waren zu lang, um dort bleiben, und fast immer zu kurz, um zu Freunden nach München, Heidelberg oder Hamburg fahren zu wollen. Aber irgendwann wurde Halle mir dann doch vertraut genug. Ähnlich mochte es lange vorher Graf gegangen sein. Er lehrte seit über zwanzig Jahren in Halle, schien aber mit seinen Gedanken dort nie ganz angekommen zu sein. Von vielen Studenten wurde er „Der Fremde“ genannt. Aber Halle brauchte so einen. Er war das Glanzlicht im Hallenser akademischen Alltag. Nach sieben Jahren Halle war ich dann so weit, dass ich wusste, was ich hätte werden wollen: Stadtplaner. Zu spät. Nun musste ich als studierter Politologe ins Berufsleben eintreten. Aber was ließ sich daraus machen? Ich wusste es nicht, und die meisten Kommilitonen auch nicht. Wir alle wussten nur, dass wir viel zu viele waren für die Jobs, in denen wir unser Studienwissen anwenden konnten. Wenn wir uns den akademischen Stil schnell genug abgewöhnten, hatte ein Dozent einmal gesagt, könnten wir z.B. Journalisten werden oder Redenschreiber für Manager. Es war spannend, und noch fühlte es sich gut an. Noch hatte ich nichts zu verlieren. Als Student hatte ich oft darüber gelesen, welche Gedanken Ältere sich über unsere Studentengeneration machte. Damals wurde in fast jeder Dekade eine neue Generation ausgerufen, und unsere nannte man seltsamerweise Generation Z. Der Tonfall, in dem man über uns schrieb, war ärgerlich, aber vieles Geschriebene war richtig. Wir waren viel mit uns selbst beschäftigt. Die Wenigsten waren politisch ernsthaft interessiert, auch unter den Politikstudenten, und wenn, dann ohne jegliche Leidenschaft. Zeit für politisches Engagement hatten wir nicht oder nahmen wir uns nicht. Die...


Wehner, Burkhard
Burkhard Wehner, geb. 1946, ist Ökonom, Staats- und Gesellschaftswissenschaftler. Er entwickelt u.a. Konzepte einer offenen Staats- und Wirtschaftsordnung für eine postdemokratische Gesellschaft.
Wehner studierte Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft in den USA und - nach Tätigkeiten in der Wirtschaft - in Hamburg. In seinen zahlreichen Buch-, Aufsatz- und Internetpublikationen ist er mit wegweisenden Beiträgen u.a. zu Fragen der Staatsordnung, der Friedensordnung, des Sozialstaats, der Währungsordnung, des Arbeitsmarktes und der Systemtransformation hervorgetreten. Wehners Konzepte fügen sich zu einem umfassenden Gegenentwurf zum herrschenden Staats- und Politikverständnis.
Neben seinen wissenschaftlichen Beiträgen schreibt Wehner erzählende Texte, mit denen er neues politisches Denken einer breiteren Leserschaft zugänglich machen will.


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