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E-Book, Deutsch, Band 191, 127 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

Tadday Martin Smolka

E-Book, Deutsch, Band 191, 127 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

ISBN: 978-3-96707-387-4
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Martin Smolka (*1959) studierte Komposition an der Akademie der musischen Künste in Prag. Als Mitbegründer und Mitglied des "Agon Ensembles" drangen seine Kompositionen schon früh durch den Eisernen Vorhang gen Westen und wurden an vielen Orten Europas und Nordamerikas aufgeführt.
Ausgehend von zwei unterschiedlichen Ansätzen, dem Serialismus auf der einen und der Minimal Music auf der anderen Seite, gelangte Smolka zunächst zu einer Art konkreter Sonoristik, indem er mit Instrumentalklängen arbeitete, die an alltägliche Geräusche erinnern (etwa Schiffs- und Zugsirenen, Maschinengeräusche, Regengeräusche u. a.). Seit 1998 wandelte sich sein Stil von der Sonoristik zur Arbeit mit Tönen und Formen eher traditioneller Musik, die Smolka durch Mikrotöne und -intervalle verändert, überformt und collageartig arrangiert.
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Weitere Infos & Material


- Vorwort
- Rainer Nonnenmann: Natur und Nostalgie. Intonation, Tradition und Expression der Musik Martin Smolkas
- Tobias Eduard Schick: Martin Smolkas Neubelebung durmolltonaler Harmonik
- Steffen Schleiermacher: Interview mit einem Viertelton
- Thomas Meyer: Eine Ästhetik des Wunderlichen. Zur Chormusik von Martin Smolka
- Jörn Peter Hiekel: Martin Smolkas Kafka-Reflexion "Vor dem Gesetz"
- Stefan Drees: Die Bilder auf der Leinwand zum Sprechen bringen. Zu den Stummfilmmusiken Martin Smolkas
- Abstracts
- Bibliografische Hinweise
- Zeittafel
- Autoren


