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E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Wolin Umgekehrter Totalitarismus

Faktische Machtverhälnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-86489-869-3
Verlag: Westend Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ende des 20. Jahrhunderts sehen wir uns vermehrt neuen, postdemokratischen Regierungstechniken ausgesetzt, die Elemente der liberalen Demokratie mit denen totalitärer politischer Systeme verbinden. Das Streben nach Superpower und das Management von Demokratie haben zu diesem "umgekehrten" Totalitarismus geführt, so Sheldon S. Wolin. Den zentralen Unterschied zum klassischen Totalitarismus sieht er darin, dass diese postmoderne Form totaler Herrschaft auf eine weitreichende Entpolitisierung der Bevölkerung und auf weichere, kaum wahrnehmbare Unterdrückungsmechanismen setzt. Wer die zerstörerischen Auswirkungen dieser neuen Machtstrukturen auf unsere Demokratie erkennen und verstehen will, kommt an diesem Klassiker der politischen Philosophie nicht vorbei!
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Vorwort
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich einleitend einige Aspekte der Herangehensweise erläutern, die in diesem Buch zum Tragen kommt. Auch wenn der Begriff des Totalitarismus für die nachstehenden Ausführungen maßgeblich ist, vertrete ich nicht die These, dass das gegenwärtige politische System der USA von Nazideutschland inspiriert ist oder George W. Bush von Adolf Hitler.1 Verweise auf Hitler-Deutschland dienen allein dazu, den Leser an die Grundzüge eines Machtsystems zu erinnern, das im Ausland invasiv vorging, das einen Präventivkrieg als offizielle Doktrin rechtfertigte und das jegliche Opposition im Inland unterdrückte – ein System, das im Prinzip und in der Praxis grausam und rassistisch, zutiefst ideologisch und offen auf die Weltherrschaft ausgerichtet war. Diese Grundzüge werden vorgestellt, um Tendenzen in unserem eigenen Machtsystem zu beleuchten, die den Grundprinzipien einer konstitutionellen Demokratie entgegenstehen. Diese Tendenzen sind meines Erachtens in dem Sinne totalisierend, dass sie besessen sind von Kontrolle, Expansion, Überlegenheit und Vorherrschaft. Das Regime Mussolinis und dasjenige Stalins demonstrieren, dass der Totalitarismus unterschiedliche Formen annehmen kann. So übernahm etwa der italienische Faschismus den Antisemitismus offiziell erst spät in der Geschichte des Regimes; und selbst dann in erster Linie als Reaktion auf den Druck aus Deutschland. Stalin führte einige »fortschrittliche« Maßnahmen ein: etwa die Förderung der Volksalphabetisierung und des Gesundheitswesens, die Ermutigung von Frauen, Berufe zu ergreifen und technische Laufbahnen einzuschlagen, und (für eine kurze Zeit) die Förderung von Minderheitenkulturen. Entscheidend ist nicht, dass diese »Errungenschaften« geeignet gewesen wären, die Verbrechen zu kompensieren, deren Grauen wir noch nicht einmal in ihrem vollen Umfang erfasst haben. Wichtig ist vielmehr, dass der Totalitarismus lokale Spielarten annehmen kann. Es ist durchaus plausibel, dass Möchtegern-Totalitäre weit davon entfernt sind, sich in den Versionen des zwanzigsten Jahrhunderts zu erschöpfen, und dass sie stattdessen heute über Technologien der Kontrolle, Einschüchterung und Massenmanipulation verfügen, die weit über diejenigen aus früherer Zeit hinausgehen. Die nationalsozialistischen und faschistischen Regime wurden von revolutionären Bewegungen angetrieben, deren Ziel nicht nur die Ergreifung, Umbildung und Monopolisierung der staatlichen Macht war, sondern auch die Kontrolle über die Wirtschaft. Indem sie den Staat und die Wirtschaft kontrollierten, erhielten die Revolutionäre die erforderliche Handhabe, um die Gesellschaft umzugestalten und sodann zu mobilisieren. Im Unterschied dazu ist der umgekehrte Totalitarismus nur teilweise ein staatsbezogenes Phänomen. Er steht in erster Linie für das politische Erwachsenwerden der korporativen Macht und