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E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Zimmer Calixt

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-949774-17-1
Verlag: Edition Faust
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



CALIXT – der zweite Roman von Matthias Zimmer Täusche dich nicht! Was ist es, was unser Leben prägt, was sich uns einprägt über Generationen hinweg? Der berühmte Historiker Rudolf Herzberg blickt auf sein Leben: seine Laufbahn in der DDR, seine sozialistische Grundüberzeugung, sein Familienleben. Gleichzeitig sieht sich sein Sohn, der vor vielen Jahren aus der DDR geflohen war, vor die Aufgabe gestellt, eine Rede zum dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls vorzubereiten. Dazu muss er sich seiner Vergangenheit stellen, aber auch dem, was seinem Vater wichtig war. Kann man auf Erinnerungen bauen? Aus den unterschiedlichen Perspektiven von Vater und Sohn entsteht ein neuer Blick auf die Vergangenheit und auf die Frage, was es braucht, um dem Leben Sinn und Bedeutung zu geben.
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I
PROLOG
Andreas Kaelber, Doktorand der Geschichte an der Universität Jena, saß nun schon seit vielen Stunden in dem Archivraum an dem ihm zugewiesenen Schreibtisch. Wie alle Leseräume in den Archiven, die er kannte, war auch dieser wenig einladend: kahl, die Wand lediglich durch eine offizielle Fotografie des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier an der Stirnseite geschmückt, eingepasst in einen schlichten schwarzen Rahmen und ein weißes Passepartout. Die Plastikhartschale, die als Stuhl diente, war sicherlich ergonomisch nicht optimal, erfüllte aber ebenso ihren Zweck wie der Resopaltisch. Der Fußboden war mit einem bräunlichen Linoleum bedeckt. Eine deutsche Amtsstubenatmosphäre, dachte Kaelber. Der Raum war groß, etwa zwanzig Tische. In die leicht stickige Luft mischte sich der Staub von Akten: zusammengeschnürte Papierbündel, Ordner, Karteikarten. Hier lagerte ein Teil der Hinterlassenschaft der DDR, oder zumindest das, was noch übriggeblieben war. Kaelber blätterte Akte über Akte durch, mitunter musste er Zeilen mehrfach lesen, da sie ihm in das Dunkel des Halbschlafs entglitten. Dann zuckte er zusammen wie jemand, der durch ein lautes Geräusch oder einen bösen Traum aufgeschreckt wurde, und zwang sich, wieder mit neuer Konzentration auf die bedruckten Seiten zu schauen, zu lesen, zu exzerpieren, wenn notwendig. Was er jetzt aber las, mit immer neuem Anlauf, das ließ ihn hellwach werden, er vermochte es kaum auszusprechen, eine Notiz war auch nicht notwendig. Klar und deutlich stand es in den Akten und ließ keinen Zweifel zu: Der über die DDR hinaus berühmte und anerkannte Historiker Rudolf Herzberg, Professor an der Universität Jena, Träger bedeutender Auszeichnungen, darunter der Johannes-Becher-Medaille für die Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur und des Vaterländischen Verdienstordens in Silber, Ehrendoktor der Universität Turin, hochgerühmter Lehrer und Doyen der Historiker des Mittelalters und der frühen Neuzeit in der DDR – dieser Rudolf Herzberg war Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen. Deckname: Calixt. 1938
