Werner | Die Raststätte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Werner Die Raststätte

Eine Liebeserklärung

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-446-27019-0
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Florian Werner zeigt, dass Raststa¨tten mehr sind als Orte der Pause und des Auftankens. „Raststätten sind Orte der Magie – und dies ist ein magisches Buch.“ Saša StanišicDie deutschen Raststätten haben mehr Besucher als der Kölner Dom, das Brandenburger Tor und das Oktoberfest zusammen. Gerade in einer Autofahrernation wie der unseren sind sie die wichtigsten Bauwerke überhaupt. Florian Werner nimmt diese ungeliebten Orte unter die Lupe. Er spricht mit Lastwagenfahrern, Flaschensammlern und Autobahnpolizisten. Er trifft einen Raststättenbetreiber, der den Lärm der Autobahn liebt, er lernt von einem Botaniker, wie man sich von den Pflanzen am Parkplatzrand ernährt, und er entwickelt eine kleine Philosophie der Sanifair-Toilette. Das Ergebnis ist eine liebevolle, komische und sehr persönliche Hommage an einen Ort, der weitaus faszinierender und vielschichtiger ist als sein Ruf.
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Nächste Ausfahrt Garbsen Nord
Drei weiße Balken auf blauem Grund, dann zwei, dann einer, diagonal von rechts oben nach links unten wie der Bastardfaden auf einem mittelalterlichen Wappenschild: Noch dreihundert Meter, noch zweihundert, hundert, wir kommen der Sache näher. Jetzt keine Ankündigungsbake mehr, dafür ein mächtiger Pfeil, der in die Botanik weist, Verkehrszeichen Nummer 333: Ausfahrt. Ich drehe das Steuer, die Tachonadel sinkt, achtzig Stundenkilometer, sechzig, dreißig. Ich folge der Ausfädelungsspur auf die dahinter liegende Asphaltbrache, gelbrot leuchtet das Vordach der Tankstelle, aber ich lasse sie rechts liegen und folge dem Piktogramm, das den Weg Richtung Übernachtungsmöglichkeiten weist, schwarze Decke, schwarzes Kissen, ein stilisiertes Kastenbett. Vorbei an den Zapfsäulen, vorbei an der Station für Luft und Wasser, über den Parkplatz, der die Tankstelle vom Restaurant und Motel trennt. Ein paar Dutzend Vierzigtonner dieseln Flanke an Flanke in der Hitze vor sich hin, daneben PKWs, Kleinbusse mit polnischem Kennzeichen, die Passagiere hängen bei offener Tür in den Sitzen, dösen, daddeln, rauchen. Auf dem Vordach des Rasthauses reckt eine Nachbildung der Freiheitsstatue ihre Plastikfackel in den niedersächsischen Himmel, daneben thront ein Iguanodon aus Kunstharz; es scheint mich zu beobachten. Ein paar Meter weiter führt ein Abzweig zum Gästeparkplatz unterhalb des Motels. Kühler weißgetünchter Beton, Kunststoffmülleimer mit dem Logo eines Speiseeisunternehmens, kaum andere Fahrzeuge. Ich bringe den Wagen zum Stehen, nehme die Sonnenbrille ab, massiere mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand die Tränendrüsen. Ich muss gestehen, ich bin ein bisschen nervös. Vorfreudig, hibbelig wie vor einem ersten Date. Obwohl ich gar nicht mit einem Menschen verabredet bin, sondern nur mit einem Ort. Zumal mit einem, der nicht gerade als attraktiv gilt. Etwa vierhundertfünfzig Autobahnraststätten gibt es in Deutschland, mehr als eine halbe Milliarde Reisende machen jedes Jahr an ihnen Halt; damit haben sie deutlich mehr Besucher als der Kölner Dom, das Brandenburger Tor und das Oktoberfest zusammen. Zugleich sind Raststätten Orte, an denen Abertausende von Menschen arbeiten