die politische Demobilisierung der Staatsbürger. Anders als die klassischen Formen des Totalitarismus, die sich offen mit ihren Absichten brüsteten, ihre jeweiligen Gesellschaften in eine vorgefasste Totalität hineinzuzwingen, wird der umgekehrte Totalitarismus nicht ausdrücklich als Ideologie konzeptualisiert oder in der öffentlichen Politik konkretisiert. Typischerweise wird er von Machthabern und Bürgern vorangetrieben, die sich der tieferen Auswirkungen ihres Tuns oder Unterlassens oftmals gar nicht bewusst zu sein scheinen. Hier ist eine gewisse Achtlosigkeit zu verzeichnen: nämlich die Unfähigkeit, das Ausmaß ernst zu nehmen, in dem sich eine gewisse Struktur von Nachwirkungen verfestigen kann, ohne dass dies im Voraus geplant worden wäre.2 Der wesentliche Grund für diese tiefsitzende Sorglosigkeit hängt mit der wohlbekannten amerikanischen Begeisterung für Veränderungen zusammen und – was gleichermaßen gilt – mit dem Glück der Amerikaner, über einen riesigen Kontinent zu verfügen, der reich an natürlichen Ressourcen ist, die zur Ausbeutung einladen. Obwohl die Geschichte der amerikanischen Gesellschaft, so das Klischee, eine Geschichte unablässigen Wandels war, sind die Auswirkungen des heutigen erhöhten Tempos weniger offensichtlich. Der Wandel bewirkt, dass bestehende Überzeugungen, Praktiken und Erwartungen verdrängt werden. Auch wenn Gesellschaften im Laufe der Geschichte ständig Veränderungen durchlaufen haben, wurde die Förderung von Innovationen erst in den letzten vier Jahrhunderten zu einem Schwerpunkt öffentlicher Politik. Aufgrund des hochgradig organisierten Strebens nach technologischer Innovation und der dadurch begünstigten Kultur findet der Wandel heute schneller statt, ist umfassender und willkommener als je zuvor – was bedeutet, dass Institutionen, Werten und Erwartungen gemeinsam mit der Technologie nurmehr eine begrenzte Haltbarkeit zukommt. Wir erleben den Triumph der reinen Gegenwart und ihres Komplizen: des Vergessens bzw. der kollektiven Amnesie. Etwas anders ausgedrückt: In der frühen Neuzeit verdrängte der Wandel die Traditionen, heute folgt auf den Wandel der Wandel. Der Auswirkung ständiger Veränderung besteht darin, dass Kontinuitäten untergraben werden. Man denke zum Beispiel daran, dass mehr als ein Jahrhundert nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg die Folgen der Sklaverei immer noch nachwirken; dass fast ein Jahrhundert, nachdem Frauen das Wahlrecht errungen haben, ihre Gleichberechtigung nach wie vor umstritten ist; oder dass nach fast zwei Jahrhunderten, in denen öffentliche Schulen eingerichtet wurden, die Bildung nun zunehmend privatisiert wird. Um das Problem des Wandels zu erfassen, sei daran erinnert, dass in politischen und intellektuellen Kreisen – beginnend in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts und besonders während der Aufklärung im 18. Jahrhundert – die Überzeugung wuchs, dass es den Menschen zum ersten Mal in der überlieferten Geschichte möglich sei, ihre Zukunft bewusst zu gestalten. Wissenschaftliche und technologische Fortschritte machten es möglich, Veränderungen als »Fortschritt« zu begreifen, als Fortschritt, der allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt. Fortschritt stand für Veränderungen, die konstruktiv waren, die etwas Neues in die Welt brachten und allen zum Vorteil gereichten. Die Verfechter des Fortschritts wähnten, dass Veränderungen zwar das Verschwinden oder die Zerstörung etablierter Überzeugungen, Bräuche und Interessen nach sich ziehen könnten, dass aber die überwiegende Mehrzahl von ihnen es verdiente zu verschwinden, weil sie zumeist nur einer Minderheit dienten und die Masse in Unwissenheit, Armut und Krankheit festhielten. Ein wichtiges Element dieser frühneuzeitlichen Fortschrittskonzeption bestand in der Vorstellung, dass der Wandel im Wesentlichen eine Sache des politischen Engagements derjenigen war, die für ihre Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Dieses Verständnis von gesellschaftlichem