Wertheimer | Europa - eine Geschichte seiner Kulturen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 608 Seiten

Wertheimer Europa - eine Geschichte seiner Kulturen

E-Book, Deutsch, 608 Seiten

ISBN: 978-3-641-23042-5
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Eine Kulturgeschichte für Europa heute – von der Antike bis in die Gegenwart
Was hält Europa zusammen? Gibt es Gemeinsamkeiten in den Werken der Kunst und Kultur, die sie als europäisch kenntlich machen? In einer fesselnden Reise durch über 2000 Jahre europäischer Kulturgeschichte zeigt Jürgen Wertheimer, was Europa ausmacht: Es nimmt sich seit jeher als Gemeinschaft wahr, die ständigem Wandel unterliegt, die zwischen Autonomie und Zusammenhalt schwankt – ohne sich auf ein starres Selbstbild zu verpflichten. Trotz aller Krisen und Kriege liegt darin auch seine Stärke: Seit der Antike hat sich eine einzigartige Kultur der Neugier, Selbstbefragung und Offenheit gebildet, die sich in den vielfältigen kulturellen Zeugnissen Europas spiegelt – von Homer bis in unsere Zeit.
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1 Europa kriecht an Land Irgendwo zwischen Syrien und Libyen beginnt die Geschichte Europas. Und sie beginnt wie in einem bunten orientalischen Märchen. Aber es handelt sich nicht um ein Märchen aus »Tausendundeiner Nacht«, sondern um eine genuin griechische Geschichte, vielleicht sogar um die Mutter aller Geschichten: Göttervater Zeus hat sich in Europé, die Tochter des mythischen Phönikerkönigs Agenor, verliebt. Als sie am Strand mit Gefährtinnen spielt, taucht er in Gestalt eines Stieres auf. Um sie zu entführen. Er tut dies auf eine offenkundig so vertrauenserweckend-charmante Art, dass sie spontan, auf seinem Rücken reitend, mit ihm geht. Er schwimmt mit der schönen Last auf dem Rücken übers Meer nach Kreta. Dort verwandelt er sich zurück und zeugt mit ihr drei Söhne, darunter Minos, den späteren Erfinder des kretischen Labyrinths. Entsprechend einer früheren Verheißung Aphrodites, wurde die neue Heimat nach ihr »Europa« benannt: Noch in der Nacht vor ihrer Entführung hatte Europé davon geträumt, dass zwei Kontinente sich um sie stritten: Asia und das zukünftige Europa. Asia wollte sie mit dem Argument an sich binden, dass sie doch hier geboren sei und deshalb hierhergehöre. Der neue Kontinent verwies darauf, dass der Mensch frei sei, zu gehen, wohin er wolle – und entführte sie in die neue Welt, nach Kreta. Das griechische Märchen hat es also in sich. In anmutigen Bildern beschreibt es einen programmatischen Neuanfang, der mit einer Entführung beginnt und in einem Gründungsmythos endet. Auf Kreta wird Europé zur Mutter einer neuen, antilevantinischen Mittelmeerkultur – der gesamte Mittelmeerraum wird sozusagen neu vermessen und geht auf Kurs »West«. Und kein Geringerer als Zeus selbst stand Pate bei dieser Verpflanzung und Umwidmungen der alten ägyptisch-orientalischen Kulturen auf die Inseln der Ägäis. Ein geopolitischer Paradigmenwechsel par excellence. Sich kulturell zu formieren, zu positionieren heißt auch, sich abzugrenzen und Trennungslinien zu ziehen. Das geschieht exemplarisch. Mythen fungieren als Inklusions- und Exklusions-Medien. Sie sind Teil eines göttlich legitimierten, menschlich gemachten politischen Schachspiels. Und dieses »Europa« ist ein Kunstprodukt aus dem Geist der strategischen Abgrenzung. Da es im Mittelmeerraum kaum natürliche Grenzen gibt – das Meer galt den Griechen nicht als Barriere, sondern als Verbindung, sie nannten es »ho pontos« (»die Brücke«) –, musste man artifizielle, ideologische Abgrenzungen finden. Hinter der auf den ersten Blick etwas abstrus anmutenden kleinen Entführungsgeschichte steckt weit mehr. Wenn man so will, wird hier eine für Jahrtausende gültige kulturelle wie geopolitische Grenze zwischen West und Ost gezogen. Denn auch das Nachspiel der Geschichte hat es in sich: Nach ihrer Landung auf der Geburtsinsel des Zeus wird die entführte Prinzessin zur Stammmutter einer neuen Dynastie. So wie Kreta zum Ausgangspunkt jener minoischen Kultur werden wird, die sich innerhalb kurzer Zeit über weite Teile des ägäischen Raums ausbreiten sollte. Funde belegen, dass der Einfluss der kretisch-minoischen Kultur bis ins östliche Mittelmeer reichte. In den langen Jahrhunderten seiner Blüte (grob gerechnet zwischen 2500 und 1500 v. u. Z.) hatte Kreta eine einzigartige kulturelle Signatur entwickelt: Die Überreste gewaltiger Paläste ohne schützende Umfassungsmauern, die der britische Archäologe Arthur Evans zu Beginn des 20. Jahrhunderts freilegen sollte, lassen auf eine ebenso reiche wie verfeinert-raffinierte Kultur schließen. Eine Kultur, die es sich erlauben konnte, sich ganz und gar unheroisch und anmutig zu präsentieren, und weder mit den Namen großer Herrscher prunkte, noch ein Register über Siege und Niederlagen führte: Auf Tausenden von Tontäfelchen, die gewaltige Brände gehärtet und vor dem Verfall bewahrt hatten, fanden sich exakte Aufzeichnungen über Herden, Ernten, Steuern und Opfergaben. Hinweise auf bedeutsame historische Ereignisse und Triumphe sucht man vergebens. Dafür überliefern die Fresken an den ehemaligen Palastmauern das Bild einer auf spielerische Eleganz, weibliche Dominanz und urbane Selbstsicherheit ausgerichteten Welt. (Siehe Abbildung 1 in Tafelteil 1.) Minoische Kolonien waren über den gesamten Mittelmeerraum verstreut. Ihre großen, schnellen Schiffe benutzten Wasserstraßen, die bis Zypern, Sidon, Tyros reichten und die gesamte Ägäis bis hin zu den afrikanischen und italienischen Küsten und dem Schwarzen Meer umfassten. Das minoische Experiment war also eine sehr ernsthafte Antwort auf die erfolgreiche Expansion der phönikischen Handels- und Kriegsflotten, die den gesamten nordafrikanischen Mittelmeerraum beherrschten. So gesehen war die minoische Kultur ein erster früher Vorstoß, eine Art europäischer Pionierversuch – und mit einer entführten phönikischen Prinzessin als Stammmutter geradezu eine, elegant verpackte, Kampfansage an den »Osten«. Von Griechenland konnte zu diesem Zeitpunkt noch kaum die Rede sein. Man kann es eher als Spätfolge und Weiterentwicklung der minoischen Expansion bezeichnen. Oder, um es noch krasser und noch paradoxer zu formulieren: Griechenland wird im Nachhinein das minoische Experiment mitsamt der Geschichte Europés und ihrem Migrationshintergrund als entscheidenden Schritt der Ablösung vom dunklen Erbe der phönikischen Levante interpretieren. Eine ebenso kühne wie erfolgreiche Strategie, um neue Koordinaten zu etablieren. Als Homer Jahrhunderte, Jahrtausende später in der Ilias Kreta als ein mächtiges Land im »dunkelwogenden Meer« mit »neunzig Städten« besang, war das minoische Kreta längst Geschichte. Griechenland hatte sein Erbe angetreten – oder weniger zurückhaltend ausgedrückt –, hatte es übernommen, gekapert. Das sprichwörtliche Labyrinth von Knossos mit dem schrecklichen Minotaurus war geknackt, das Ungeheuer tot. Und wiederum hatte ein griechischer Mythos Kreta als Folie zur Profilierung der