Das Psychogramm eines Jahrhundertskandals - Das Buch zum Doku-Drama auf TV Now
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-27812-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
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Die zweifelhaften Visionen des Doktor Braun Aschheim, 18. Februar 2020, die Wirecard-Aktie steht bei 135 Euro, der Chef Markus Braun lässt auf sich warten. Er hat viel um die Ohren in diesen Tagen, hat geladen in sein Hauptquartier, um sich und die Wirren um seinen Konzern zu erklären, in einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Der Mann hat Wirecard aufgebaut und damit ein Vermögen gemacht, wenigstens auf dem Papier ist er in jenen Tagen Milliardär und zweifellos eine Ausnahmeerscheinung unter Deutschlands Managern in der ersten Liga, denn kein anderer Vorstandsvorsitzende eines im DAX gelisteten Titels ist gleichzeitig auch Großaktionär seines Konzerns. Keiner sitzt länger am Ruder, keiner ist – scheinbar – derart unantastbar. Vor allem aber: Keiner hat mehr zu kämpfen mit dem Ruf seiner Firma, und Braun hat ordentlich zu tun mit seiner Skandalnudel Wirecard: Geldwäsche, Bilanzfälschung, aufgeblähte Umsätze – alle diese Verdachtsmomente kursieren bereits seit Monaten und sogar Jahren. Alles Humbug aus der Sicht von Markus Braun, der mit seiner Sicht der Dinge kontert, in Gewinnkurven verpackt: Umsatz? Rapide wachsend. Gewinn? Rapide wachsend. Gewiss, all das lässt sich für den geübten Bilanzjongleur frisieren, so führt er aus, um jede Kritik von vornherein zu entkräften. Eine einzige Zahl aber lügt nie, lernt jeder BWL-Student, und das ist der Kassenstand, so greift Braun als Höhepunkt der Darbietung zur alles überragenden Folie: der Bestand an Cash, die liquiden Mittel. Auch rapide steigend. Heißt nichts anderes: Was soll das mit all diesen Anschuldigungen? »Ungerechtfertigte Vorwürfe« seien das, »Behauptungen interessierter Seite«, »schlicht falsch«, so redet er an diesem Mittag, in einem seiner raren Treffen mit Journalisten. Medien meidet er, außer wenn es gilt, Image und vor allem Aktienkurs zu retten. Und so steht es um ihn, in diesen Anfangswochen des Jahres, als die Vorwürfe gegen Wirecard immer heftiger auf ihn einprasseln. Äußerlich ungerührt lässt er die Kritik in der Konzernzentrale in Aschheim an sich abprallen, »davon lassen wir uns weder ablenken noch aufhalten«, sagt der Mann im dunklen Rollkragenpullover, einer im Silicon Valley abgeschauten Marotte. Für wärmere Tage hat er angeblich Kurzarm-Exemplare im Schrank, so erzählen sie augenzwinkernd in seinem Umfeld. Einmal Steve Jobs, immer Steve Jobs. Die Helden im Silicon Valley, das sind seine Helden, daran lässt er keinen Zweifel, deren libertäre Ideen sind seine Ideen. Damit sympathisiert er, daran nimmt er sich ein Beispiel, imitiert deren Stil. »Der hat irgendwann beschlossen: Ich bin Steve Jobs, ich bin Elon Musk«, erklärt ein Marketingmann aus der zweiten Reihe, »in dieser Rolle war er gefangen.« Zur Inszenierung gehört eine gewisse Unnahbarkeit, was ihm von wohlwollenden Mitmenschen als »autistischer Zug« ausgelegt wird, vom Rest schlicht als Größenwahn, als Arroganz gegenüber dem bedauerlichen Rest der Menschheit, die an seinen Intelligenzquotienten – leider, leider – nicht annähernd heranreicht. In der täglichen Praxis zeigte sich das in Meetings, die sich so absurd gestalten, dass Braun einzelne Teilnehmer schlicht nicht wahrgenommen hat, wie Augenzeugen berichten: »Er hat durch die Leute ihm gegenüber durchgeschaut.