TOBIAS EDUARD SCHICK Martin Smolkas Neubelebung durmolltonaler Harmonik durch Neukontextualisierung und mikrotonale Verfremdung
Die Musik des tschechischen Komponisten Martin Smolka, die häufig poetische Stimmungsbilder entstehen lässt, klingt oftmals zugleich fremd und vertraut. Sie beinhaltet altbekannte Klänge, Dur- und noch häufiger Mollakkorde (oft c-Moll und a-Moll), ohne sie aber je auf traditionelle Weise in funktionale oder kadenzharmonische Zusammenhänge einzubinden. Viel eher werden sie auf melancholische Weise beschworen und durch Verfremdung und Neukontextualisierung in ein eigentümliches Licht getaucht. Von zentraler Bedeutung für diese Strategien ist der präzise Einsatz von Mikrotonalität. Anders als manche Protagonisten einer spektralen Ästhetik verfolgt Smolka damit nicht das Programm, die Harmonik seiner Musik in Übereinstimmung zu den natürlichen akustischen Gegebenheiten – so insbesondere dem Aufbau und den Intervallverhältnissen in der Obertonreihe – zu bringen, um dadurch physikalische Gesetzmäßigkeiten für die Begründung ästhetischer Zusammenhänge nutzbar zu machen, was nie ganz den Verdacht einer essenzialistischen Subreption entkräften konnte. Viel eher ist für ihn der Begriff der »Ver-Stimmung, des Unreinen konstitutiv«.1 Anstelle von theoretischen Systemen faszinieren Smolka vielmehr »unabsichtliche oder auch unreflektierte Verzerrungen mikrointervallischer Art … (wie) verstimmte Klaviere und ihre wunderschönen Schwebungen, … Blues, Jazz, Aufnahmen authentischer Volksmusik«, in deren »natürlichen Gebrauch von Mikrotönen (er) ein ungewöhnliches Ausdruckspotential« entdeckt.2 Auch in seiner eigenen Musik entsteht durch mikrotonale Verfremdungen ein reizvolles Oszillieren zwischen verschiedenen Stimmungen, das dazu dient, zugleich Nähe und Distanz zur durmolltonalen Harmonik der europäischen Musiktradition aufzubauen. Seine Musik weist sehr unterschiedlich deutliche Anklänge an konsonante Harmonien auf, die oft geheimnisvoll hinter mikroharmonischen Klangballungen hervorscheinen, bisweilen aber auch ausnehmend direkt beschworen werden. Smolka beschreibt sein Verhältnis zur musikalischen Tradition in einem aufschlussreichen Werkkommentar zu dem im Jahr 2012 im Rahmen der Donaueschinger Musiktage uraufgeführten Orchesterwerk My My Country, der eine pointierte Skizze seines ästhetischen Programms enthält: »Ich sehe es als einen wesentlichen Teil meiner Arbeit an, den verbrauchten musikalischen Elementen wie Melodie oder konsonanten Harmonien und Intervallen neue Energie zu verleihen – sie zu modulieren, umzubiegen und in einen unerwarteten Zusammenhang zu setzen. Nach dem 20. Jahrhundert mit all seinen faszinierenden Innovationen glaube ich daran, dass es an der Zeit ist, die über Bord geworfenen Schönheiten wieder zu beleben, sie von der Tünche und den Lügen der Pop-Kultur zu reinigen und sie aus dem ausschließlichen Gebiet des Kitsches zu befreien.«3 Der vorliegende Text möchte am Beispiel verschiedener Werke zeigen, mit welchen Mitteln Smolka die Erneuerung tradierter Klänge betreibt, seine diesbezüglichen Strategien analysieren und kritisch diskutieren. I My My Country für Orchester (2012)
Das Orchesterwerk My My Country (2012),4 das dem Andenken Smolkas im Jahr 2011 verstorbenen Vaters Jaroslav Smolka gewidmet ist, den der Komponist als einen »Musikwissenschaftler und -historiker, Komponisten, Kritiker und (eine) für lange Jahre einflussreiche Persönlichkeit des tschechischen Musiklebens« würdigt, besteht aus drei annähernd gleich langen und attacca gespielten Sätzen5 mit einem jeweils charakteristischen strukturellen und expressiven Profil. Wie in etlichen anderen Werken entsteht dieses durch die teils wörtliche, teils variierte Wiederholung einiger weniger prägnanter und charakteristischer Elemente, die oft blockhafte Strukturen und klare Formen entstehen lassen. Der 1., mit »maestoso, vivo« überschriebene Satz wird von variiert wiederholten melodischen Gesten eröffnet, die aus weit gespannten, triolisch rhythmisierten Dreiklangsbrechungen bestehen. Zu diesen treten im Verlauf eines Verdichtungsprozesses ab T. 48 begleitende Akkorde, die zum Schluss allein übrigbleiben. Der leise ausklingende Satz beschreibt damit eine Bogenform.   