und wo Heerscharen von LKW-Fahrern einen Großteil ihrer Frei- und Schlafenszeit verbringen. In einer Gesellschaft, die Individualverkehr als Grundrecht betrachtet, und in einer Zeit, da der Gütertransport zunehmend von der Schiene auf die Straße verlegt wird, nimmt die Bedeutung der Raststätten als Dienstleistungs- und Erholungsorte stetig zu. In einer bekennenden Autofahrernation wie Deutschland sind sie vielleicht die wichtigsten Bauwerke überhaupt. Darüber hinaus lassen sich Raststätten aber auch als Knotenpunkte verstehen, an denen sich deutsche Zeitgeschichte verdichtet: Ihre Planung war zunächst eng mit dem Autobahnbau während der nationalsozialistischen Herrschaft verbunden. Nach Kriegsende verlief auch die deutsche Raststättengeschichte getrennt. In den Neunzigerjahren schließlich wurden die west- und ostdeutschen Betreibergesellschaften vereinigt und kurz vor der Jahrtausendwende, ganz im neoliberalen Geist der Zeit, privatisiert. Die Raststätte, das ist Deutschland im Kleinen. Ein Mikro-, ein Motorkosmos. Dennoch sind Raststätten, Hand aufs Herz, nicht gerade beliebt: Sie gelten, bei wohlwollender Lesart, als Inbegriff bundesrepublikanischer Durchschnittlichkeit, als leidlich funktionale Nicht-Orte, wo man in der Regel nur Halt macht, wenn es die Leere des Tanks oder die Fülle der Blase unbedingt erfordern. Das Meckern über die Preise an der Autobahn gehört zur nationalen Folklore, das Klagen über die Qualität des dort angebotenen Essens ist gesellschaftlicher Minimalkonsens. Die Raststätte ist wie ein Mensch, den man nicht leiden, ohne den man aber auch nicht leben kann. Ein Partner, dessen Gegenwart so selbstverständlich geworden ist, dass man ihn kaum noch bemerkt. Wahrscheinlich ist es gerade diese Unbeliebtheit. Diese Unaufdringlichkeit. Diese vollkommene Abwesenheit von allem, was man gemeinhin unter sehenswürdig oder schön versteht, die mich an Raststätten so fasziniert, ja beinahe magisch anzieht. Mein Lieblingstier ist die Gemeine Wegschnecke, mein Lieblingsheld ist Otto Normalverbraucher, mein bevorzugtes Kleidungsstück ein mittelgraues T-Shirt mit Rundkragen. Anders gesagt: Ich habe ein ausgesprochenes Faible für Wesen, Dinge und Orte, die durch vermeintliche Gewöhnlichkeit glänzen, unter deren Oberfläche sich bei näherer Betrachtung aber Welten (oder wahlweise Abgründe) auftun. Der Besuch einer Autobahnraststätte, davon bin ich überzeugt, kann uns mehr über die Kultur, Mentalität und Geschichte dieses Landes und seiner Bewohner verraten als die Besichtigung der genannten Kathedrale am Rhein, des neoklassizistischen Triumphtors in Berlin oder des notorischen bajuwarischen Saufgelages. Im vergangenen Sommer erfüllte ich mir daher einen langgehegten Wunschtraum: Ich nahm mir frei von familiären und sonstigen Verpflichtungen. Ich mietete mangels eigenen Automobils einen Leihwagen. Dann fuhr ich los: von Berlin, wo ich zu Hause bin, nach Westen, vorbei an Potsdam, Magdeburg, Braunschweig, immer weiter auf der A2, meist in zähflüssigem Verkehr, manchmal im Stau, bis kurz hinter Hannover. Zur Autobahnraststätte Garbsen Nord. Alle deutschen Rastanlagen, so viel war mir klar, würde ich nicht besuchen können — zumal ich nicht an einer flüchtigen Affäre interessiert war, ich wollte mich gleich für mehrere Tage und Nächte einquartieren, schauen, schnuppern, schreiben, mit Menschen sprechen, die einen solchen Ort am Laufen halten und sich dort