« So kommt es zu aberwitzigen Szenen. So berichten Wirecard-Mitarbeiter, dass Adressat Braun bei Präsentationen offenkundig so abwesend beziehungsweise mit seinem Handy beschäftigt gewesen sei, dass der Untergebene irgendwann innehielt und – als immer noch keine Reaktion vom Chef kommt – den Raum verließ, wiederum ohne jede Reaktion. »Solche Vorfälle waren keine Ausnahme«, heißt es. Zu Brauns Silicon-Valley-Verständnis von Authentizität gehört, dass er meist frei redet, auch auf Bühnen. Das mediale Training mit ihm sei ein ziemlich sinnloses Unterfangen, müssen seine diversen Berater feststellen, und seine Ignoranz lässt seine Zuarbeiter regelmäßig verzweifeln. Ob sie ganze Reden verfassen oder Stichworte aufschreiben, ihm ist es egal, er spricht frei, auch wenn er in der Regel die immer gleichen Floskeln verwendet. »Es gibt keine Staatsgarantie auf Wohlstand«, das ist ein typischer Satz des Mannes, der den »herausragenden Unternehmergeist« der Silicon-Valley-Gründer bewundert: »Die Welt ist unternehmerischer geworden. Das ist ein Fortschritt, Millionen Menschen wurden aus dem Elend befreit, es gibt keinen Grund für Ängste, auch nicht vor Digitalisierung oder maschinellem Lernen.« Der Wirtschaftsinformatiker Braun, ein Nerd mit Brief und Siegel und Doktortitel, konnte sein Gegenüber schwindlig reden mit seinem Tech-Vokabular aus den Tiefen des digitalen Raums, wenn er wollte. Niemals konnte es ihm visionär genug sein. Je luftig-abgehobener, desto besser, und ach wie schnöde sei doch dieses platte Geldverdienen, wenn es doch um die ganz großen Dinge geht! So gelingt es ihm, die Wirklichkeit ein Stück auf Distanz zu halten, sich zu präsentieren als der intellektuelle Überflieger, weit entrückt vom Tagesgeschehen. »Ich schaffe es nie, nur ein Buch zu lesen, lese immer mehrere gleichzeitig«, tönt Braun auf der Bühne eines befreundeten Wiener Verlegers, und natürlich führt sich so jemand wie er keine Krimis oder Unterhaltungsliteratur zu Gemüte. Nein, August von Hayek, Säulenheiliger des Neoliberalismus, muss es schon sein, dessen Standardwerk Der Weg zur Knechtschaft Braun bei jenem Auftritt als seine momentane Lektüre nennt. Dazu serviert er heiße Techi-Kost: The book of Why von Judea Pearl, »in dem es um den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität geht.« Wie zufällig träufelt er, der Wiener Bildungsbürger, bei passender Gelegenheit seine Leidenschaft für die klassische Musik ein: »Für die Geige habe ich leider keine Zeit mehr, aber meine Vorliebe für die Oper habe ich mir bewahrt.« Die Begeisterung für die Oper ist echt, zumal sie Braun mehr bedeutet als Musik. Der Standort der Loge in der Wiener Staatsoper entscheidet über den gesellschaftlichen Rang in Österreich. Braun belegt, so heißt es, die Loge Nummer zehn, ein Platz fast in Reichweite zur Kaiserloge, dem Gipfel des Renommees nahe, sehr viel mehr kann ein Normalsterblicher in Wien nicht erreichen. Das ist ihm wichtig. Richard »Mörtel« Lugner, dieser Emporkömmling an Bauunternehmer und ein Promi auf dem Wiener