Wildenhain | Das Singen der Sirenen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Wildenhain Das Singen der Sirenen

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-608-10880-4
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2017

Als der deutsche Frankenstein-Experte Jörg Krippen auf dem Campus seiner neuen Londoner Universität umherirrt, hilft ihm die junge Stammzellenforscherin Mae sich zu orientieren. Die Begegnung wirkt zufällig, tatsächlich hat sie diese bewusst provoziert. Kurz darauf führt Mae ein Wiedersehen herbei, um eine Affäre mit dem deutlich älteren Mann zu beginnen. Zugleich scheint sie sonderbar viel über ihn zu wissen.

Im Londoner East End hat niemand auf den Literaturwissenschaftler Jörg Krippen aus Berlin gewartet. Die Kleidung vom Nieselregen durchweicht sucht er nach einer Klingel, als eine junge Frau indischer Abstammung ihn anspricht: 'You look so lost'. Sie selbst ist in Brixton aufgewachsen und forscht im Bereich neuer Reproduktionstechnologien. Krippen verliebt sich rasch und heftig – und belügt sie, was seine Familie und seine linke politische Vergangenheit betrifft. Auch sie ist nicht ehrlich und verschweigt, dass sie vor Jahren als Austauschschülerin in Berlin war. Es entspannt sich eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, wie sie beide in der Intensität zuvor nicht erlebt haben. Doch ihre ungewöhnliche Liebe wirft Fragen nach dem Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaft auf.
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1 – Charterhouse Square
»You look so lost.« Sie lächelt, während er, den Schlüssel in der Hand und dennoch ratlos, vor dem Backsteingemäuer steht. Die Kleidung vom Nieselregen durchweicht, sucht er nach einer Klingel, einem Eingang unter dem tropfenden Torbogen, hofft, in der dunklen Durchfahrt auf jemanden zu treffen, der ihn empfängt, ihm den Weg weist: in seine Wohnung, die er hier, neben der Pestwiese, so wird er’s morgen auf einer Messingtafel lesen, längst nicht mehr vermutet. »Ist leicht zu finden«, hatte der Student am Eingang zum Campus hurtig gesagt, wo er, nervöses Trippeln auf der Stelle, ihn immerhin erwartet hatte. »Paar Stationen mit der Tube, keinerlei Problem, dann zum alten Unigelände, Medizin, Zahnmedizin: Dean-Rees-House, Charterhouse Square.« Flugs war der Junge, ein Milchgesicht, wieder verschwunden. Bei Feuer Hast! Unwillkürlich das Schild im Treppenflur des Plattenbaus vor Augen, Dreiraumwohnung in Hellersdorf an der Berliner Stadtgrenze, die er seit einiger Zeit mit Frau und Kind bewohnt. Wollte was sagen, rufen, doch kaum dass er den Koffer samt der beiden Rucksäcke auf dem Londoner Campus abgestellt hatte, war der Student nicht mehr zu sehen – Tutor vielleicht, der »noch etwas zu erledigen habe«, der auch in den folgenden Tagen stets etwas zu erledigen haben, ihm, immer in Eile, nicht in die Augen blicken wird. Paar Stationen mit der Tube. Danach die Beschreibung, die er sich am Ausgang der Station Barbican mit Mühe meinte, erneut ins Gedächtnis gerufen zu haben. Dann aber, unweigerlich: falsche Treppe, falscher Ausgang. Die Überführung, Neubaublocks: über ihm, neben ihm, unter ihm, zwielichtig irgendwie. »Nicht die Überführung zu den Blocks – Charterhouse Square! Da ist meist noch ein Hauswart, selbst um sechs.« Klar. Kein Hauswart. Auch klar. Jetzt steht er vor den Backsteingebäuden, Dean-Rees-House, düsterer, schöner als Block und Plattenbau, unsicher, ob er den Weg nicht doch verfehlt hat und auf der anderen Seite der zahnmedizinischen Fakultät, der alten medizinischen Labore, gelandet ist. Hatte der Student nicht Ähnliches erwähnt? Simon, Sam – wie war noch der Name? Schau mir in die Augen, Simon, guck mich doch mal an, ich stehe vor dir. You look so lost. Der Koffer. Der erste, dann der zweite Rucksack. Zusätzliches Gepäckstück. Einhundert Euro extra am Flughafen Schönefeld. Einen Rucksack hinten, einen vor der Brust. Wie er es hasst, in Gegenwart einer Frau zu schwitzen. Dieser Frau zu schwitzen. Ähnlich jung wie der Student, Tutor mit Schlüssel, Meister des raschen Rückzugs, aber eine dunkle, mäßig dunkle Haut. Das Gesicht im Schatten, und als die Lampe oben am Torbogen erlischt, wirkt sie beinahe wie ein Geist, »my name is Mae«, fast unsichtbar, trotzdem sieht er sie lächeln. »Oh, you are from Germany?