„Das war einer deiner besseren Scherze“, sagt die Stimme zu Herzberg. „Wie bitte?“ „Einen katholischen Schutzheiligen als Decknamen für die die Stasi zu wählen. Das war einer deiner besseren Scherze“, wiederholt die Stimme. „Subversiv irgendwie.“ „Wer bist du?“ „Ich bin unter vielen Namen bekannt. Du kennst mich vielleicht unter dem Namen Esra.“ „Nein.“ „Oder Azrael“, ergänzt die Stimme. „Der Engel des Todes“, flüstert Herzberg. „Nicht so melodramatisch. Ich bin der, der die Menschen begleitet. Der ihnen den Weg weist.“ „Wohin?“ „Wohin auch immer sie gehen.“ „Wohin gehe ich?“ „Das wird sich zeigen, Calixt“, sagt die Stimme sanft. „Wo bin ich?“ „Auch das wird sich dir zeigen. Schau hin.“ Herzberg spürt, dass er in einem weichen, tiefen Sessel sitzt. Langsam funzelt ein Licht an. Er schaut sich um, kann niemand erkennen. Der Raum scheint groß zu sein, die Wände sind nicht zu sehen. Erstreckt sich der Raum ins Nichts, ins Nirgendwo? Er kann es nicht sagen. Vor ihm beginnt es heller zu werden. Eine Leinwand. War hier ein Vorhang aufgegangen wie im Kino? Bemerkt hatte er nichts davon. Auf der Leinwand erscheint eine Schrift. „Er lebt und er lebt nicht.“ Was das wohl bedeutet? Soll er fragen? „Rätselhaft“, murmelt er stattdessen nur. „Wie vieles in deinem Leben“, erwidert die Stimme. „Das habe ich nie so empfunden.“ „Menschen sind Meister darin, ihre jeweilige Gegenwart als das unvermeidliche und folgerichtige Ergebnis ihres bisherigen Lebens zu interpretieren. Aber das ist es nicht.“ „Bist du der Historiker oder ich?“ Herzberg ist sich nicht sicher, ob er zu weit gegangen ist. Aber was soll ihm passieren? Was kann passieren? Was will Esra von ihm? Er gesteht sich ein, er weiß es nicht, und das macht ihm Angst. „Fürchte dich nicht. Du erinnerst dich an diese Worte? Fürchte dich nicht. Du bist der Historiker. Aber ich kenne dich besser als du dich selbst. Ich bin dein Historiker. Ich bin nicht dein Richter. Fürchte dich nicht. Sieh hin.“ Mit einem Mal fluten Bilder, Geräusche, Gerüche den Saal: kein Kino im üblichen Sinn, sondern ein Eintauchen in das Leben selbst. Herzberg ist nicht mehr Beobachter. Er ist wissender Teil seiner selbst, der sich wiedererkennt. Es ist, als ob er als Gast in seinem eigenen Kopf säße. Und gleichzeitig sich selbst beobachtet. Eine eigentümliche Art der Dialektik, denkt er, Subjekt und Objekt zugleich. Vielleicht ist das der Sinn der rätselhaften Worte: Er lebt und er lebt nicht? 1938. Er ist dreizehn Jahre alt, läuft über die Wiese hinter dem großen Haus seiner Eltern. Er läuft und sieht sich laufen, eine Gleichzeitigkeit des Erlebens, die ihn zunächst verwirrt. Er denkt und hört sich denken, nein: Er hört seinem jungen Ich beim Denken zu. Er ist auf dem Weg zu Birrenbach, dem Pastor der Gemeinde. Dort wird er seine Freunde treffen. „Birrenbach“, sagt er halblaut vor sich hin. „Ich hatte ihn beinahe vergessen.“ „Er hat dich nie vergessen. Wie deine Freunde Morandus und Remigius.“ Herzberg erwidert nichts darauf, nickt nur. Er sieht nun, wie Birrenbach die Kirche betritt. Die Szenerie im Film hat sich geändert. Es ist der Firmunterricht, bei dem zwei Jahrgänge zusammengefasst worden sind. Er nimmt den besonderen Geruch der Kirche wahr, in deren Kühle der Weihrauch festsitzt. Die Firmlinge, alle zwischen zwölf und vierzehn Jahren alt, sitzen auf den harten Kirchenbänken. Der Blick schweift zu dem reich verzierten Barockaltar von St. Peter und Paul, zu den Wandbildern, zum steinernen, deutlich erhöhten Predigtstuhl mit seinen reichen Ornamenten. Birrenbach ist jung, vielleicht Mitte oder Ende dreißig. Damals erschien er ihm unendlich alt, unendlich klug. Seine eindringliche, leicht näselnde Stimme erzählt das biblische Gleichnis vom Kamel und dem Nadelöhr und erklärt