Notenbeispiel 1: Martin Smolka, My My Country für Orchester, Beginn, © 2012 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden Der 1. Satz zeigt paradigmatisch einen Großteil der Strategien, die Smolka dazu dienen, konsonanten, durmolltonalen Harmonien durch Verfremdung und Neukontextualisierung ein neues Ausdruckspotenzial zu verleihen. Von zentraler Bedeutung hierfür sind mikrotonale Abweichungen, die zwar die konsonanten Konturen erhalten, deren Eindeutigkeit jedoch ins Feld von schwebender Unschärfe transformieren. Der Beginn des Stückes basiert auf der a-Moll-Tonleiter. Die daraus gebildeten melodischen Phrasen werden jedoch mikroharmonisch verfremdet und aufgefächert. Bereits die eröffnende melodische Geste, ein von einer kleinen Terz gefolgter Oktavsprung, umgrenzt den harmonischen Rahmen des bestimmenden a-Moll-Dreiklangs. Doch ist das avisierte c''' wie die meisten melodischen Zieltöne des Satzes einen Viertelton zu tief. Das Intervall der zu tiefen Kleinterz beträgt dadurch rechnerisch nur 250 Cent. Eine temperierte Kleinterz hat hingegen einen Intervallabstand von 300, eine natürliche Kleinterz sogar einen Intervallabstand von 316 Cent. Smolka weicht also noch mehr von der natürlichen Kleinterz ab als die temperierte Stimmung, was belegt, dass seine Intention nicht im Aufbau einer Harmonik nach spektralen Gesichtspunkten, sondern in der Verfremdung der durmolltonalen Klanglichkeit liegt. Eine weitere Strategie besteht in der mikroharmonischen Streuung von Zieltönen, durch die engräumige Cluster entstehen. In T. 7 zielen die bislang unisono spielenden Streicher erstmals auf einen Tonhöhenbereich, der zwischen dis'' und einem sechsteltönig erniedrigten f'' acht verschiedene Tonhöhen enthält. Durch die mikrotonale Differenzierung werden die vormals stabilen Tonhöhen zu einem unscharfen, stufenlosen Tonhöhenbereich. Die diatonische Melodik bleibt erkennbar, beginnt jedoch eigentümlich zu schweben. Die melodischen Gesten des Anfangs vereinen – angesichts des vollen Fortissimo-Klangs und der weiträumigen Sprünge – eine emphatische Expressivität mit einer nüchternen Distanz, die durch die Art ihrer Entfaltung bedingt ist. Denn die aufstrebenden Gesten brechen ständig ab und setzen meist sofort neu an, ohne dieser Tatsache eine allzu große Bedeutung beizumessen. Sie werden variiert, ohne sich doch im eigentlichen Sinne weiterzuentwickeln. Die melodischen Linien bringen dadurch nicht im Stile Schönbergs durch Individualisierung die Innerlichkeit eines kompositorischen Subjekts zum Ausdruck, sondern ihr statischer Charakter rückt sie ästhetisch viel eher in die Nähe der amerikanischen Minimal Music. Mit dieser teilt sie zwar nicht deren kontinuierliche, häufig mechanische Prozesshaftigkeit, wohl aber die Arbeit mit tradierten Sprachmustern bei gleichzeitiger Distanz zu deren expressiven Gehalt. Jörn Peter Hiekel verweist angesichts »der Vorliebe des Komponisten für Einfachheit … (für) undramatische, nicht zielgerichtete Werkkonzepte« auch auf Smolkas Bewunderung für die Musik Morton Feldmans.6 Die in T. 48 vehement einsetzenden, meist mikrotonal glissandierenden Akkorde zeigen weitere Methoden, mit denen Smolka durmolltonale Klänge zugleich andeutet und maskiert. Die Passage erlangt eine enorme harmonische Vielschichtigkeit, indem gleichzeitig Strukturen auftreten, die sowohl in sich als auch untereinander widersprüchlich sind. Fast alle Akkorde weisen klanglich hervortretende konsonante Intervalle auf, die durch mikroharmonische Streuungen und zusätzliche Töne verfremdet werden. Den Klang der tiefen Streicher und der Harfen prägt die oben liegende Quinte d – a, die durch den Zusatzton cis und die mikroharmonischen Verfremdungen verschleiert wird.7 Die Hörner hingegen spielen zwei miteinander verschränkte Terzen. Auch das Rahmenintervall der Saxofone beträgt eine Quinte (b' – f''), die durch zusätzliche Akkordtöne (c'', es'') bereichert wird. Im Fall der Flöten 3–6 verfährt Smolka mit dem Rahmenintervall der kleinen Terz g'' – b'' analog. Obwohl ein engräumiger, fast clusterartiger Akkord entsteht, wird »die Andeutung einer konsonanten Qualität durch die Stimmung der Kanten gewährleistet, zum Beispiel das Intervall der kleinen Terz, das wie eine auratische Kontur hervortritt«. Anstatt Tonalität konsequent bestimmt zu negieren, schafft Smolka einen Raum für tonale Andeutungen. Aufgrund der blockhaften Instrumentation verschwimmen die bereits in sich schwebenden Akkorde nur partiell zu einem Gesamtklang. Ihre Überlagerung potenziert vielmehr die harmonische Vieldeutigkeit durch das Oszillieren zwischen verschiedenartigen tonalen Allusionen. Die oftmals zu tiefe Intonation, das mikroharmonische Absinken und die unvollständigen Anklänge an a-Moll und d-Moll, die selten zum vollständigen Dreiklang ergänzt werden, führen zur sanften Verschleierung des Gemeinten, die eine eigentümliche Melancholie entstehen lässt, welche in manchem an die Romane von Smolkas berühmtem...


Tadday, Ulrich
Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der "Musik-Konzepte".

Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der "Musik-Konzepte".


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