« Die geraden, weißen Zähne sollen ihm wohl sagen, sie habe den Klebstreifen mit dem Gepäckkontrollabschnitt am Rucksack vor der Brust sofort entdeckt. Wohin er denn wolle? Heben der Schultern. Wisse er nicht so genau. Grinsen, ungläubiges Lächeln, knapper Ruck der linken, nein, der rechten Braue – ja, es gebe, gleich hier, eine Pforte, eine kleine Tür. Während sie ihn mit einer Geste auf den Eingang im Windfang hinweist, gleitet ein Blatt aus einem leuchtstoffbunten Umschlag, Kladde, die unter der Achsel klemmt, und segelt in eine Pfütze ihr zu Füßen. Deckblatt zu einem Vortrag über – Stammzellen? Deren Gewinnung? Stem Cells liest er in ultramarinblauer Schrift, der Rest liegt im Schatten. Übergroße Buchstaben, deren Tinte im Regen, noch schwimmt das Blatt in dem Rinnsal unter dem tropfenden Torbogen, zu verfließen beginnt. Sie bückt sich, er bückt sich, eine Bewegung. Koffer längst nass, Rucksäcke auch. Sanft stößt seine Stirn an ihre. Fühlt er den feuchten Ansatz der Haare, hebt seinen Kopf. Meint den Duft ihrer Haut, eines Parfüms, Shampoos zu riechen. Rosen? Rasen? Keine Ahnung, alles vermischt mit dem Londoner Niesel, stockender Kleidung. Blickt ihr in die Augen, als sie, die Tinte des Titels zieht Fäden, beim Griff nach dem Blatt seine Finger berührt. Ein Moment des Verhaltens, Verweilens, die Gesichter – keine zehn Zentimeter voneinander entfernt. Wenn ihr euch vorbeugtet, träfen sich unweigerlich eure Lippen. Schmecktet ihr euren Atem. Schlösse sie ihre Lider. Spürte er die geraden, weißen Zähne. Nicht dass sie zurückführe, hochschreckte, sich in abrupter Bewegung von ihm, dem Fremden, abwendete, dies sei ein Versehen, vielleicht feixte, ironischer Zug um die Winkel des Mundes, dennoch, sie lässt von dem Blatt. Gibt die Berührung der Finger, der Kuppen, behutsam beinahe, auf. Erhebt sich, ebenso er. Das Deckblatt ihres Handouts wird in der steten Feuchtigkeit unterm Baldachin des Bogens nachgiebig und weich. Während die Buchstaben ihre verfügte Form verlieren, die Schrift sich im flachen Wasser der kaum bewegten Pfütze langsam anfängt aufzulösen, hält er den Blick am Boden. Weiß nichts zu sagen, sich nicht zu bewegen, tastet nach dem Griff seines Koffers, wünscht sich, er wäre nicht hier. Dann stehen sie voreinander. Er sieht sie an und schweigt. »Bist du verrückt? Oder einfach nur pervers?« Sagt sie. Nein, schreit sie, als sie die Illustration aus den 20er-Jahren sieht, die mechanische Liebhaberin mit dem mächtigen Dildo, die er in das Buch eingelegt hat. Das Buch, das ihn seit Monaten, seit Jahren schon begleitet. Es ist nicht das Bild allein: albernes Bild, harmlos. Im Stil eines Filmplakats, Metropolis. Es ist der Text, den sie auf seinem Schreibtisch entdeckt und in die Hand genommen, in die Finger bekommen hat: treffendes Idiom. Nie interessiert sie sich für seine Arbeit. Nie hört sie ihm zu, wenn er länger als eine Minute darüber spricht. Fühlt sich angegriffen, wenn er ihr etwas erklären möchte. Sie, seine Gefährtin, Frau seines Lebens. Ja, sie mag ja durchaus recht haben, er neigt zum Dozieren, ja. Aber wie soll er ihr nahebringen, was er den Tag über tut? Auch während der Nächte, wenn sie schläft, erschöpft von der Arbeit im Lager des mächtigen Supermarkts. Der nicht nur sie, sie beide und ihr Kind, den Sohn, der auch die Umgebung durch bloße Präsenz erstickt. Nein, es ist nicht nur das Bild, die Abbildung – es ist der Text. Manifest einer Gender-Forscherin, der Name, Beatriz Preciado, steht für: Kontrasex. Dildo und Anus statt Penis und Vagina. Beschrieben ist eine Übung, bei der sich ein Transvestit, Prinzessin der Schmerzen, passend mit Dornenkrone und an intimer Stelle mit Stahlnadeln gepierct, den Hackenschuh in den Arsch rammt. Verrückt? Oder einfach nur pervers? Sie schreit ihn an, obwohl das Kind – längst kein Kind mehr, ein Junge – im Nebenzimmer schläft. Wie jung sie einmal war, wie unbesiegbar. Gift und Galle, Schwefel und Asbest. Sie hat ja recht, denkt er. Ich bin zu alt, ich bin ein Mann, ich kann das Abgefahrenste – Habil, klingt irgendwie arabisch – in meine Arbeit einschreiben: ich werde keine Chance haben, und darum hat sie recht. Obwohl sie etwas anderes, Grauenerregenderes meint: das Unverständnis, das uns hier, im fast vergessnen Hellersdorf, auseinandertreiben lässt, die Fremdheit füreinander, die den Graben tiefer und tiefer einschneidet. Ihr Unvermögen, einzusehen, dass nun mal nicht jeder ganz Tat und Handeln, ganz Augenblick und Praxis ist – Primo Levi hat ihn, Sandro Delmastro, so beschrieben: den ersten, der vom Piemontesischen Militärkommando der Aktionspartei fiel. Dann wird sie wieder zutraulich, redet trotz ihres Alters von einem zweiten Kind. Gleich darauf so, dass ihn die Angst des Anfangs packt: doch, doch, ja, ja, er weiß es noch – Köder, animalisch, Furcht, von ihr verschlungen zu werden. »Sorry.« Mae, das Gespenst, guter Geist von London, drückt den Schalter in der Nische. Und weil der Glühstrumpf der Birne wieder leuchtet, erkennt er, nicht jung, nicht alt, so irgendwie dazwischen, dass sie nun wieder lächelt, grinst, da er so tumb im regennassen East End steht, ihn anblickt, prüfend betrachtet und ihren Kopf schüttelt. Während er, noch spürt er an der Stirn die Spur ihrer Berührung, nickt, als wisse er, als wisse er nun endlich, wohin er müsse, wo er sei, dass ihn jene Wohnung, hier ...


