Demand / Knörer | MERKUR  6/2023 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR

Demand / Knörer MERKUR 6/2023

Nr. 889, Heft 6, Juni 2023

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR

ISBN: 978-3-608-12173-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der seit langem in der Schweiz lebende Schriftsteller Michail Schischkin lässt zwei Stimmen sehr unterschiedliche mögliche Zukünfte Russlands entwerfen. Eine Welt der Drohnen malt Moritz Rudolph sich aus. Mit dem geplanten Gesetz zum Schutz von Whistleblowern setzt sich Hans Peter Bull auseinander.
In seiner Europa-Kolumne versucht Martin Höpner sich einen Reim auf die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank zu machen. Um den Ding-Aspekt der Musik geht es in Tobias Janz' Musikkolumne. Andreas Eckert liest Caroline Fetschers kritische Albert-Schweitzer-Biografie. 
Markus Rieger-Ladich befasst sich mit den guten Gründen für, aber auch mit Übertreibungen der Identitätspolitik. Welche Einsatzmöglichkeiten für Sprachmodelle der Künstlichen Intelligenz es in der Psychiatrie geben könnte, erkundet Philipp Homan. Aleida Assmann versucht zu klären, was der Begriff "Narrativ" insbesondere für die Geschichtswissenschaft leisten kann und was nicht. Günter Hack erzählt, wie er Tinte aus der Schwarznuss selbst hergestellt hat. In David Gugerlis Schlusskolumne geht es um die überquellenden Bestände (nicht nur) der Technikmuseen.
Demand / Knörer MERKUR 6/2023 jetzt bestellen!

Fachgebiete


Weitere Infos & Material


ESSAY

 Michail Schischkin                       

Der russische Ouroboros

 

Moritz Rudolph                 

Das Leben der Drohnen

 

Hans Peter Bull                            

Rechtsdurchsetzungsunterstützungsverwaltung.

Das Gesetz zum Schutz von Whistleblowern

                       

 KRITIK

 Martin Höpner                   

Europa-Kolumne.

Die Europäische Zentralbank im Blindflug

 

Tobias Janz              

Musikkolumne.

„Musikdinge“

 

Andreas Eckert

Der beste deutsche Tropenwald, den es je gab.

Albert Schweitzer, Lambaréné und der Kolonialismus

 

MARGINALIEN

 Markus Rieger-Ladich                            

Privilegien: Beichten, verlernen oder bekämpfen?

 

Philipp Homan                     

Psychopathologie errechnen.

Digitalisierung von Sprache und die Zukunft der Psychiatrie

 

Aleida Assmann                             

Was ist ein Narrativ?

Zur anhaltenden Konjunktur eines unscharfen Begriffs

 

Günter Hack                                   

Spuren der Schwarznuss

 