es. Kommt es ihm wirklich etwas einfach vor? Nun ja, für uns Kinder war es das damals nicht. Fragen über Fragen, und kaum jemand konnte Antworten geben. Birrenbach schon. Er stand den Kindern Rede und Antwort, ging auf jedes von ihnen ein. So brachte er ihnen den Glauben nahe. Die Aufrichtigkeit seines Glaubens überzeugte, nicht die Intensität. Zu glauben schien natürlich zu sein, und vernünftig. Birrenbach machte sich einen Spaß daraus, die Kinder in seiner Jugendgruppe, zu der auch Herzberg gehörte, nicht bei ihrem Taufnamen zu nennen, sondern bei dem Namen des Heiligen, der an ihrem jeweiligen Geburtstag verehrt wird. Daher Calixt, Morandus, Remigius. Es befestigt den Glauben, sagte er, wenn ihr an die Heiligen denkt, die mit eurem Geburtstag verbunden sind. Und wirklich, es führte dazu, dass sich die drei Jungs intensiv mit den Heiligen auseinandersetzten. Ein Leben im Glauben. Später habe ich ihn verloren, den Glauben, geht es Herzberg durch den Kopf. Damals aber war es selbstverständlich am westlichen Rand des katholischen Eichsfeld. Eine Jugend mit Gott. Eine Jugend in Geborgenheit, trotz allem. Gott gehörte zu unserer Kindheit dazu. Der Glaube gehörte dazu, auch wenn die Nazis versucht haben, ihn zu verdrängen, auszumerzen. Für Birrenbach war er keine steife, altbackene Angelegenheit. Er war jung, frisch, ein fröhlicher Glaube. Birrenbach sagte: Die Apostel, das waren doch keine alten Herrschaften. Das waren junge Leute, so wie ihr. Ein wenig wie die Wandervögel. Die wollten etwas verändern, die wollten etwas Neues. Birrenbach verkörperte diesen Esprit ebenfalls. Er war sportlich, unkonventionell. Gleichzeitig zelebrierte er in aller Feierlichkeit die Messe. Ja, das ist das richtige Wort: zelebrieren. Er schien ein anderer, wenn er vor seiner Gemeinde stand und die lateinischen Worte sprach. Gloria in excelsis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis. Die Worte habe ich gewusst, noch bevor ich sie verstand. Die tridentinische Messe, wie schade, dass sie abgeschafft worden ist! Aber warum beschwere ich mich, ich war seit Ende des Krieges nicht mehr in einer Messe. „So lange?“, fragt die Stimme leise. „Spielt es eine Rolle?“ „Was glaubst du?“ „Glauben? Ich weiß es nicht.“ „Eine kluge Antwort.“ Aus der Ferne erklingt leise Musik: das Miserere von Gregorio Allegri. Auf dem Bildschirm eine Innenansicht der Kirche St. Peter und Paul in Lindau. Miserere mei, Deus, Erbarme Dich meiner, Gott. Eine Musik, die ein inneres Leuchten hervorbringt. Zerstöre meine Ungerechtigkeit, Reinige mich reichlich von meiner Ungerechtigkeit. Herzberg erinnert sich. Er hat das Miserere in dieser Kirche zum ersten Mal gehört. Ein Chor aus dem nahen...


Zimmer, Matthias
Matthias Zimmer ist gebürtiger Marburger und an der Mittelmosel aufgewachsen. Nach beruflichen Stationen in Bonn und dem kanadischen Edmonton lebt und arbeitet er seit mehr als zwanzig Jahren in Frankfurt am Main, unterrichtet an der Universität zu Köln und ist seit 2009 Mitglied im Deutschen Bundestag. Sein Romandebüt Morandus erschien 2021 in der Edition Faust.

Matthias Zimmer ist gebürtiger Marburger und an der Mittelmosel aufgewachsen. Nach beruflichen Stationen in Bonn und dem kanadischen Edmonton lebt und arbeitet er seit mehr als zwanzig Jahren in Frankfurt am Main, unterrichtet an der Universität zu Köln und ist seit 2009 Mitglied im Deutschen Bundestag. Sein Romandebüt Morandus erschien 2021 in der Edition Faust.


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