Wildenhain, Michael
Michael Wildenhain ist 1958 in Berlin geboren, wo er auch heute lebt. Nach einem Philosophie- und Informatikstudium engagierte er sich in der Hausbesetzerszene - Stoff u. a. für seine ersten literarischen Veröffentlichungen: 'zum beispiel k.', 'Prinzenbad' und 'Die kalte Haut der Stadt'.Für sein literarisches Schaffen wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Alfred-Döblin-Preis, dem Ernst-Willner-Preis, dem Stipendium der Villa Massimo sowie dem London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. 'Das Lächeln der Alligatoren' war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Brandenburger Kunstpreis ausgezeichnet. Wildenhain schrieb mehrere Theaterstücke, von denen 2012 ein Auswahlband erschienen ist.Sein letzter Roman 'Das Singen der Sirenen' erschien 2017 und war für den Deutschen Buchpreis nominiert, 2018 würdigte das Literaturforum im Brecht-Haus sein Gesamtwerk mit einem Symposium.

Michael Wildenhain ist 1958 in Berlin geboren, wo er auch heute lebt. Nach einem Philosophie- und Informatikstudium engagierte er sich in der Hausbesetzerszene - Stoff u. a. für seine ersten literarischen Veröffentlichungen: 'zum beispiel k.', 'Prinzenbad' und 'Die kalte Haut der Stadt'.
Für sein literarisches Schaffen wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Alfred-Döblin-Preis, dem Ernst-Willner-Preis, dem Stipendium der Villa Massimo sowie dem London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. 'Das Lächeln der Alligatoren' war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Brandenburger Kunstpreis ausgezeichnet.
Wildenhain schrieb mehrere Theaterstücke, von denen 2012 ein Auswahlband erschienen ist.
Sein letzter Roman 'Das Singen der Sirenen' erschien 2017 und war für den Deutschen Buchpreis nominiert, 2018 würdigte das Literaturforum im Brecht-Haus sein Gesamtwerk mit einem Symposium.


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