Tadday | Musik der DDR? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band Sonderband, 161 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

Tadday Musik der DDR?

Komponieren im real existierenden Sozialismus

E-Book, Deutsch, Band Sonderband, 161 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

ISBN: 978-3-96707-680-6
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Dass Musik immer Teil der Gesellschaft ist, in der sie entsteht, ist eine musiksoziologische Trivialität. So leicht die gesellschaftliche Bedingtheit von Musik einzusehen ist, so schwierig ist es allerdings, das Verhältnis von Musik und Gesellschaft genauer zu bestimmen, vor allem dann, wenn eine Gesellschaft wie im Falle der DDR unter den totalitären Bedingungen einer Diktatur in relativer Unfreiheit zu existieren genötigt ist.
Dass sich im wirklichen Leben "richtig" und "falsch" in den allermeisten Fällen nicht wie schwarz und weiß gegenüberstehen, darf als eine nicht zu bestreitende Erfahrungstatsache gelten, die auch die Musikgeschichtsschreibung vor nicht unerhebliche Probleme stellt. Abgesehen von der zeitlich zunehmenden Unschärfe des Erinnerns, die mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall dafür sorgt, die historische Komplexität immer weiter zu reduzieren, um dadurch die Mythenbildung zu befördern, gilt es, die musikalischen Werke in ihrer jeweiligen Individualität möglichst vorurteilsfrei anzunehmen und in ihrem ästhetischen Eigensinn zu analysieren, um sie in ihrem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft kritisch zu befragen.

Mit Beiträgen von Stefan Drees, Ute Henseler, Ellen Hünigen, Mathias Lehmann, Burkhard Meischein, Harriet Oelers, Jens Schubbe, Sebastian Stier, Katrin Stöck und Wolfgang Thiel.
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Weitere Infos & Material


- Vorwort
- Jens Schubbe: Unerhört. Anmerkungen zu drei sinfonischen Werken von Christfried Schmidt, Friedrich Schenker und Friedrich Goldmann
- Ellen Hünigen: Gebannte und befreite Eruption. Die "Markuspassion" von Christfried Schmidt
- Burkhard Meischein: Gegen den "blauen Dunst der Idealisierungen". Ensemblelieder und Melodramen in der Nachfolge des "Pierrot lunaire"
- Katrin Stöck: Szenische Kammermusik in den letzten 20 Jahren der DDR. Kontexte – Antriebe – Beispiele
- Sebastian Stier: Das "geschwiegene Wort". Paul-Heinz Dittrichs kompositorischer Umgang mit Sprache und Text
- Stefan Drees: "… in der Kinderoper ist versteckt, was anders nicht rüberzubringen gewesen wäre". Georg Katzers "Das Land Bum-Bum"
- Wolfgang Thiel: Nebenschauplatz Filmmusik. Georg Katzers Kompositionen für Film und Fernsehen
- Matthias Lehmann: "Harmonie ist das Ausschreiten der Grenzen". Zur politisch-gesellschaftlichen Haltung von Hermann Keller und seiner Musik
- Ute Henseler: Wenn "'Augenblicke' zu 'Hörblicken' werden". Zur Musik von Annette Schlünz
- Harriet Oelers: Klein-Darmstadt im Vogtland? Die Geraer Ferienkurse für zeitgenössische Musik und ihre Bedeutung für die Entwicklung elektroakustischer Musik in der DDR
- Abstracts
- Bibliografische Hinweise
- Autorinnen und Autoren