auskennen. Ich brauchte also eine Stellvertreterin, ein Musterbeispiel: eine Raststätte, die exemplarisch für die Vielzahl von Nebenbetrieben an der Autobahn stehen kann. Dass ich mich, ohne jemals zuvor dort gewesen zu sein, ausgerechnet für Garbsen Nord entschied, hat einen schlichten Grund: Die Raststätte markiert die automobile Mitte unseres Landes. Sie liegt unmittelbar an der A2, jener hochfrequentierten Ost-West-Achse, die Aufgrund der Vielzahl an Lastwagen, die aus Polen Richtung Ruhrgebiet oder weiter nach Rotterdam donnern, den Spitznamen Warschauer Allee trägt. Und unweit der A7, also der großen Nord-Süd-Verbindung, auf der während der Ferienzeit bayerische Touristen nach Skandinavien brettern und skandinavische Touristen nach Bayern. Hier treffen sich Menschen aller Herren Länder und Himmelsrichtungen, hier ist das Zentrum der Windrose. Wenn die Landkarte von Deutschland der Umriss eines Menschen wäre, läge Garbsen Nord in der Herzgegend. Und nicht nur räumlich, auch zeitlich lässt sich Garbsen Nord im Mittelfeld verorten. Die Anlage wurde 1954 eröffnet, gehört also nicht mehr zu den protzigen Monumentalraststätten der Nazis. Sie stammt aber auch noch nicht aus der Dekadenzphase der Siebzigerjahre, als man auch in Westdeutschland vermehrt auf vorgefertigte Teile zurückgriff und eine Raststätte in Systembauweise nach der anderen an die Straße klotzte. Dass es die Anlage überhaupt gibt, verdankt sich einem Zufall: Mitte der Dreißigerjahre, beim Bau der Reichsautobahn vom Ruhrgebiet nach Berlin, wurde neben der Trasse Kies und Sand ausgebaggert. Die entstandene Grube füllte sich mit Grundwasser, und es entstand der sogenannte Blaue See — der wiederum die Niedersächsische Straßenbauverwaltung dazu bewog, auf der gegenüberliegenden Autobahnseite eine Raststätte mit Baggerseeblick zu errichten. Eine Anlage, die, in den Worten der Deutschen Bauzeitung, »der letzten Rast vor der Abfahrt nach Hannover zu dienen vermag und den Einwohnern der Stadt ein leicht erreichbares, lohnendes und interessantes Ausflugsziel mit Badegelegenheit im Freien bietet«. Die Raststätte Garbsen Nord ist damit ein idealtypisches Beispiel für die Architektur des Anthropozän, also des gegenwärtigen, vom Homo sapiens, seinen Ausdünstungen und Eingriffen geprägten Erdzeitalters. Der Mensch erschafft künstliche Landschaften und Gewässer (hier: eine Autobahntrasse und einen Baggersee) — dann errichtet er Bauwerke, um diese vermeintlich natürlichen Phänomene zu bestaunen. Die Naturbeobachtung wird zur Nabelschau, Gewachsenes und Gemachtes sind ununterscheidbar miteinander verbunden. Zugleich atmet die Raststätte vernehmlich den Geist der Fünfzigerjahre: Dass irgendein Reisender eine halbe Stunde vor Erreichen des Zielorts, wie es die Bauzeitung mutmaßte, noch einmal eine Rast, Tank- und Verzehrpause einlegt, erscheint heute genauso abwegig wie die Vorstellung, dass er eine Autobahnraststätte als Ausflugsziel ansteuern sollte. Die Lage von...


Werner, Florian
Florian Werner, 1971 geboren, ist promovierter Literaturwissenschaftler und Autor. Er schreibt erzählende Sachbücher und Prosa, lehrt an der Hochschule der Künste in Bern und arbeitet für den Hörfunk. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Bei Hanser Berlin erschien zuletzt "Die Raststätte. Eine Liebeserklärung" (2021). Er lebt mit seiner Familie in Berlin.


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