David Gugerli                                

Beherbergen


Beiträge DOI 10.21706/mr-77-6-5 Michail Schischkin Der russische Uroboros
N: Du sagst, ein neuer Anfang in Russland sei unmöglich, denn dafür müsste es erst einmal an ein Ende gelangen. Doch etwas spricht dafür, dass eine andere Weltordnung als das Gefängnis auch in Russland möglich sein muss: nämlich weil dies der Lauf der Dinge ist, ein Naturgesetz, so wie jeder Fluss am Ende im Ozean landet. Die Menschheit entwickelt sich auf dem Wege der Humanisierung. Anfangs haben sie einem schwächlichen Neugeborenen den Schädel eingedrückt, den Alten nichts mehr zu essen gegeben, das war die Norm. Aber die wandelt sich. Erst musste der Schwache vor dem Stärkeren zurücktreten, heute muss der Starke dem Schwächeren den Vortritt lassen. Die Willkür des Diktators macht dem Rechtsstaat Platz. In einer Welt, in der deine Rechte von wirksamen Gesetzen geschützt werden, lebt es sich leichter und angenehmer als da, wo sie dich jeden Moment nackt machen und in den Knast stecken können. Die ganze Menschheit entwickelt sich dorthin, warum soll Russland da eine Ausnahme machen? ?: Der Große Streit unter den Russen, den Nikolai Gogol und Wissarion Belinski einst angezettelt haben, wurde am 24. Februar 2022 ad acta gelegt. Beide Seiten haben verloren. Weder konnte der Glaube an Gott die toten Seelen wiederbeleben, noch haben die Errungenschaften der europäischen Zivilisation, Bildung und Kultur, »Russland erretten« können. Es war ja in dem Streit gerade darum gegangen, wie die Norm zu verändern sei, damit die Totgeborenen zu Menschen, die Knechte zu freien Bürgern werden. Die gesellschaftliche Norm zeigt an, welches Mindestmaß an Niedertracht eine Gesellschaft zum Leben braucht. Niedertracht ist überall in der Welt. Aber in Russland zahlt einen höheren Preis, wer auf sie verzichten will. Gogol suchte mit seiner Nation, dem nicht auserwählten Volk, einen Bund zu schließen: »Man muss den Menschen daran erinnern, dass er kein materielles Stück Vieh ist, sondern Angehöriger einer hohen, himmlischen Nation. Solange er nicht halbwegs das Leben eines Himmelsbürgers führt, wird auch seine irdische Staatszugehörigkeit keine Fortschritte machen.«1 Die toten Seelen sollten in Christus lebendig werden, ganz wie Tschitschikow in Band 3, wenn er sich zuletzt in sibirischer Zwangsarbeit die russische Himmelsbürgerschaft verdient – »erlitten« – haben würde.2 Tschitschikow aber begehrte auf gegen seinen Urheber und legte Feuer an seine russische Blockhütte, nämlich an das Manuskript, in dem er wohnte. Belinski seinerseits hatte in seinem ewigen Oppositions-Blog geschrieben, Russland sehe seine Rettung »im Fortschreiten der Zivilisation, der Aufklärung und der Menschlichkeit. Es braucht keine Predigten (es hat ihrer genug gehört!), keine Gebete (es hat ihrer genug heruntergeleiert!), sondern das Wiedererwachen des Gefühls der Menschenwürde im Volk, das so viele Jahrhunderte hindurch in Schmutz und Unrat verlorengegangen war – es braucht Rechte und Gesetze, die nicht den Lehren der Kirche entsprechen, sondern dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit, und die möglichst streng gehandhabt werden. Stattdessen bietet Russland den abscheulichen Anblick eines Landes, wo es […] nicht nur keinerlei Garantien für die Unantastbarkeit der Person, der Ehre und des Eigentums gibt, sondern nicht einmal eine Polizeiordnung, nur riesige Korporationen von beamteten Dieben und Räubern!«3 Ein Superschwergewichtskampf, ausgetragen von der russischen Literatur: innere Neugeburt durch Christus vs. Umbau der Gesellschaft. Fjodor Dostojewski hat sich zeit seines Lebens sozusagen am dritten Band der Toten Seelen versucht. Ergebnis seines Mühens: viel heiße Luft und jede Menge Sprengstoff. Das Land ist nicht etwa Aljoscha Karamasow ins Kloster gefolgt, sondern den Dämonen in den revolutionären Terror. Als die Autoren des Almanachs Wechi [Wegzeichen]4 das weiße Handtuch in den Ring warfen, war ein blutiger Brei eingerührt, den wir bis heute auszulöffeln haben. Jedenfalls kam keine der beiden Ideen zum Tragen: Weder konnte Jesus Christus den Russen zur Himmelsbürgerschaft verhelfen, noch haben Volksbildung, Internet und offene Grenzen zu