Boulevard, sitzt nur in Loge 18: Und was macht der für ein Bohei mit seinen aus Hollywood eingeflogenen Begleiterinnen auf dem Opernball. Braun nimmt sich dagegen vornehm aus, als wahrer Kenner der Kunst. Sehr viel mehr als diese Plaudereien über die Musik beziehungsweise Oper sind nicht aus ihm rauszuholen, von Small Talk ganz zu schweigen. Selbst Profis in dem Genre, wie Promi-Wirt Michael Käfer, ein Charmeur aus Profession, scheitern daran, mit ihm warm zu werden. Das entspannte, wohltuende Geplänkel, Münchner Bussi-Bussi mit Trachtenjanker, wie es Käfer mit Stammgästen meisterhaft zelebriert, ist mit Braun, seinem Nachbarn in Bogenhausen, nur schwer möglich. »Außer klassischer Musik ließ er keine privaten Interessen durchblicken«, bestätigt ein Aufsichtsrat aus seinen Treffen mit dem Vorstandschef. »Gespräche drehten sich fast ausschließlich ums Geschäft, um Investment und Aktienkurs.« Wenn er Emotionen zeigte, zielten sie meist auf einen vierhundert Kilometer entfernten Ort ab, auf Wien, sein eigentliches Zuhause auch in den Münchner Jahren. »Braun wirkte zu 100 Prozent authentisch, wenn er von Frau und Tochter sprach, das war ihm emotional sehr wichtig«, berichtet ein Weggefährte. Und selbst das ist zu hinterfragen: Waren Romantik und Treue womöglich so volatil wie der Aktienkurs? Genau weiß man das nicht. Aber wäre dies ein Film, könnte jetzt im Dunkel der Nacht eine schwere Limousine vorfahren, es würde ein gehetzter Topmanager aus dem Fond aussteigen und einen entspannten Abend mit Escortdamen verbringen. Ob das Vergnügen nun 4.000 oder 6.000 Euro kostet, muss diesen Protagonisten nicht weiter interessieren. Die Rechnung gibt er dem Chauffeur, der regelt das. Und in der Ferne sitzt die Ehefrau, die von den regelmäßigen Eskapaden irgendwann erfährt, sich aber nicht darum schert: Das ist der Preis für ihr Leben in der High Society, so sind die Gepflogenheiten in der besseren Gesellschaft. Wie schwer sich Markus Braun ansonsten mit menschlichen Regungen tut, zeigt sich, als er im Frühjahr 2020 von seinem Wiener Verleger-Freund eingeladen wird, virtuell vor Gästen über seine persönliche Sicht auf die Corona-Pandemie zu reden. Die anderen Talkgäste auf dem virtuellen Podium erledigen das routiniert, geben sich nett und besorgt. Braun driftet immer wieder ab in seinen seelenlosen Digital- und Tech-Sprech. Selbst Gedanken zu so etwas Elementarem wie dem Tod münden bei ihm in hölzerne Phrasen (»Wie gehen wir damit um, wenn sich sozusagen die Lebenserwartung verändert?«), banalste Dinge dagegen bläst er zu Weisheiten auf (»Die Krise ist ein globaler Moment«), nicht ohne seine marinierte Lieblingsfloskel hinterherzuschieben: »Das finde ich einen schönen Gedanken.« Der Mann scheint mit sich im Reinen zu sein, wenn er abheben kann in luftige Höhen, getragen von seinem Glauben an den technischen Fortschritt. Die Reden sind durchsetzt von philosophisch angehauchtem IT-Kauderwelsch. So leben wir als Menschheit derzeit in der »paradoxen Situation«, dass wir die »Gleichzeitigkeit verschiedener Optimierungsmodelle unter fast absoluter Ungewissheit erleben, was fast unmöglich ist«. Deshalb müssen wir jetzt, so erklärt uns Dr. Markus Braun, »den Antagonismus der Gleichzeitigkeit« aushalten. Oder noch so ein Beispiel: »Mensch...