Wetterling | Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankungen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 237 Seiten

Wetterling Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankungen

Ein Leitfaden zur Begutachtung der Geschäfts- und Testierfähigkeit

E-Book, Deutsch, 237 Seiten

ISBN: 978-3-17-037916-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Geschäftsfähigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Als deren Grundvoraussetzung wird von juristischer Seite ein freier Wille angesehen. Die Frage, ob die Fähigkeit zu einer freien Willensbestimmung gegeben ist, ist auch eine medizinische, da eine Reihe von neuropsychiatrischen Erkrankungen diese einschränken kann. Davon sind besonders ältere Menschen betroffen. Durch die Veränderung der Altersstruktur gibt es in Deutschland immer mehr hochbetagte Menschen, bei denen sich oft die Frage stellt, ob die Geschäfts- oder Testierfähigkeit noch vorhanden ist. In dem in 2., überarbeiteter Auflage vorliegenden Buch wird die gutachterliche Bewertung der Geschäfts- bzw. Testierfähigkeit bei neuropsychiatrischen Erkrankungen dargestellt.
Wetterling Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankungen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1          Gesellschaftliche Aspekte
      In den letzten Jahrzehnten sind in der Bundesrepublik Deutschland einige gesamt-gesellschaftlich wichtige Entwicklungen zu verzeichnen, die sich allen Prognosen nach fortsetzen werden, u. a.: •  Die Bevölkerung wird immer älter, d. h. das Durchschnittsalter steigt, und daher •  Zunahme der alterstypischen Erkrankungen und der Multimorbidität. •  Aufgrund der geringen Geburtenrate und der neuen Formen des Zusammenlebens haben viele Menschen keine direkten Nachkommen mehr. •  Immer mehr ältere Menschen haben ein beträchtliches Vermögen erworben und dieses dann im Falle ihres Todes zu vererben.   1.1       Demografische Entwicklung (alternde Gesellschaft)
  Die mittlere Lebenserwartung hat in Deutschland in den letzten 100 Jahren deutlich zugenommen (Destatis 2011). Das mittlere Sterbealter betrug 2013 81,8 Jahre für Frauen und 74,5 Jahre für Männer (Destatis 2015a). Aufgrund der gestiegenen Lebensdauer und der geringen Geburtenrate (Destatis 2012) in den letzten Jahrzehnten ist der Anteil der über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland stark von 1,0 % (1950) auf 6,2 % (2017) gewachsen, und diese Entwicklung wird weiter anhalten (Destatis 2009, 2015b).   1.2       Zunahme alterstypischer Erkrankungen
  Infolge der demografischen Entwicklung mit einer steigenden Zahl an älteren Menschen wächst auch die Zahl derer, die an Alterserkrankungen, insbesondere Herz-Kreislauf- und Krebs- sowie neuropsychiatrischen Erkrankungen leiden. Deren Häufigkeit steigt mit dem Lebensalter deutlich an. Menschen im höheren Lebensalter leiden sehr oft an mehreren Erkrankungen gleichzeitig (Multimorbidität) ( Kap. 5.11). Nach einer Schätzung leiden in Deutschland etwa 165.000 Menschen an einer akuten neuropsychiatrischen Erkrankung, die mit einer schweren Beeinträchtigung der intellektuellen Fähigkeiten einhergehen kann (Wetterling 2002, S. 11). Deutlich höher liegen die Zahlen für Menschen mit chronischen neuropsychiatrischen Erkrankungen. Eine Reihe von Studien zeigen, dass insbesondere das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Demenz zu erkranken, sehr hoch ist. Es wird auf über 20 % geschätzt (Lobo et al. 2011; Fishman 2017; Seshadri und Wolf 2007). Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Etwa 20 % aller Menschen erleiden während ihres Lebens einen Schlaganfall (Seshadri und Wolf 2007). Also ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Anteil der Menschen in hohem Lebensalter aufgrund einer Schädigung des Gehirns an einer organisch bedingten Störung der kognitiven Fähigkeiten leidet. Über 2 % der Deutschen leiden nach Schätzungen an einer Schizophrenie oder einer wahnhaften Störung und 6 % an einer Depression (Jacobi et al. 2014). Da diese Erkrankungen ebenso wie schwere Formen anderer psychiatrischer Erkrankungen zu einer Einschränkung der freien Willensbildung führen können, ist der Kreis derjenigen, bei denen eine Geschäfts- oder Testierfähigkeit zu diskutieren ist, groß. Falls diese Fähigkeiten nicht mehr gegeben sind, ist für bestimmte Aufgabengebiete die Einrichtung einer Betreuung erforderlich (Wetterling 2018a). Die Zahl der rechtlichen Betreuungen (nach § 1906ff. BGB) ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Die Zahl der betreuten Personen in Deutschland betrug Ende 2013 knapp 1,3 Millionen (= etwa 1,6 % der Gesamtbevölkerung) (Bundesanzeiger 2017).   1.3       Vererbte Vermögenswerte
  Nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW 2017) werden in Deutschland in den nächsten Jahren jährlich bis zu 400 Mrd. Euro vererbt. Das entspricht etwa 6 % des gesamten Geldvermögens aller privaten Haushalte. Nach einer Studie der Deutschen Bank (2018) beschäftigen sich 60 % der Deutschen ungern mit dem Thema Erbschaft. Über dieses Thema wird auch wenig kommuniziert. Aber sowohl den zukünftigen Erben als auch den Erblassern ist es besonders wichtig, dass es keinen Streit um das Erbe gibt. Gleichwohl hatten nur 39 % der potentiellen Erblasser ein Testament gemacht. Bei 19 % der Erbschaften kam es in den letzten Jahren zu Streitigkeiten. Häufigster Anlass für Streit ist, dass sich einzelne Erben benachteiligt fühlen ( Kap. 1.4). In juristischen Auseinandersetzungen wird oft die Testierfähigkeit des Erblassers angezweifelt.   1.4       Psychodynamik
  Die Geschäftsfähigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben. Sie wird in der Regel als gegeben vorausgesetzt. Eine Geschäftsunfähigkeit wird nur dann behauptet, wenn der Betreffende sich massiv übervorteilt oder getäuscht fühlt. In entsprechenden Fällen wird versucht, durch diese Behauptung den meist finanziellen Schaden wieder gut zu machen bzw. zu begrenzen. Die Betreffenden berufen sich in solchen Fällen auf einen »Ausnahmezustand«, in dem sie sich vorübergehend befunden haben. Mitunter wird auch ein »Rauschzustand« (z. B. Kaufrausch) angegeben. Das wesentliche Motiv für juristische Auseinandersetzungen ist in diesen Fällen meist die Scham, auf einen anderen »hereingefallen« zu sein. Aus dieser Scham und auch Schuldgefühlen kann sich Wut entwickeln, wenn der Betreffende sich nicht mit den aus seiner Sicht gerechtfertigten Ansprüchen durchsetzen kann. Die Geschäftsfähigkeit wird bei älteren Menschen von Dritten v. a. beim Abschluss von Verträgen, insbesondere Erbverträgen (mit kompliziertem Inhalt), angezweifelt. Um ein Erbe wird oft mit einer enormen Verbissenheit und Ausdauer gestritten, nicht selten über mehrere Gerichtsinstanzen. Dem Autor sind Gerichtsverfahren bekannt, die bis zu fast 20 Jahre nach dem Tode des Erblassers andauerten, auch nachdem die unmittelbaren Erben zwischenzeitlich verstorben waren. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Erbstreitigkeiten bis hin zu Königsmorden und Ermordung von anderen potenziellen Erben (Familienangehörigen) geführt haben. Aufgrund von Erbstreitigkeiten kam es zu mehreren »Erbfolgekriegen« in Europa. Mitunter bekämpfen sich die potenziellen Erben so lange, bis nach den Kosten für die Anwälte, Gerichte und Gutachter kaum noch ein nennenswerter Betrag übrig bleibt. Die Triebfeder für diese erbitterten Streitigkeiten, die dazu führen können, dass nahe Verwandte, z. B. Geschwister, nie mehr miteinander sprechen und »auf ewig« verfeindet sind, müssen also neben der reinen Gier nach Erlangung des Erbes (Geld, Immobilien etc.) noch weitere sein. Oft brechen durch einen Erbfall lang andauernde, im Untergrund schwelende Familienkonflikte wieder auf und gewinnen im Verlauf der Erbstreitigkeiten eine teils fatale Dynamik. Mitunter wird sogar bestritten, dass eine leibliche Verwandtschaft zum Erblasser besteht und ein DNA-Test gefordert. Einzelne Erben, die sich von dem Erblasser ihr Leben lang nicht richtig gewürdigt oder gar gegenüber anderen, z. B. Geschwistern, zurückgesetzt fühlen, können sich damit getröstet haben, dass sie am Ende doch noch ihren »gerechten« Anteil an dem Erbe bekommen. Wenn der Erblasser sie aber (wie schon zu Lebzeiten) nicht genügend berücksichtigt hat, kommen tiefgründige Gefühle wie Neid und Hass auf den (scheinbar) Bevorteilten zum Ausbruch. Diese Emotionen können so stark sein, dass sie den Betreffenden »gefangen« nehmen und es zu einem Lebensinhalt von ihm wird, am Ende doch endlich »Recht« zu bekommen. In entsprechenden Fällen (z. B. bei Erbverträgen) kann sich der Hass auch gegen den Erblasser richten und dazu führen, dass danach getrachtet wird, ihn zu diskreditieren und durch entsprechende Angaben seine Geschäfts- bzw. Testierfähigkeit in Zweifel zu ziehen. Besonders in Fällen, in denen ein Erbe den Erblasser bei schwerer Krankheit oder kurz vor seinem Tode dazu bringt, ein Testament zu seinen Gunsten zu verfassen oder Sonderregelungen zu seinen Gunsten (z. B. Schenkungen, Schließen eines Erbvertrags, Wohnrecht etc.) zu vereinbaren, entsteht Streit, vor allem dann, wenn es vorher andere testamentarische Regelungen gab. Dies führt oft dazu, dass der Benachteiligte sich übervorteilt oder gar betrogen fühlt. Nicht selten kommt es in solchen Fällen schon zu Lebzeiten des Erblassers zu ersten juristischen Auseinandersetzungen (z. B. Hausverbot, gegenseitige Betrugsvorwürfe mit Strafanzeigen etc.). In diesem Zusammenhang wird oft versucht, eine rechtliche Betreuung einzuleiten mit dem Ziel, anderen potenziellen Erben den Zugang zu dem Erbe zu erschweren oder...


Prof. Dr. med. Tilman Wetterling ist Neurologe und Psychiater. Er arbeitete als Chefarzt an einer psychiatrischen Klinik in Berlin und lehrte an der Charité, Berlin.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.