Wandel wurde durch das Aufkommen wirtschaftlicher Machtkonzentrationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend zunichtegemacht. Der Wandel wurde zu einer privaten Unternehmung, untrennbar von Ausbeutung und Nützlichkeitspolitik und damit ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Element in der Dynamik des Kapitalismus. Die Nützlichkeitspolitik beinhaltete eine unablässige Suche nach dem, was ausbeutbar sein könnte. Und schon bald erstreckte sich dies auf praktisch alles: von der Religion über die Politik bis hin zum menschlichen Wohlbefinden. Kaum etwas – wenn überhaupt irgendetwas – war tabu, denn bald schon wurden Veränderungen zum Gegenstand gezielter Strategien zur Gewinnmaximierung. Häufig wird festgestellt, dass der Wandel heute rascher vonstattengeht und umfassender ist als je zuvor. An späterer Stelle werde ich darlegen, dass die amerikanische Demokratie niemals wirklich gefestigt worden ist. Einige ihrer wesentlichen Elemente sind nach wie vor unverwirklicht oder angreifbar; andere wurden für antidemokratische Zwecke ausgenutzt. In der Regel sind politische Institutionen als diejenigen Mittel beschrieben worden, mit denen eine Gesellschaft versucht, den Wandel in geordnete Bahnen zu lenken. Dies geschah unter der Annahme, dass die politischen Institutionen selbst stabil bleiben würden. So, wie es das Ideal einer Verfassung als relativ unveränderliche Struktur für die Definition des Gebrauchs und der Grenzen der öffentlichen Gewalt und der Rechenschaftspflicht der Amtsträger verdeutlicht. Heute jedoch sind einige politische Veränderungen revolutionär; andere sind konterrevolutionär. Einige von ihnen skizzieren neue Perspektiven für die Nation und führen neue Techniken zur Ausweitung der amerikanischen Macht ein, und zwar sowohl intern (Überwachung der Bürger) als auch extern (siebenhundert Militärbasen im Ausland), was die Vorstellungskraft früherer Regierungen weit hinter sich lässt. Andere Veränderungen sind konterrevolutionär in dem Sinne, dass sie eine Sozialpolitik rückgängig machen, die ursprünglich darauf abzielte, das Los der mittleren und ärmeren Klassen zu verbessern. Wie ist nun der Leser davon zu überzeugen, dass die tatsächliche Richtung der gegenwärtigen Politik auf ein politisches System hinausläuft, das exakt das Gegenteil von dem ist, was die politische Führung, die Massenmedien und die Orakel der Denkfabriken behaupten, wonach die USA das weltweit führende Muster für Demokratie seien? Auch wenn Kritiker dieses Buch als Fantasie abtun mögen, so gibt es doch Gründe für die Annahme, dass die breite Öffentlichkeit zunehmend beunruhigt ist wegen »der Richtung, die die Nation einschlägt«, wegen der Rolle des großen Geldes in der Politik, der...


Mausfeld, Rainer
Rainer Mausfeld ist Professor an der Universität Kiel und hatte bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Wahrnehmung- und Kognitionsforschung inne. In seinen gesellschaftspolitischen Beiträgen beschäftigt er sich mit der neoliberalen Ideologie, der Umwandlung der Demokratie in einen autoritären Sicherheitsstaat und psychologischen Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements. Mit seinen Vorträgen (u.a. "Wie werden Meinung und Demokratie gesteuert?" und "Die Angst der Machteliten vor dem Volk") erreicht er Hunderttausende von Zuhörern.

Wolin, Sheldon S.
Sheldon S. Wolin (1922—2015), Demokratietheoretiker und Politikwissenschaftler, lehrte politische Theorie am Oberlin College, an
den Universitäten von Kalifornien, Berkeley, Santa Cruz und Los Angeles, der Princeton University, der Cornell University und der
Oxford University. Zu seinen Schülerinnen zählte Judith Butler. Er war der Gründungsherausgeber des Journal of Democracy.
Wolin schrieb in seiner politischen Theorie der Demokratie einen flüchtigen Charakter zu und betonte die zentrale Kraft lokaler Formen der politischen Beteiligung als Gegengewicht zu den totalisierenden Tendenzen staatlicher Macht.


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