JENS SCHUBBE Unerhört*
Anmerkungen zu drei sinfonischen Werken von Christfried Schmidt, Friedrich Schenker und Friedrich Goldmann Die drei hier in Rede stehenden Werke entstanden in relativer zeitlicher Nähe zwischen 1968 und 1975. Es sind unerhörte Werke in des Wortes doppelter Bedeutung: Zwei von ihnen – Christfried Schmidts 2. Sinfonie und Friedrich Goldmanns »De profundis« – blieben insofern lange Zeit unerhört, als sie erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung zur Aufführung kamen. Als unerhört im Sinne einer Provokation wurde Friedrich Schenkers Sinfonie »In memoriam Martin Luther King« bei ihrer Uraufführung in Dresden im Januar 1972 wahrgenommen. Alle drei Kompositionen repräsentieren bemerkenswerte künstlerische Positionen ihrer Schöpfer in der damaligen Zeit, die eine Phase des Aufbruchs und des Erkämpfens von Freiräumen im Bereich der zeitgenössischen Musik der DDR war, und spiegeln auf je eigene Weise, wie Wirklichkeit in Klängen reflektiert wurde. Zwei Sinfonien »In memoriam Martin Luther King«
Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King in Memphis (Tennessee) erschossen. Dieses Attentat, das einem der charismatischsten Anführer der Bürgerrechtsbewegung in den USA und einem Propagator des gewaltfreien Widerstands galt, löste weltweit Empörung und Erschütterung aus – auch in der DDR. Hier erinnerten sich die Menschen noch gut daran, dass Martin Luther King 1964 spontan Ost-Berlin besucht und in zwei Predigten in der Marien- und Sophienkirche vor tausenden Menschen die Vision einer die Grenzen der gesellschaftlichen Systeme, der Rassen, Religionen und Ideologien übergreifenden Humanität entworfen hatte. Sein gewaltsamer Tod wurde auch in der Musik reflektiert, und so entstanden in der DDR kurz nacheinander zwei Sinfonien »In memoriam Martin Luther King«, ohne dass ihre Schöpfer von der Arbeit des jeweils anderen gewusst hätten. Noch 1968, also unmittelbar unter dem Eindruck des Mords, komponierte Christfried Schmidt, damals in Quedlinburg lebend und sich als Chorleiter und Klavierlehrer durchschlagend, seine 2. Sinfonie und widmete sie dem amerikanischen Bürgerrechtler. Die Musikwelt bekam davon freilich nichts mit. Nur wenige dürften damals überhaupt gewusst haben, dass Schmidt komponierte, und das in avancierter Weise. 1968 war noch keine seiner Kompositionen in einem öffentlichen Konzert uraufgeführt worden. Erst 1970 gab es eine erste offizielle Premiere: Die Petite suite pour flûte et piano erklang – in Tokio. Die erste Premiere eines seiner Werke in der DDR fand erst 1974 statt, als die Bläservereinigung Berlin sein 1971 komponiertes Bläserquintett aus der Taufe hob. Für den zehn Jahre jüngeren Friedrich Schenker war die Situation etwas einfacher. Er hatte – anders als Schmidt, der als Komponist weitgehend Autodidakt war – von 1961 bis 1964 Komposition und Posaune studiert. Sein Lehrer im Fach Komposition, Günter Kochan, genoss einiges Ansehen. Und Fritz Geißler, bei dem er anschließend weitere Unterweisungen erhielt, gehörte in den 1960er Jahren noch zu den nach einer Erweiterung der musiksprachlichen Mittel suchenden Komponisten der DDR (etwa in der 2. und 3. Sinfonie), bevor er dann in den 1970er Jahren die Wende hin zu einer neoromantischen Schreibweise vollzog. Schenker war seit 1964 Solo-Posaunist des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig – also in jenen Jahren, in denen Herbert Kegel dieses Orchester zu einem erstklassigen und der Musik des 20. Jahrhunderts großen Raum einräumenden Klangkörper entwickelte. 1970 gehörte Schenker zu den Mitbegründern der Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler«, die sich trotz mancher Anfeindungen durch Vertreter des offiziellen Musiklebens bald als führendes Ensemble für zeitgenössische Musik in der DDR etablierte. Er war also in jenen Jahren, in denen Christfried Schmidt sich in der Abgeschiedenheit der Provinz mühte, schon gut im Musikleben der DDR vernetzt und fand auch als Komponist Anerkennung. Sein Fagottkonzert war 1971 in Dresden erfolgreich uraufgeführt worden, und das könnte die Dresdner Philharmonie und ihren damaligen Chefdirigenten, Kurt Masur, ermutigt haben, die Sinfonie des jungen Komponisten zur Uraufführung anzunehmen. Nach Aussage von Matthias Tischer ist heute nicht mehr nachweisbar, ob damals ein Kompositionsauftrag an Schenker erteilt worden war oder der Komponist das fertige Werk dem Orchester zur Uraufführung angeboten hat.1 Der frühe Entstehungszeitraum der Sinfonie – 1969/70 – spricht eher für die letzte Version. Eine Anmerkung von Friedbert Streller in einem kurz nach der Uraufführung erschienenen Artikel könnte hingegen darauf verweisen, dass es sich doch um ein Auftragswerk handelte. Die Uraufführung der Sinfonie »In memoriam Martin Luther King« am 14. Januar 1972 geriet zu einem veritablen Skandal, der aber ebenso ein Fanal wurde für den Aufbruch, den eine Reihe von jungen Komponisten damals vollzogen. Für die Schubladen