eigenen, erst im Entstehen begriffenen Geschichte benutzt. Im Zentrum stand ein grauenerregendes Mischwesen, halb Stier, halb Mensch. Geschaffen von Dädalus, einem ebenso genialen wie skrupellosen Erfinder, der – aus Athen verstoßen – im Dienst des kretischen Hofes stand. Er konstruierte eine Kuhattrappe aus Holz, um die Zeugung dieses Kunstwesens zu ermöglichen. Von wegen Archaik – weit mehr griechische Technologie vom Feinsten steht am Anfang dieses heroischen »Drachenkampfes«, in dem ein, wen wundert es, griechischer Held der frühen Zeit zum Retter wird: Theseus, eine der ersten der großen europäischen Projektionsfiguren, der einem Erlöser gleich alle feindlichen oder auch nur undefinierbaren Mächte abwehrt und besiegt, seien es die bedrohlichen Amazonen oder eben das minoische Ungeheuer. Andere konkurrierende Kulturen wie die der Phöniker oder der Minoer mögen über spezielle und überaus elaborierte Kenntnisse technischer, nautischer, ökonomischer Art verfügt haben. Auch kann aufgrund der reichen Funde kein Zweifel an einem äußerst kultivierten, verfeinerten Lebensstil der minoischen Kultur sein. Was aber die eminente Fähigkeit der Griechen betrifft, die Lufthoheit im Bereich der Narration zu erobern, so ist sie singulär. Das Erfinden von Geschichten und Figuren, die die Taten der jungen griechischen Kultur legitimieren und in einen weltanschaulichen und damit auch weltpolitischen, weltgeschichtlichen Kontext stellen, ist ihre größte Kompetenz und der Schlüssel zum Erfolg. Und dieser Theseus, der alles, was der werdenden hellenischen Kultur im Wege steht, erdrosselt, ermordet, in seinen Bann zieht oder zähmt, ist einfach göttlich gut erfunden. Nebenher verfügt der Superheld auch noch über die Fähigkeit, kreativ zu agieren. So gelingt es ihm, die Vielzahl der attischen Stämme zu einigen und der athenischen Vorherrschaft zu unterstellen. Dieser Zusammenschluss unter den Vorzeichen eines demokratischen Freistaats ist eine der vielen Taten, die Theseus zugeschrieben wurden (Plutarch). Sie dienten einem alleinigen Zweck: den kulturellen und politischen Zugriff der Griechen auf den Rest der ägäischen Welt zu begründen. Selbst das Schiff, mit dem er Kreta erobert und damit symbolisch dessen Bann gebrochen hatte, wurde folgerichtig in Athen wie ein Kultobjekt ausgestellt und über Jahrzehnte, Jahrhunderte bewahrt. (Siehe Abbildung 2 in Tafelteil 1.) Das würdige Wrack wurde zum Ausgangspunkt einer der frühesten – typisch europäischen? – intellektuellen Diskussion, deren Ursprung Plutarch (um 45 – um 125) überliefert: Das Schiff, auf dem Theseus […] ausfuhr und glücklich heimkehrte, den Dreißigruderer, haben die Athener […] aufbewahrt, indem sie immer das alte Holz entfernten und ein neues, festes einzogen und einbauten, derart, daß das Schiff den Philosophen als Beispiel für das vielumstrittene Problem des Wachstums diente, indem die einen sagten, es bleibe dasselbe, die anderen dies verneinten.1 Kult und...


Wertheimer, Jürgen
Jürgen Wertheimer, geboren in München, studierte Germanistik, Komparatistik, Anglistik und Kunstgeschichte in München, Siena und Rom. Seit 1991 ist er Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter gemeinsam mit Nicholas Conard »Die Venus aus dem Eis. Wie vor 40.000 Jahren unsere Kultur entstand« (Knaus, 2012). Seit 2017 leitet er das »Projekt Cassandra«, in dem die Literaturen krisengefährdeter Regionen auf die Darstellung möglicher Konfliktursachen analysiert werden.


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