mehr Zivilisation, Aufklärung und Humanität geführt. Heute besteht die Anleihe, die die Russen bei der europäischen Zivilisation genommen haben, nur noch aus zwei Buchstaben: dem V und dem Z. N: Allgemeingültige Normen fallen ja nicht vom Himmel, sie werden von Menschen gemacht und geändert. Und dass die Mächtigen zu bestimmen haben, was wahr ist, haben nicht immer alle Russen so gesehen. Der Mensch ändert sich selber auch, er setzt sich seine Lebensregeln neu und bringt dadurch die Gesellschaft dazu, sich zu wandeln. Im August 1968 waren es eine Handvoll Leute, die sich auf den Roten Platz stellten und wussten, dass sie unterliegen würden, mit ihrem Opfer nichts erreichten, und doch hat diese Tat etwas in uns allen verändert.5 Oder denke daran, wie dich in einem späteren August, du warst ein junger Lehrer und gerade in den Ferien auf der Datscha, die Kunde vom Putsch ereilte. Wie du nach Moskau fuhrst zum Weißen Haus, dort waren Tausende und Abertausende auf den Barrikaden. Dort trafst du deine Schüler aus der 9b, deren Klassenlehrer du warst. Damals hast du noch gedacht, du wärst vielleicht doch kein ganz schlechter Lehrer, wenn du ihnen etwas mehr beigebracht hast als nur das Plusquamperfekt. Sie und du, ihr habt das Land vor euren Augen verändert. Und genauso ändert heute derjenige die Weltlage, der mit einem Schild »Nein zum Krieg« auf die Straße geht, um anschließend im Knast zu landen. »Die sieben Leute auf dem Roten Platz sind mindestens sieben Gründe, weshalb wir die Russen niemals werden hassen können«, schrieb seinerzeit eine Prager Zeitung. Jeder, der heute gegen den Krieg demonstriert, ist ein Grund mehr dafür. Es sind Einzelne, aber jemand muss immer den Anfang machen. ?: Weißt du noch, wie unsere Grundschullehrerin die Fabel von der Eiche und dem Schilfrohr vortrug? Für uns war’s ein Märchen, für sie gelebte Erfahrung. Die Welt ist fassungslos, dass eine Regierung ihre »Wählerschaft« zum Töten und Verrecken in die Ukraine treibt, und »das Volk bleibt stumm«.6 Wo sind die Millionen auf Russlands Straßen? Wo die Streiks? Sind die Russen tatsächlich eine »Nation von Sklaven«?7 Die Millionen in der übrigen Welt, die gegen diesen Krieg bereits demonstriert haben, können nicht nachvollziehen, dass das Verstummen eine Überlebensstrategie über Generationen hin war und ist. Aber du weißt, wie das geht. In den 1930er Jahren ist unser Großvater zum Kulakenfreund erklärt worden, weil er protestierte, als man seine Kuh für die Kolchose einkassierte. Andere schwiegen und überlebten, er wurde verhaftet und ging im Gulag vor die Hunde. Während Mama in ihrer Schule 1982 der Oberstufe einen Wyssozki-Abend auszurichten erlaubte, obwohl sie von allen Seiten gewarnt worden war, doch lieber »stumm zu bleiben« – man hat sie, die Direktorin, mit einem ordentlichen Skandal von der Schule geschmissen, sie hat das nicht verwunden, der Krebs nahm von ihr Besitz. Solche Geschichten hat es in jeder Familie gegeben. Ist einer nicht bereit, sich dreinzuschicken und stumm zu bleiben, wird die Macht ihn vernichten. So war es hier immer, von Anfang an, als Fürstin Olga »warägischer Zunge«8 den Genozid an den Derewljanen anzettelte und Alexander Newski im Namen seines Khans aufständischen Nowgorodianern die Augen ausstechen ließ, beides Heilige für die Russen, nebenbei gesagt. Und so ging das fort von einer Station zur nächsten, über Iwan den Schrecklichen zu Jossif Wissarionowitsch, den Vergeltungsaktionen in Tschetschenien und bis hin zum heutigen Genozid an den Ukrainern, die es gewagt haben, ein russisches Kriegsschiff zu verhöhnen. Russlands Geschichte zeigt, wie das Gesetz der natürlichen Auslese funktioniert: Der aktivste, aufgeklärte Teil der Bevölkerung wurde von Staats wegen eliminiert, sofern er nicht ins Exil ging. Bei der Gründung des Russischen Staates hatten Usurpatoren die Finger im Spiel, setzten sie gegen die Einheimischen durch. Die Waräger fingen damit an, die Horde machte so weiter. Herrscher und Volk sind einander fremd. Und der Fremde ist immer der Feind, den zu schonen sich verbietet. Dieses Selektionsexperiment ...


Demand, Christian
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).
Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.