Christfried Schmidts Sinfonie hingegen verblieb in der Schublade. Keinesfalls war das Werk etwa verboten worden. Solcher Maßnahmen bedurfte es nicht. Schmidt, der völlig unbekannte Komponist, hatte schlicht keine Chance, bei denjenigen Institutionen und Personen, die eine Aufführung hätten ermöglichen können, durchzudringen. Es verging mehr als ein halbes Jahrhundert, bis das Werk – ebenfalls von der Dresdner Philharmonie (geleitet von Jonathan Stockhammer und mit Salome Papulkas und Robert Koller als Solisten) – am 3. Oktober 2021 im Dresdner Kulturpalast, dem Ort des Schenker’schen Skandals von einst, in Anwesenheit des 88-jährigen Komponisten uraufgeführt wurde. Das Phänomen der verspäteten Uraufführung betrifft auch »De profundis« von Friedrich Goldmann. Er gehörte ebenso wie Friedrich Schenker, Georg Katzer, Paul-Heinz Dittrich und Reiner Bredemeyer zu den »jungen Wilden« unter den Komponisten in der DDR, erfuhr seit den ausgehenden 1960er Jahren zunehmend Beachtung und sorgte damals mit Werken wie der 1. Sinfonie, den Essays für Orchester oder der Kammeroper R. Hot bzw. Die Hitze für Aufsehen und Aufregung. 1975 wurde Goldmann als Reservist zur Armee eingezogen. Die Wehrpflicht war in der DDR immer auch ein Instrument, um Unangepasste zu brechen und »auf Linie« zu bringen, die Armee ein Hort des Stumpfsinns und des ungebrochen fortgeschriebenen Militarismus deutscher Prägung. Kein Wunder, dass ein junger Künstler wie Friedrich Goldmann diese Zeit als Leidenszeit erfuhr. Er antwortete der Repression komponierend, wie wir einer Postkarte an einen Freund entnehmen: »Wenn’s irgend möglich ist, versuche ich so’n bißchen was zusammenzukomponieren, um nicht in den allgemeinen Verblödungswahnsinn hineinzugeraten. Bis jetzt ging das noch einigermaßen (jedenfalls etwas besser, als ichs vorher gedacht hätte). (…) Ansonsten sitze ich an einem ›schwarzen‹ (wasn sonst hier?!?) Orchesterstück (d. h.: eigentlich bleibt es doch nicht ›schwarz‹, wieso soll ich mir denn diesen Blödsinn allzusehr anmerken lassen?). Bis Oktober (hoffentlich, ja wahrscheinlich früher) wirds auf alle Fälle fertig. Jetzt sind es schon ca. 10 Minuten – und gar so länger solls nicht werden. (…) Ich hab vor, auch noch einiges anderes anzugehen, damit ich die 6 Monate nicht total sinnlos vergammle.«2 Zur Aufführung kam es damals nicht, allerdings führte Goldmann »De profundis« noch einige Zeit in seinem Werkverzeichnis. Auch im 1979 erschienenen Reclam-Band Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR von Frank Schneider findet »De profundis« Erwähnung.3 Nach Auskunft von Friedrich Goldmanns Sohn Stefan Goldmann war es nicht so, dass das Stück einem etwa kulturpolitisch begründeten Verdikt zum Opfer fiel. Vielmehr war Goldmann alsbald auf seine jüngeren Kompositionen, etwa die 2. Sinfonie (1976) und das Violinkonzert (1977), fokussiert und repräsentierte »De profundis« für ihn schon bald nicht mehr den aktuellen Stand seines Komponierens, sodass eine Uraufführung zu betreiben, für ihn keine höchste Priorität hatte. Dafür spricht auch, dass Goldmann nach 1989, als etwaige Restriktionen wegfielen, nicht versucht hat, das Stück aufführen zu lassen, sondern es – im Gegenteil – unter Verschluss hielt. Vielleicht hat diese Zurückhaltung aber auch mit dem unabweisbar autobiografischen Hintergrund der Komposition zu tun. Eigenes Erleben so unmittelbar in Klängen zu spiegeln, ist für Goldmann eher untypisch und macht »De profundis« zu einem Solitär in seinem Œuvre. So wurde »De profundis« erst posthum erstmals gespielt: am 10. Januar 2014 in Salzburg im Rahmen eines Kooperationsprojektes von Collegium Novum Zürich, œnm – œsterreichisches ensemble fuer neue musik und Ensemble contrechamps Genf unter Leitung von Johannes Kalitzke. In memoriam Martin Luther King I
Christfried Schmidt fordert für seine 2. Sinfonie eine Orchesterbesetzung, welche die dunklen Farben, die mittleren und tiefen Lagen, also die körperlichen, voluminösen Klänge, betont. Flöten sind nicht besetzt, die Oboenfamilie ist nur durch ein Englischhorn repräsentiert: Stattdessen gesellen sich zum Klarinettenpaar noch je zwei Bassklarinetten, Alt-Saxofone und Fagotte. Trompeten, Hörner und Posaunen sind je vierfach vertreten. Hinzu kommt ein Quartett aus...


Tadday, Ulrich
Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der "Musik-Konzepte".

Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der "Musik-Konzepte".


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